Neue Dokumente zu ABLE ARCHER 83

von Markus Kompa 

Die sowjetische Kriegsangst war real

Zwischen dem 7. und dem 11. November 1983 lief in Westeuropa die letzte Übung des jährlichen Herbstmanövers an. Unter der Code-Bezeichnung ABLE ARCHER sollte die finale Eskalation geübt werden: Der nukleare Vernichtungsschlag. Damals hatte US-Präsident Ronald Reagan die Atmospähere mit aggressiver Rhetorik vergiftet, in welcher er Russland als „das Reich des Bösen“ dämonisierte. Zudem war war der eigentlich Kalte Krieg nach dem Abschuss der Korean Airline 007 und der überraschenden Invasion auf Grenada so heiß geworden wie während der Kubakrise – allerdings nur hinter den Kulissen. Der zum Staatschef aufgestiegene vormalige KGB-Chef Juri Andropow befürchtete, dass die Übung in Wirklichkeit nur eine Tarnung für einen von Pentagon-Mächtigen offen befürworteten nuklearen Überraschungsangriff auf Moskau sei.

Im Westen wird die sowjetische Kriegsangst von 1983 von konservativen Historikern heruntergespielt. Seit die USA 2015 den bis dahin strengst geheimen Untersuchungsbericht für Präsident Bush von 1990 freigaben, steht allerdings zumindest ein Großteil der US-Quellen offen, wo man die Situation definitiv als hochriskant einstufte (Um Haaresbreite). Anders als die USA mauern die Briten und Russen nach wie vor. Nun wurden u.a. in einem KGB-Archiv in der Ukraine entdeckte Akten bekannt, welche Aufschluss über die östliche Perspektive des Dramas von 1983 bieten. Auch die StaSi-Unterlagenbehörde erwies sich als ertragreich. Das National Security Archive der George Washington University hat einen Großteil des bislang unbekannten Materials nunmehr online gestellt.

Seit Reagan das Tauwetter im Kalten Krieg beendet und die Aufrüstung im Weltraum forciert hatte, trieben die Sowjets Befürchtungen eines Überraschungsschlags um. Daher startete Moskau 1981 unter Leonid Breschnew das bis dahin größte Unternehmen des KGB, die Operation RYaN. Sowohl der Geheimdienst als auch die Militärs sollten jedes Anzeichen melden, das auf eine konkrete Kriegsvorbereitung hindeutete, etwa das Horten von Blutspenden oder das Verhalten von Kirchenoberhäuptern. Während das Programm eigentlich Klarheit über die Absichten der USA bringen sollte, leistete es ironischerweise das Gegenteil, weil es die Furcht vor einem Angriff in einer Echokammer sammelte.

Bei einer streng geheimen Unterredung mit dem ostdeutschen Geheimdienstchef Erich Mielke im Juli 1981 bedankte sich Andropow für die Beschaffung von sensiblen Unterlagen über die NATO. Die Auslandsaufklärung verfügte damals über einen Agenten, der Zugang zu allen NATO-Geheimnissen hatte (Der NATO-Spion). Andropow neigte damals zur Auffassung, dass die USA zwar einen Krieg vorbereiteten, einen solchen aber nicht zu führen wünschten. Er sei sich aber nicht sicher. Gegenüber dem russischen Botschafter Anatoly Dobrynin verlautbarte Andropopw im Vertrauen, dass die Reagan-Administration sich auf einen Krieg vorbereite und dass man Reagan alles zutrauen müsse.

Bei einem Treffen des Warschauer Pakts in Prag im Januar 1983 warnte Andropow vor US-Präsident Reagan, der nicht einmal verhehle, dass seine Raketensysteme für Zukunftskriege gedacht seien. Reagan glaube, einen Atomkrieg überleben und gewinnen zu können. Es sei schwierig, zwischen Kriegsrasseln und einer tatsächlichen Bereitschaft zum letzen Schritt unterscheiden zu können. Zwar befürchtete er offiziell noch keinen Erstsschlag, allerdings glaubte er Historikern des US-Abhörgeheimdienstes NSA zufolge, durchaus an daran.

