Der Fall Nawalny und der Nowitschok-Nebel (Teil 2)

Im zweiten Teil untersucht der Autor die Ungereimtheiten hinsichtlich der “unabhängigen Bestätigung” des Nowitschok-Fundes in Proben von Alexei Nawalny durch verschiedene Labore. Es soll sich dabei um eine “härtere” Variante des Nervengifts handeln – was Fragen aufwirft.

von Jürgen Cain Külbel

Das Nervengift Nowitschok wurde für den Einsatz auf dem Schlachtfeld entwickelt, es tötet sofort. Philip Geraldi, den ich persönlich kenne und schätze, früher CIA-Spezialist für Terrorismusbekämpfung und Offizier der Defense Intelligence Agency, argumentiert:

Als (Alexei Nawalny) zur Behandlung in Deutschland war, wurde von seiner Familie eine mysteriöse Wasserflasche hervorgezogen, von der die Bundeswehrlabore behaupten, sie habe Spuren von Nowitschok auf ihrer Oberfläche. Wenn Nowitschok wirklich auf der Flasche wäre, wären seine Familie und die Flugbesatzung ebenso tot wie die Techniker der Bundeswehr.

Toter als tot, glaubt man Bruno Kahl, dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND), der laut Spiegel in “geheimer Runde” erklärte, “bei dem verabreichten Stoff soll es sich um eine Weiterentwicklung von bislang bekannten Nowitschok-Zusammensetzungen handeln. Das Gift sei noch ‘härter’ als bisherige Formen”. Nun steht die Frage, wer aus dem absolut tödlichen Nervengift Nowitschok, das vor mehr als drei Jahrzehnten in der Sowjetunion entwickelt wurde, ein noch absolut tödlicheres Nowitschok entwickelt hat, das es dem Opfer erlaubt, drei Wochen nach Vergiftung “das Krankenbett bereits zeitweise zu verlassen”. 

Wir erinnern uns: das tödliche Nervengift hatte auch bei den Skripals keine letale Wirkung entfaltet. Andererseits ist die Nowitschok-Formel seit den 90er Jahren bekannt wie ein bunter Hund; damals kaufte Kahls BND sogar originales Nowitschok einem russischen Informanten ab, stellte die Probe den “Partnerdiensten” in Großbritannien, Frankreich, Kanada, den Niederlanden und den USA zur Verfügung, damit die in ihren Laboren damit herumpantschen können. Israelische Geheimdienste gehen davon aus, dass “mindestens 20” Länder Nowitschock herstellen können oder über Vorräte verfügen.  

Und nun existiert gar ein “härteres” Nowitschok? Ein international bekannter Chemiewaffen-Experte wies mich in dieser Frage auf folgendes hin:

Nur ganz kurz zur Analytik: Man braucht nicht nur die teuren Analysengeräte, sondern auch Referenzstandards und validierte Messprotokolle.

Das bedeutet: der Toxikologe muss vergleichen können, um solch eine Aussage treffen zu können, wie sie Herr Kahl tätigte. Meine Frage an Herrn Kahl wäre daher: In welchem westlichen Labor liegen “Referenzstandards und validierte Messprotokolle” zu dieser “härteren Weiterentwicklung von bislang bekannten Nowitschok-Zusammensetzungen” vor? Denn es wurde offenbar etwas Neues “entdeckt”, etwas, was “bislang” nicht bekannt war! Auf welcher Grundlage kann diese “bislang unbekannte” Substanz Russland zugeordnet werden. Erklären Sie uns diese Chemie!  

Labore im NATO-Ja-Sager-Verbund 

Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, erklärte am 14. September 2020, “unabhängig von den noch laufenden Untersuchungen der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) haben damit nun bereits drei Labore (in Deutschland, Frankreich und Schweden) unabhängig voneinander den Nachweis eines Nervenkampfstoffes aus der Nowitschok-Gruppe als Ursache der Vergiftung von Herrn Nawalny erbracht. Wir erneuern die Aufforderung, dass sich Russland zu den Geschehnissen erklärt.” 

Was Herr Seibert verschweigt: das deutsche, französische und das schwedische Labor bilden unter wechselnder Bezeichnung und Zusammensetzung eine Task-Group, die sich mit Prophylaxe und Therapie gegen chemische Wirkstoffe beschäftigt. Diese länderübergreifende Task-Group arbeitet der NATO zu, um die militärischen “Bedürfnisse” der Allianz in Sachen Chemiewaffen abzudecken:

  • dasUS Army Medical Research Institute of Chemical Defense in Aberdeen Proving Ground, Maryland,
  • die Chemical Biological Defence Section in Medicine Hat, Alberta, Kanada,
  • die Pulmonary and CNS Pharmacology in Rijswijk, Niederlande,
  • die University of Defence, Faculty of Military Health Sciences in Hradec Kralove, Tschechien,
  • das Norwegian Defence Research Establishment in Kjeller
  • der Service de Santé des Armées, Frankreich,
  • FOI CBRN Defence and Security in Umeå, Schweden,
  • Porton Down in Salisbury, Großbritannien,
  • und das Institute of Pharmacology and Toxicology der Bundeswehr in München

Die von mir angefragten Labore antworteten selbstverständlich nicht. Jedoch bestätigte Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron in einem Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Ergebnisse seines französischen Labors, wonach Nawalny mit Nowitschok vergiftet worden sei. 

