Kratzer am Lack der „Rosinenbomber“

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– Faktencheck zur Berliner Luftbrücke (Teil 1)

 von: Tilo Gräser in Sputnik 21.07.2018

Die „Rosinenbomber“ haben seit Ende Juni 1948 zehn Monate lang angeblich die West-Berliner vor dem Verhungern gerettet. Das sagt die Legende. Auch: Moskau hat West-Berlin aushungern und übernehmen wollen. Die Legende wird weitererzählt, auch von Politikern wie Bundesaußenminister Heiko Maas.

Sie erschienen im Sommer 1948 am Himmel über Westberlin, warfen Süßigkeiten an Fallschirmen ab, brachten Kohle, Lebensmittel und retteten die Westberliner vorm Verhungern. So sagt es die Legende über die „Rosinenbomber“ – bis heute, 70 Jahre später. Sie verhinderten, dass die Sowjets den Westteil der einstigen Reichshauptstadt kampflos wieder übernehmen konnten. Nichts anderes hatten die vor, sagt die Legende ebenfalls.

Die erzählt auch der heutige Bundesaußenminister Heiko Maas weiter. Er erklärte am 26. Juni zum Thema: „Heute vor 70 Jahren – als Deutschland in Schutt und Asche lag – wurde der Grundstein für die deutsch-amerikanische Freundschaft gelegt. Auf die Totalblockade West-Berlins reagierten die westlichen Alliierten mit der Berliner Luftbrücke. Sie war nicht nur eine logistische Meisterleistung, sondern vor allem das Zeugnis überwältigender Menschlichkeit. Aus Feinden wurden Freunde, aus Besatzern Beschützer. Dies verpflichtet uns zum Dank – auch heute noch.“

Auslöser für die damaligen Ereignisse war, dass die Sowjetunion in der Nacht zum 24. Juni 1948 die Transportwege zu Land und zu Wasser in die Berliner Westzonen blockierte. Zugleich hatte sie deren Strom- und Lebensmittelversorgung aus der eigenen Besatzungszone unterbrochen. Die Blockade der Berliner Westsektoren dauerte bis zum 12. Mai 1949 an.

Ein Blick in die umfangreiche deutschsprachige Historikerliteratur zum Thema zeigt, dass die heutigen Legenden um die „Luftbrücke“ und die Erklärung von Außenminister Maas die damalige Wirklichkeit verfälschen. Sputnik hat nachgelesen und einige Kratzer am Lack der „Rosinenbomber“ entdeckt:

1. Gab es eine „Totalblockade West-Berlins“, wie Bundesaußenminister Maas behauptet?

  • „Westberlin war zwischen dem 26. Juni 1948 und dem 12. Mai 1949 von den sowjetischen Besatzungstruppen längst nicht so hermetisch abgeriegelt worden, wie dies zunächst scheinen mag“, so Arne Hoffrichter im „Deutschland Archiv 2013“. Das sei „mittlerweile Konsens in der Forschung.“ „Für die Einwohner der drei Westsektoren bedeutete dies, dass lokaler Handel und Personenverkehr zwischen Westberlin und dem sowjetischen Einflussbereich, das heißt Ostberlin und dem brandenburgischen Umland, weitestgehend möglich waren.“
  • Es gebe keine Belege für Moskauer Planungen für eine totale Blockade. Das schreibt der russische Historiker Aleksej M. Filitov in dem von Helmut Trotnow und Bernd von Kostka herausgegebenen Band „Die Berliner Luftbrücke – Ereignis und Erinnerung“ (2010). In den Dokumenten aus der Zeit gebe es keinerlei Hinweise auf einen solchen Plan.
  • „Die Blockade war nicht als vollständige Abschnürung geplant oder auf das Aushungern West-Berlins angelegt und wies entsprechende Lücken auf.“ Darauf weist Gerhard Stälter in seinem Beitrag im Sammelband „Die Berliner Luftbrücke – Erinnerungsort des Kalten Krieges“ (2018) hin. „Die Grenzen zum Umland waren ohne erheblichen Personalaufwand ohnehin nicht vollständig zu kontrollieren.“. Das hätten Zeitzeugen bestätigt.
  • Es habe nie eine Totalblockade gegeben, schreibt der Rechtswissenschaftler und ehemalige SED-Funktionär Herbert Graf in seinem Buch „Interessen und Intrigen: Wer spaltete Deutschland?“ (2011). „Auch in dieser angespannten Situation war der Zugang der Westberliner und der Westalliierten nach und über Ostberlin zu jeder Zeit weiter möglich. Unbeeinflusst blieben weiter die Luftkorridore, die eine massive Luftbrücke ermöglichten.“ Zudem werde bis heute ausgelassen, dass die „Luftbrücke“ „an der Grenze der Legalität“ geflogen wurde, so der Autor. Die benutzten Luftkorridore über der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) seien 1948 nicht durch internationale Abkommen der Alliierten gesichert gewesen.
  • Im Buch „Die Teilung der Welt – Geschichte des Kalten Krieges 1941 – 1955“ des Historikers Wilfried Loth aus dem Jahr 2000 ist zu lesen: Ängste vor einer Luftblockade Westberlins seien unbegründet gewesen, „weil Stalin nicht bereit war, wegen der Weststaatsgründung, so sehr sie den sowjetischen Interessen zuwiderlief, einen Krieg zu riskieren, der mit der Vernichtung der Sowjetunion enden mußte; aber der Mythos von der sowjetischen Stärke ließ die meisten westlichen Politiker übersehen, wie gewagt, wie hart an der Grenze des tatsächlich Leistbaren das sowjetische Manöver in Wirklichkeit war“.

