Spiel mit nuklearem Feuer

Gefährdung des Friedens in Europa: NATO diskutiert Atomwaffenstrategie, wirft Moskau aber »nukleares Säbelrasseln« vor

Von Rainer Rupp

Warum sind ein US-amerikanischer und ein russischer General, James E. Cartwright und Wladimir Dworkin, plötzlich sehr besorgt über die zunehmende Gefahr eines Atomkrieges in Europa? Wie kann es sein, dass der Staatssekretär des US-Verteidigungsministeriums Robert Scher immer noch im Amt ist, obwohl er jüngst vor dem Kongress in Washington dafür geworben hat, einen präventiven nuklearen Erstschlag zur Entwaffnung Russland zu führen? Um seinen Arbeitsplatz braucht sich der atomare Kriegstreiber keine Sorgen zu machen, denn er hat die volle Unterstützung seines Ministers Ashton Carter. Der ist in dieser Woche in Deutschland von seiner Amtskollegin Ursula von der Leyen gefeiert worden.

Vor dem Hintergrund des gerade abgeschlossenen Treffens der NATO- Verteidigungsminister in Brüssel sollte man sich der wachsenden Gefährdung des Friedens in Europa durch die von Washington betriebene Expansion des Aggressionsbündnisses bis an die Grenzen Russlands im klaren sein. Insbesondere der gewaltsame, von den USA forcierte und finanzierte Sturz der demokratisch gewählten Regierung der Ukraine im Februar 2014 sowie die Unterstützung offen faschistischer Kräfte in Kiew durch die »westliche Wertegemeinschaft« haben dazu geführt, dass Russland nicht länger bereit ist, auch nur einen Schritt weiter zurückzuweichen. Moskau zeigt sich »uneinsichtig« und wird im Westen als »Alleinschuldiger« ausgemacht, der verantwortlich ist für die Rückkehr zum Kalten Krieg. Denn aufgrund von Russlands »aggressivem Verhalten« sah sich der Westen ja »gezwungen«, mit politischen und ökonomischen Strafmaßnahmen Wladimir Putins »Reich des Bösen« eine Lektion zu erteilen.

Aber Russland ist weder Afghanistan noch Irak noch eines der Dutzend anderen Länder, die von NATO-Staaten in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit Krieg überzogen und ins Verderben gestürzt wurden. Russland hat Zähne, auch nukleare. Der Einsatz taktischer Atomwaffen zur Verteidigung seiner Staatsgrenzen gehört inzwischen fest zur russischen Militärdoktrin und wird entsprechend geübt. Angesichts der Aufstockung von schweren US- bzw. NATO-Waffen an Russlands Grenzen hat Präsident Putin die Indienststellung von 40 Interkontinentalraketen noch in diesem Jahr verkündet, die jede westliche Gegenmaßnahme unterlaufen können. Das wiederum wird von NATO lautstark als »nukleares Säbelrasseln« verurteilt.

Je mehr der Westen Russland gegen die Wand drückt, je mehr schwere Waffen der NATO dicht an der Grenze Russlands stationiert werden, je mehr die westliche Rhetorik sich in aggressiven Slogans überschlägt, desto labiler und unberechenbarer wird die Lage, aus der heraus aufgrund von Fehleinschätzungen oder falschen Informationen kleine, bewaffnete Konflikte über die russische Grenze hinweg entstehen können. Wegen ihrer Nähe zur Hauptstadt Moskau könnten auch kleine Konflikte an der russischen Westgrenze schnell strategische Bedeutung gewinnen, entsprechend rapide eskalieren und unbeherrschbar werden. Führt man bei dieser Ausgangslage die hysterische und gewaltbereite Russenfeindschaft in vielen Regierungen der neuen NATO-Mitglieder im Osten Europas mit ins Kalkül ein, dann wird die Lage vollkommen unabwägbar. Dennoch betreiben Washington und die NATO die Neuauflage des Spiels mit dem nuklearen Feuer offensichtlich mit großer Hingabe.

Völlig unverständlich ist, dass sich auch die »alten« europäischen NATO-Partner wie Deutschland und Frankreich an diesem irrwitzigen »Spiel« mit unabsehbaren Folgen beteiligen. Denn bei einem mit taktischen Atomwaffen zwischen NATO und Russland ausgetragenen Konflikt wäre Europa der Hauptleidtragende.

Beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister in dieser Woche stand zum ersten Mal seit vielen Jahren Russlands Nuklearstrategie wieder auf der Tagesordnung. Als Höhepunkt politischer Scheinheiligkeit brandmarkte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg diese als »ungerechtfertigt« und zudem »destabilisierend und gefährlich«.

Riskante Szenarien

Moderne Technologien lassen sich nur unzureichend gegen Angriffe abschotten. Die Zahl der Cyberattacken nimmt zu. Verbunden mit den wachsenden Spannungen zwischen den USA und Russland und vor dem Hintergrund des wiederauflebenden Geistes des Kalten Krieges mit seiner Nukleardoktrin wird damit ein Atomkrieg in Europa plötzlich wieder zu einer sehr realen Bedrohung. Das zumindest meinen zwei hochrangige, inzwischen aus dem aktiven Dienst geschiedene militärische Befehlshaber: der Amerikaner James E. Cartwright, ehemaliger General des Marine Corps sowie stellvertretender Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff (Vereinten Stabschefs) und Kommandeur des für strategische Nukleareinsätze zuständigen United States Strategic Command, sowie der Russe Wladimir Dworkin, ein pensionierter Generalmajor und früherer Leiter des Forschungsinstituts der strategischen Raketentruppen Russlands. Beide sind Mitglieder der Global-Zero-Kommission für die Reduzierung des nuklearen Risikos. Und beide sind sehr besorgt über die Zukunft der Welt, wenn die aktuelle Status quo zwischen den USA und Russland unverändert bleibt.

Unter dem Titel »How to Avert a Nuclear War« (Wie man einen Atomkrieg verhindern kann) hatten die beiden hochrangigen Experten am 19. April in einem Meinungsartikel in der New York Times vor den Hintergrund des bewaffneten Konflikts in der Ukraine eindringlich vor den unabwägbaren Gefahren einer Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg gewarnt. Vor allem machten drei strategische Optionen, denen sowohl die USA als auch Russland weiterhin anhängen, die Lage besonders gefährlich. Bei allen drei doktrinär befolgten Optionen handele es sich um Überbleibsel aus dem Kalten Krieg: 1.) Ersteinsatz von Atomwaffen (wenn konventionelle Kräfte nicht mehr ausreichen), 2.) nukleare Vergeltungsschläge (nach einem erfolgten Atomangriff) und 3.) Startbefehl bei Warnung (damit die eigenen Atomraketen bereits in der Luft sind, bevor sie von gegnerischen Raketen zerstört werden können). Die Generäle meinen, dass der dritte Punkt, Start bei Warnung, die größte Gefahr beinhalte, da das vorgesehene Szenario schon durch Provokationen und Funktionsstörungen ausgelöst werden könne und das Potential für Fehlalarme in Frühwarnsystemen erheblich gewachsen sei. (rwr)

Erschienen in der Tageszeitung “junge Welt” am 26.06.2015