Ebenfalls im Januar 1983 diskutierte Andropow mit Hans-Jochen Vogel die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen. So könne ein betrunkener oder drogensüchtiger US-Soldat eine Nuklearrakete starten und damit eine Kettenreaktion auslösen. Es sei auch schon mal passiert, dass Amerikaner Raketen auf Vogelschwärme abgefeuert hätten. Wenn eine solche Rakete in sowjetisches Territorium falle, könne dies zum Krieg führen. Er befürchte, die damals geplante Stationierung Pershing II-Rakete in Deutschland verkürze die Reaktionszeit auf einen Angriff von 30 auf sechs Minuten. Als Antwort stationiere er nunmehr die SS-20-Rakete, die auf Ziele in Deutschland gerichtet sei. Es sei weiser, so viele Raketen wie möglich aus Europa abzuziehen, um nicht in eine Nuklearkrieg abzugleiten.

Im April 1983 kam es zu einer Reihe von Provokationen etwa im Pazifik. So führten die USA Scheinangriffe etwa auf einen sowjetischen Stützpunkt auf der pazifischen Insel Zeleny durch, die Sowjets wiederum verletzten erstmals seit 1969 US-Luftraum über der Insel Nunivak. Andropow persönlich ordnete an, dass auf Verletzung des sowjetischen Luftraum mit einem Abschuss zu reagieren sei. Tragische Folge dieser Politik war offenbar der Abschuss der Korean Airline 007 (Japan: USA wussten 1983, dass die Sowjets Flug KAL 007 für ein Spionageflugzeug hielten).

Nachdem Abschuss von KAL 007 verlor Andropow seine Zweifel daran, dass die gegenwärtige Führung der USA gewillt sei, die ideologische Konfrontation in eine militärisch umzuwandeln und damit die Menschheit zu gefährden. Bei einem Treffendes Warschauer Pakts in Berlin im Oktober 1983 verkündete Verteidigungsminister Ustinow, dass die Pershing II, deren tatsächliche Reichweite geheim war, Moskau erreichen könne. Es handele sich um eine Erstschlagswaffe.

Im Oktober 1983 gab der KGB-Chef Order, die Wachsamkeit, Überwachung und die Kontrolle der Medien zu verstärken. Am Herbstmanöver REFORGER waren 1983 über 300.000 Mann beteiligt. Wie man heute weiß, wurden damals etwa in der DDR Atombomber startklar gemacht und die mobilen Abschussbasen der SS-20 in den Wäldern stationiert. Der Alarm für die SS-20 war zwar auf gefechtsbereit gesetzt, allerdings sei man von einem Start weit entfernt gewesen. Der damalige Chef des Generalstabs gab später an, dass das Herbstmanöver 1983 die gefährlichste Übung der NATO im Kalten Krieg gewesen sei.

Am 7. November, dem Beginn von ABLE ARCHER, traf sich der stellvertretende KGB-Chef Kryuchkow mit dem Leiter des DDR-Auslandsgeheimdienstes Markus Wolf. Die Spionagechefs diskutierten, organisatorische Fragen der Operation RYaN. Für die Einschätzung, ob ein Nuklearkrieg, der theoretisch innerhalb von 24 Stunden vorbereitet werden könne, in einem halben oder einem Jahr drohe, gäbe es Tausend Indikatoren. Ein Einfluss auf die Friedensbewegung könne kontraproduktiv sein, falls „unsere Hand“ auffalle.

ABLE ARCHER endete am 11. November friedlich (Der letzte Tag).

Eine Woche danach warnte Verteidigungsminister Ustinow in der PRAWDA, es sei zunehmend schwerer, zwischen einer militärischen Übung und einer tatsächlichen Bedrohung zu unterscheiden. Dies dürfte den Airforce-Geheimdienstler Leonard Peroots bestätigen, der während in Ramstein Airbase den Befehl missachtete, die Alarmstufe auf DEFCON 2 zu setzen. Für die Sowjets wäre nicht zu erkennen gewesen, ob es sich bei dieser höchsten Alarmstufe unterhalb eines Atomkriegs um ein Spiel oder tödlichen Ernst handelte. Die öffentliche Bewertung Ustinows stimmte mit der internen Sicht überein. Ein weiteres Dokument des ostdeutschen Geheimdienstes von 1987 evaluiert die Bemühungen der Operation RYaN.

Während ZDF-Zuschauer noch heute mit abstrusen Propagandamärchen vom freundlichen Cowboy Ronald Reagan gefüttert werden, der aufgrund angeblicher CIA-Hinweise noch während ABLE ARCHER Zurückhaltung angeordnet habe, gibt es nach Stand der Forschung keine Hinweise darauf, dass die CIA vor Mai 1984 auch nur substantiierte Kenntnis von der sowjetischen Kriegsangst hatte.

Erschienen am 07.11.2018 bei https://www.heise.de/tp/news/Neue-Dokumente-zu-ABLE-ARCHER-83-4213870.html