Das Teufelszeug muss weg! (E.Honecker)

Vor 34 Jahren, am 12. Dezember 1979, verabschiedete eine Sondersitzung der Außen- und Verteidigungsminister der NATO einen Beschluss über die Stationierung von neuen Raketen-Kernwaffen-Systemen mittlerer Reichweite in Westeuropa ab 1983. Der Beschluss beruhte auf einer Studie der Nuklearen Planungsgruppe der NATO mit einem umfangreichen Programm zur Modernisierung weitreichender Kernwaffen, ein Programm, das weit über die Stationierung von Waffensystemen mittlerer Reichweite hinausging.

Der NATO-Beschluss betraf insgesamt 572 bodengestützte atomare Mittelstreckenwaffen –  Raketen des Typs PERSHING II und von Flügelraketen (Cruise Missile). Er hatte zwei Anlagen, einmal das Programm zur Modernisierung und zum anderen ein Rüstungskontrollangebot. Daher die Bezeichnung: NATO-Doppelbeschluss.

Die NATO bezog sich dabei auf Erkenntnisse, dass die Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 70er Jahre einige ihrer in Europa stationierten atomaren Waffensysteme – analog zu regelmäßigen Modernisierungen der NATO-Systeme – erneuert hatte (Umrüstung von SS-4 und SS-5 auf SS-20). Dabei behaupteten die NATO-Strategen, dass sich damit das militärstrategische Gleichgewicht in Europa entscheidend zu Gunsten der Sowjetunion verschoben habe.

Nüchterne Berechnungen bewiesen aber, dass unter Beachtung der zur Verfügung stehenden Mittelstreckenraketen und der Trägersysteme mittlerer Reichweite die NATO etwa das Eineinhalbfache an Kernsprengköpfen gegenüber den sowjetischen Systemen einsetzen konnte.

Für die UdSSR und den Warschauer Vertrag ergaben sich völlig neue Dimensionen der Bedrohungen. Die vorgeschobene Dislozierung der Mittelstreckenwaffen verringerte für die Sowjetunion die Vorwarnzeiten für einen atomaren Angriff auf wenige Minuten. Die Navigations- und Flugeigenschaften der US-Raketen erforderten völlig neue Systeme der Abwehr gegen einen Angriff mit atomaren Waffen.

Gleichzeitig wurden die im europäischen Raum der UdSSR stationierten strategischen Kernwaffen unmittelbar bedroht, während es für die entsprechenden Systeme auf dem Territorium der USA nach wie vor keine neue Bedrohung ab.

Aber auch für Westeuropa veränderte sich die strategische Situation. Die UdSSR wurde gezwungen, einen größeren Teil ihrer strategischen Abwehrmittel auf Westeuropa zu richten. Damit würde das Territorium der USA zumindest zu Beginn eines Kernwaffenkrieges weitgehend verschont bleiben, Europa jedoch zum ersten Schlachtfeld eines atomaren Krieges mit allen schrecklichen Folgen für die Länder und Völker werden.

Ein „Doppelbeschluss“ voller Demagogie

Die Angebote der NATO über Rüstungskontrollverhandlungen steckten voll demagogischer Fallstricke. Bereits 1980 erklärte sich die Sowjetunion zu entsprechenden Verhandlungen bereit. Um jedoch das strategische Gleichgewicht zu bewahren, schlug die UdSSR die Einbeziehung des vorgeschobenen amerikanischen Kernwaffenpotentials (FBS[1]) in Westeuropa und der britischen und französischen Potentiale in die Verhandlungen vor. Das wurde von der westlichen Seite strikt abgelehnt.

Auf dem XXVI. Parteitag der KPdSU (1981) unterbreitete die sowjetische Führung einen neuen Vorschlag. Sie erklärte:

„Wir schlagen eine Vereinbarung darüber vor, bereits jetzt ein Moratorium für die Stationierung neuer Raketenkernwaffen mittlerer Reichweite der NATO-Länder und der UdSSR festzulegen, das heißt, diese Mittel – natürlich einschließlich der vorgeschobenen Kernwaffen der USA auf diesem Gebiet – quantitativ und qualitativ auf dem vorhandenen Stand einzufrieren. Das Moratorium könnte in Kraft treten, sobald die Verhandlungen zu dieser Frage beginnen, und es könnte gültig bleiben, bis ein ständiger Vertrag über die Begrenzung oder noch besser über die Reduzierung dieser Kernmittel in Europa abgeschlossen ist.“

Führende Politiker der NATO-Staaten, in der BRD vorrangig Außenminister Genscher,  lehnten diesen Vorschlag strikt ab und diffamierten ihn mit der Behauptung, die UdSSR wolle mit diesem Moratorium ein bestehendes Ungleichgewicht verewigen. Die mit diesem Vorschlag verbundenen Angebote über Verhandlungen wurden von ihnen verschwiegen.