An der schwedischen Verteidigungsforschungsagentur (FOI) in Umeå leitet Dr. Åsa Scott die CBRN-Abteilung für Schutz und Sicherheit. Gegenüber AFP sagte sie: Neben Russland “ist es unwahrscheinlich, dass ein anderes Land, das das Übereinkommen (über das Verbot chemischer Waffen) unterzeichnet hat, dieses Nervenmittel bekommen kann”. Auf der Homepage der FOI sagt sie:

Ich kann bestätigen, dass wir am FOI in Umeå im Auftrag unserer deutschen Partner eine Analyse durchgeführt haben … Probenahme, Transport und Analyse wurden unter strenger Aufbewahrungskette nach Verfahren durchgeführt, die dem Status des FOI als akkreditiertes Labor entsprechen. Unsere Analyse bestätigt die früheren deutschen Ergebnisse. Die Blutprobe von Herrn Nawalny enthielt eindeutig einen Nervenwirkstoff aus der Novitschok-Gruppe.

So, nun haben also auch Dr. Åsa Scott und die Franzosen das “härtere” Nowitschok bestätigt. Auch von Frau Dr. Scott würde ich gerne wissen, ob sie wissenschaftlich erklären kann, wie ihr Labor dieses neu entdeckte und bislang unbekannte Nowitschok diagnostizieren konnte? Schließlich fehlen auch dort jegliche “Referenzstandards und validierte Messprotokolle” und Vergleichsmaterial für das “neuartige” Nowitschok, da die Deutschen laut BND-Chef Kahl es ja erst entdeckten. Und wie nun können Frau Dr. Scott und ihre Mitarbeiter wissenschaftlich nachweisen, dass der “neuartige” Stoff aus Russland kommt – und nicht etwa aus Porton Down? 

Was die Experten in den Dritt-Laboren nicht nachgewiesen haben, ist ein Nervenkampfstoff in jenen Proben, die Herrn Nawalny in Omsk abgenommen wurden. Die russischen Wissenschaftler haben dort kein Nowitschok entdeckt. Ihr Angebot an die deutsche Seite, diese Proben zu untersuchen und mit jenen abzugleichen, in denen die westlichen Labore den Kampfstoff gefunden haben, wurde von der Bundesregierung zurückgewiesen. 

Und da beginnt der Ermittler-Alltag: Allein die Feststellung, dass Herr Nawalny mit einem Nervenkampfstoff vergiftet worden ist, sagt nichts darüber aus, wann, wo, wie, warum, durch wen es zu dieser Vergiftung kam. Zu den Omsker Proben heißt es von den russischen Ärzten:

Alexei Nawalny wurde auf ein breites Spektrum an Drogen, synthetischen Substanzen, Psychodysleptika und pharmazeutischen Substanzen untersucht, einschließlich Cholinesterase-Hemmern – das Ergebnis war negativ.

Zudem wurde demnach der chemische Stoff 2-Ethylhexyldiphenylphosphat an Kleidung und Haut von Herrn Navalny gefunden; der vom Kontakt mit einem Plastikbecher stammen könne. Die Hauptdiagnose der russischen Mediziner ist eine akute Stoffwechselstörung. 

Natürlich muss sich die Bundesregierung auch zur Beweismittelkette (Chain of Custody) in Sachen dieser ominösen Wasserflasche, angeblich Eigentum von Herrn Nawalny, erklären, die wie aus dem Nichts in Berlin auftauchte. Der Fluss dieses extrem gefährlichen Spurenträgers, sollte an ihm Nowitschok gehaftet haben, aus dem Fernen Sibirien bis ins Labor der Bundeswehr muss lückenlos dargestellt werden. Ebenso, wer die Flasche wo, wann, wie, warum, womit gesichert hat, durch welche Hände sie ging. Beweismittelfälschung, also einer Flasche in einem Hochsicherheitslabor winzige Spuren von Nervengift beizubringen, ist kein Ding der Unmöglichkeit. 

Noch steht Aussage gegen Aussage. Wir haben also im Vorkommnis Nawalny weder einen Tatort, noch die Tatzeit, noch konkrete Angaben zur angeblichen Tatwaffe und zum Täter. Die Deutschen behaupten zwar Nowitschok, verheimlichen indes, welche konkreten Substanz(en) an und im Körper von Herrn Nawalny sowie an der Trinkflasche gefunden wurden.

Daher bieten sich aus kriminalistischer Sicht viele Möglichkeiten, wann, wo, wie Herr Nawalny vergiftet worden sein könnte: auf dem Flughafen in Tomsk, im Flieger nach Omsk, in der dortigen Notfallklinik, im Flieger während des Transportes nach Berlin, in der Charité? Was ist im Intensivtransportwagen der Bundeswehr – wieso Bundeswehr und kein Rettungswagen? – geschehen, der Herrn Nawalny unter starkem Polizeischutz vom Flughafen in die Charité brachte? Diese Frage ist besonders pikant, da es das Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr in München war, das nachher Nowitschok “zweifelsfrei” entdeckte! Klärungshinweise dafür, ob Proben manipuliert wurden, kann nur ein Abgleich zwischen “deutschen” und “russischen” Proben bringen.

Es steht vor allem die Klärung aus, ob ein medizinischer Notfall im Fernen Sibirien im Nachhinein auf europäischem Boden zum Kapitalverbrechen “umdiagnostiziert” wurde.

Im dritten Teil untersucht der Autor das britisch-deutsche Interagieren im Fall Nawalny, die Mission des deutschen, schwedischen und französischen Labors im Syrien-Krieg, also jener Labors, die bei Nawalny “zweifelsfrei” Nowitschok feststellten, sowie die insgeheime Unterwanderung der OPCW durch britische Einflussagenten.

Zuerst erschienen bei RT Deutsch am 4.10.2020