2. War die Luftbrücke „nicht nur eine logistische Meisterleistung, sondern vor allem das Zeugnis überwältigender Menschlichkeit“ – oder etwas anderes?

  • Der renommierte Historiker Wolfgang Benz widmet den Ereignissen vor 70 Jahren ein Kapitel in seinem neuen Buch „Wie es zu Deutschlands Teilung kam – Vom Zusammenbruch zur Gründung der beiden deutschen Staaten“. Die Luftbrücke sei ökonomisch „ein Verlustgeschäft von seltenem Ausmaß“ gewesen. Aber die Verluste trugen nicht die westlichen Alliierten: „Die Hauptlast der Unterstützung Berlins trug der Steuerzahler in der amerikanischen und britischen Zone.“ Dem habe seit November 1948 die Sondersteuer „Notopfer Berlin“ gedient.
  • Der Ex-DDR-Diplomat Ralph Hartmann hat vor zehn Jahren in der Zeitschrift „Ossietzky“ darauf aufmerksam gemacht, dass die Luftbrücke laut der Londoner „Times“ vom Februar 1949 „ein großes strategisches Übungsfeld“ war, das „alle früheren Erfahrungen mit der Luftversorgung im Krieg… völlig über den Haufen geworfen hat“. Der Ex-Wehrmachtsgeneral und Kriegsverbrecher Hans Speidel habe als „Sicherheitsberater“ von Bundeskanzler Konrad Adenauer „die praktischen Erfahrungen bei der Luftbrücke Berlin“ für eine künftige Luftkriegsführung gewürdigt.
  • In seinem Buch „Im Visier die DDR – Eine Chronik“ (2003) schreibt der Journalist Robert Allertz: „Bei dieser zweifellos beachtlichen logistischen Leistung proben die US-Streitkräfte die Flugleit- und Radarsysteme, die erst 1945 entwickelt worden waren.“ Die Erkenntnisse seien unter anderem im Korea-Krieg (1950-1953) genutzt worden. Allertz hebt hervor, dass die Luftbrücke „für die von einer Krise bedrohte amerikanische und englische Flugzeugindustrie zum lohnenden Geschäft“ wurde, „das monatlich 50 Millionen einbringt“. So habe die „New York Times“ am 24. Februar 1949 frohlockt: „Der Kalte Krieg ist ein Segen für unsere Flugzeugindustrie. Zum ersten Mal nach dem Krieg hatte sie 1948 ein Verkaufsvolumen von rund einer Milliarde Dollar gegenüber nur 48 Millionen Dollar 1947.“

3. War die Luftbrücke „der Grundstein für die deutsch-amerikanische Freundschaft“?

  • Die „erinnerungskulturelle Aufladung der Luftbrücke als Katalysator in den deutsch-amerikanischen Beziehungen“ verhindert laut Hoffrichter den Blick darauf, „dass es nicht die US-Amerikaner alleine waren, die die Versorgung der Halbstadt aus der Luft bewältigten. Auch Großbritannien hatte hierbei einen gewichtigen Anteil, der sich nicht nur auf die praktische Hilfe durch die Royal Airforce beschränkte, sondern darüber hinaus wohl auch Einflüsse in der Planungs- und Anlaufphase umfasste.“
  • US-General Clay war über das Ende der Blockade im Mai 1949 nicht glücklich gewesen, ist im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom 19. Mai 1949 zu lesen: „‘Der Militärgouverneur, ein starrköpfiger, streitsüchtiger Militär und Staatsmann aus Georgia‘, schrieb ‚Herald Tribune‘, ‚soll schwere Befürchtungen geäußert haben über das sowjetische Angebot, die Blockade aufzuheben. Wenn nicht feste wirtschaftliche und politische Bande es an einen westlichen Europa-Bund knüpften, könne, so meinte General Clay, ein besiegtes, aber geeinigtes Deutschland zu einem Pufferstaat in einem kalten Krieg und dem russischen Druck viel zugänglicher werden als jetzt ein geteiltes Deutschland.‘“
  • Der österreichische Historiker Rolf Steininger zitiert in Band 2 seiner 1996 neuaufgelegten „Deutschen Geschichte seit 1945“ aus einem Memorandum des damaligen Londoner Unterstaatsekretärs Ivone Kirkpatrick vom November 1948. Der spätere britische Hohe Kommissar in der BRD meinte darin, es gehe um die „zukünftige Sicherheit vor Deutschland“. Der Rapallo-Komplex habe nachgewirkt, so Steininger: „Deutschland allein war keine Gefahr mehr; nur wenn es gemeinsame Sache mit den Sowjets machte, werde es zur ‚tödlichen Gefahr‘ (‚mortal peril‘). Das einzige und wichtigste Ziel blieb demnach, ein solches Zusammengehen mit den Sowjets zu verhindern.“ Sicherheit vor Deutschland sei durch Integration desselben zu erreichen, wird Kirkpatrick zitiert, und das „zu einem Zeitpunkt, wo dies noch als Zugeständnis (‚favour‘) an die Deutschen verkauft werden konnte – und nicht umgekehrt.“

Laut dem Historiker ging es dem britischen Politiker darum, „die Deutschen übers Ohr zu hauen (‚bamboozle the germans by roping them in‘) und sie ‚am Ende wirtschaftlich, politisch und militärisch so abhängig zu machen von der westlichen Welt, daß sie es sich gar nicht leisten können, auszuscheren und ins östliche Lager zu wechseln‘“. Ziel sei die „totale Kontrolle“ Westdeutschlands, „mit allen Mitteln“. Für Steininger zeichneten Kirkpatricks Vorstellungen „denn auch den Weg vor, den die Entwicklung nahm“.

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