Die Friedensbewegung

Der NATO-Doppelbeschluss und die Diskussionen über die sowjetischen und amerikanischen Reaktionen führten zu einem starken Aufschwung der Friedensbewegung. In allen europäischen Ländern kam es zu Massenprotesten, so z.B. im Oktober 1981 zur bis dahin größten Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten mit ca. 300 000 Teilnehmern. Mehr als vier Millionen Menschen hatten den Krefelder Appell  unterschrieben Der Krefelder Appell war ein Aufruf der westdeutschen Friedensbewegung an die damalige Bundesregierung, die Zustimmung zur Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa zurückzuziehen und innerhalb der NATO auf eine Beendigung des atomaren Wettrüstens zu drängen. Er wurde am 16. November 1980 öffentlich vorgestellt.

Im April 1980 verabschiedete ein Treffen kommunistischer Parteien Europas in Paris einen Appell, in dem u.a. formuliert wurde:

„Völker Europas, ihr habt Grund zur Wachsamkeit! … Wer auch immer wir sind und wo wir in Europa leben, wir haben alles zu gewinnen bei der Suche nach abgestimmten Lösungen der bestehenden Probleme. Wir haben alles zu gewinnen durch die Reduzierungen der Rüstungen und Streitkräfte, durch Fortschritte der Entspannung in Übereinstimmung mit den Erfordernissen einer gleichen und garantierten Sicherheit für alle Staaten und Völker. Die Kräfte, die dies erreichen können, sind vorhanden.“

 Auch für die DDR kam es zu einer Zäsur. Auf der einen Seite erklärte Erich Honecker – als Affront auch zur UdSSR – „das Teufelszeug müsse verschwinden“. Andererseits war die SED-Führung nicht bereit, eine unabhängige Friedensbewegung, die stark von kirchlichen Kreisen getragen wurde, als Partner im Kampf um den Frieden anzuerkennen. Mehr noch, dieses Engagement, vorwiegend junger Menschen, für Frieden und Abrüstung wurde von offizieller Seite als staatsfeindliche Tätigkeit diffamiert und verfolgt. Es sei hier nur an die Reaktionen erinnert, wenn junge Menschen den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ trugen. Welch ein Widersinn: Ein sowjetischer Bildhauer schafft nach einem biblischen Motto ein Monument für den Frieden, die sowjetische Regierung schenkt dieses Monument den Vereinten Nationen als Symbol der Friedensehnsucht aller Völker – und in der DDR wurden junge Menschen verfolgt, die dieses Symbol nutzten – auch wenn nicht alle Freunde der DDR waren.

INF-Verhandlungen

In den Jahren 1981/82 kam es in Genf zu einer ersten Serie von Verhandlungen über die Mittelstreckenwaffen (INF – Intermediate-Range Nuclear Forces). Um ein endgültiges Scheitern dieser Verhandlungen zu vermeiden, hatten sich beide Unterhändler (Paul H. Nitze für die USA und Julij A. Kwizinski für die UdSSR)bei einem Waldspaziergang auf eine Formel geeinigt: Die Sowjetunion sollte auf 75 ihrer SS-20-Raketen und die NATO auf 74 Cruise Missile verzichten. Dieser Vorschlag wurde in Moskau und Washington umgehend abgelehnt; damit waren die Verhandlungen in Genf beendet.

Intern wurde in den USA eingeschätzt, dass die Mehrheit der westlichen Regierungen die „Waldspaziergangsformel“ als akzeptables Ergebnis der INF-Verhandlungen begrüßt hätte.

Aber die Falken auf beiden Seiten hatten sich durchgesetzt. Am 22. November 1983 fasste die NATO den Beschluss zur endgültigen Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen.

Die Aufklärung der DDR hatte mit tagesaktuellen und dokumentarischen Informationen die Vorbereitung und Durchführung der INF-Verhandlungen begleitet und die sowjetische Seite mit detaillierten Informationen unterstützt. Mehrere Quellen der DDR – der Hauptverwaltung Aufklärung im MfS und der Verwaltung Aufklärung der NVA – hatten Zugang zu den entscheidenden Geheiminformationen der NATO und der westlichen Regierungen und konnten sowohl gesichertes Faktenmaterial über den realen Stand der Rüstungen beider Seiten als auch Dokumente zu den strategischen Konzeptionen der westlichen Seite und zu ihrer Bewertung der Haltung der Sowjetunion beschaffen.

1985 kam es zu einem neuen Anlauf der INF-Verhandlungen, die am 8. Dezember 1987 zur Unterzeichnung eines weitreichenden Abkommens zwischen den USA und der UdSSR führten.

Nach der Ratifizierung trat der Vertrag am 1. Juni 1988 in Kraft und wurde im Laufe des Jahres noch durch einige Dokumente ergänzt.

Erstmals wurde ein wirklicher Verzicht auf Mittelstreckenwaffen und die tatsächliche Vernichtung von Raketen vereinbart. Die Vereinigten Staaten zerstörten vertragsgemäß 846, die Sowjetunion insgesamt 1846 Raketen; bei gleichzeitiger Kontrolle durch die jeweils andere Seite.

 

veröffentlicht in „Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE Nr. 12/2013

 


[1] Der Begriff FBS – Forward Based Systems – umfasst US-amerikanische Kernwaffen, die auf europäischen und asiatischen Stützpunkten stationiert sind und teilweise sowjetisches Territorium erreichen konnten. Die USA weigerten sich jahrelang, diese Systeme, davon ungefähr 500 bis 600 in und um Europa, in Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen einzubeziehen.