Der Meisterspion – über jeden Verdacht erhaben

Vor 60 Jahren wurde Richard Sorge hingerichtet

Von Markus Wolf – erschienen im “neuen deutschland” vom 6./7. November 2004

Am 7. November 1944 – am Jahrestag der Oktoberrevolution – wurde das von der Justiz des kaiserlichen Japans verhängte Todesurteil gegen Richard Sorge und seinen engsten Kampfgefährten Hozumi Ozaki vollstreckt.

Über den Kundschafter Richard Sorge erfuhr ich zum ersten Mal zu Beginn meiner Tätigkeit im Außenpolitischen Nachrichtendienst der DDR Anfang der fünfziger Jahre aus westlichen Publikationen. Moskau schwieg. Mit einigen Mitarbeitern nutzte ich die Möglichkeit, den deutsch-französischen Film “Wer sind Sie, Doktor Sorge” zu sehen. Wir waren beeindruckt.

1964 meldete Moskau: Richard Sorge wurde postum der Stern »Held der Sowjetunion« verliehen. Danach gab es eine Reihe von Publikationen. Da hatten wir schon erfahren, dass seine Mitstreiter, die unter dem Namen Ruth Werner bekannt gewordene Kundschafterin »Sonja«, und sein Funker Max Christiansen-Klausen unter uns lebten. Seitdem wurde Sorge für unsere Kundschafter zum großen Vorbild.

Kein Spion aus Ost oder West hat so viel Aufmerksamkeit erregt wie Richard Sorge. In den letzten Jahren beschäftigt die Sorge-Forschung eine Heerschar japanischer, russischer, englischer und amerikanischer Historiker, jährlich erscheinen neue Bücher und Publikationen wissenschaftlicher Tagungen. In der deutschen Öffentlichkeit beschränkt sich das Wissen aber  meist auf das Klischee vom »russischen Meisterspion«.

Mit den diesjährigen Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der Eröffnung der Zweiten Front und des  Attentates auf Hitler am 20. Juli 1944 war die einseitige Fixierung des Widerstandes gegen Hitler und des Anteils am Sieg gegen  Hitlerdeutschland auf Militärs und Vertreter des Bürgertums bzw. auf die Aktionen der westlichen Alliierten vorherrschend in Politik, Wissenschaft und Medien. Alle anderen Formen des Kampfes gegen den Hitlerfaschismus, der opferreiche Kampf der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, Widerstand aus Kreisen der Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Christen werden fast vollständig ausgeblendet. Auch der von deutschen antifaschistischen Kundschaftern bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geleistete Beitrag.

Sorge, Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter, wurde 1895 in der Nähe von Baku geboren, wo sein Vater als Ingenieur arbeitete. Nach der Übersiedlung nach Deutschland verbrachte Sorge dort die nächsten 23 Jahre seines Lebens. Er meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst, wurde schwer verwundet und lernte die Schrecken des Krieges kennen – für die weitere Geisteshaltung von Richard Sorge ein prägendes Erlebnis.

1920 promovierte er in Hamburg und bekam von seinem Doktorvater seine außerordentlichen analytischen Fähigkeiten bestätigt. Er trat 1917 der USPD und 1919 der KPD bei und leistete eine aktive politische Arbeit, entwickelte dabei als Propagandist und Korrespondent seine analytischen Fähigkeiten. Nachdem Sorge 1924 die Delegation der Komintern zum 9. illegalen Parteitag der KPD betreut hatte, erhielt er 1925 den Auftrag, in der Komintern-Zentrale in Moskau zu arbeiten. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied der KPdSU.

Der Leiter des Militärischen Nachrichtendienstes, General Jan Bersin (genannt »Der Alte«), wurde auf Richard Sorge aufmerksam und verpflichtete ihn zur Kundschaftertätigkeit für die Rote Armee. Nach Einsätzen in Großbritannien und in Skandinavien in den Jahren 1928/29 erfüllte Sorge von 1930 bis 1933 Aufträge in China/Shanghai.

Anfang 1933 erhielt er den Auftrag, eine Kundschaftergruppe in Japan aufzubauen (später bekannt als die Gruppe »Ramsay«), wobei er sich mit seinen echten Personalien  eine Existenz als deutscher Journalist aufbaute. Erste Voraussetzungen für diese Gruppe hatte Sorge bereits in Shanghai schaffen können. Er lernte dort seinen Freund und bedeutsamsten Mitkämpfer, den japanischen Journalisten Hozumi Ozaki kennen, einen überzeugten Marxisten, der einer Nachrichtengruppe der KP Chinas angehörte. Ozaki kehrte 1932 nach Japan zurück, wurde bereits 1933 Berater des Stabes des japanischen Expeditionskorps für China und 1938 Berater der Regierung des Prinzen Konoe in Japan. Damit erhielt er Zugang zu höchsten Führungskreisen Japans und Einblicke in die Strategien und Absichten der herrschenden japanischen Kreise.

Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung gehörten zur Gruppe Ramsay bis zu ihrer Verhaftung im Oktober 1941 mindestens 16 Quellen und über 40 Sympathisanten. Es handelte sich durchweg um japanische und chinesische Patrioten, die den Kriegskurs des kaiserlichen Japans als ein Unglück für Japan ablehnten und bereit waren, aktiv die Opposition gegen diesen Kurs und für eine konsequente Friedenspolitik zu unterstützen.

Sorge hatte sich innerhalb kurzer Zeit einen engen Freundeskreis unter den Mitarbeitern der deutschen Botschaft in Tokio und viele enge Verbindungen unter weiteren Ausländern in Japan geschaffen. Der langjährige Militärattaché und spätere deutsche Botschafter Dr. Eugen Ott zählte Sorge zu seinen engsten Beratern. Er nutzte Sorges Analysen über Entwicklungen in Japan zur Verbesserung seines Ansehens in Berlin und zog Sorge u.a. zur Bewertung von ein- und ausgehenden Chiffre-Telegrammen heran. Ähnlich gute Beziehungen bestanden zu den Militärattachés der Botschaft. Zum Vertreter der Gestapo in Tokio, Oberst Meisinger, unterhielt Sorge »Vertrauenskontakte«; er trat häufig als Referent in der NSDAP-Ortsgruppe auf und galt dort als »deutscher Patriot«. Auch zu japanischen Organisationen, Forschungseinrichtungen und zur Wirtschaft hatte Sorge außerordentlich gute Beziehungen. Er hatte tiefen Einblick in den Austausch von Ergebnissen der militärischen Forschung und Entwicklung zwischen Deutschland und Japan.

Aus den umfangreichen Informationen der Gruppe »Ramsay« an den Militärischen Nachrichtendienst der UdSSR soll auf zwei Komplexe hingewiesen werden: Bereits in den ersten Monaten des Jahres 1941 übersandte Sorge mehrere Telegramme nach Moskau über die Vorbereitung der Aggression gegen die UdSSR, so u. a.: 6. März: Hitlerdeutschland wird nach Abschluss der Kriegsplanungen im Westen die Sowjetunion überfallen. 26. April: Analyse über die geplante Operation der deutschen Wehrmacht, die u. a. 150 Divisionen an der Grenze bereitstellt. 20. Mai: Erstmalige Terminangabe – 20. Juni mit der Hauptstoßrichtung Moskau. 15. Juni: Präzisierung des Termins auf den 22. Juni »in aller Frühe«.

Stalin ignorierte diese Informationen ebenso wie ähnliche der Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack oder von Überläufern aus der deutschen Wehrmacht. Es gehört zu der größten Tragik dieser Kundschaftergeneration, dass ihre rechtzeitigen Warnungen in maßloser Selbstherrlichkeit von einem Mann vom Tisch gefegt wurden, der damit den Tod zehntausender Sowjetsoldaten und Zivilisten verschuldete. Sorge war wie viele andere in den Strudel der Verdächtigungen und Verleumdungen in der Zeit der Massenrepressalien in der Sowjetunion geraten. Sein Mentor, Jan Bersin, war bereits ein Opfer dieser Vernichtungsorgie; Sorge verdankte sein Leben dem Auslandseinsatz. Es zeugt von seiner Größe, dass er trotz des Wissens darüber und der Missachtung seiner Warnungen den Informationsfluss der Gruppe Ramsay nach dem deutschen Angriff weiter verstärkte.

Hitlerdeutschland wollte nach dem Überfall auf die Sowjetunion noch vor Wintereinbruch eine Kriegsentscheidung durch die Einnahme Moskaus erreichen. Zwei sowjetische Armeen waren eingekesselt und Guderians Panzerspitzen hatten die Verteidigungslinie um Moskau durchbrochen. In dieser Zeit kamen die Meldungen Richard Sorges in allerhöchster Not.

Am 6. September 1941 beschloss die kaiserliche Konferenz im kleinsten Kreis, die japanischen Kriegsvorbereitungen noch im Oktober zu beenden und den Krieg gegen die USA, England und die Niederlande zu beginnen. Ozaki hatte Einblick in das Protokoll dieser Tagung. Sorge analysierte, dass die kaiserliche Armee nicht in der Lage sein wird, an zwei Fronten zu kämpfen und die geostrategischen Interessen Japans im Augenblick auf den Südpazifik gerichtet sind. So kam es zu Sorges Funkspruch vom 14. September 1941 nach Moskau: Die japanische Regierung wird die UdSSR nicht angreifen; sie ist vor einem Überfall im Fernen Osten sicher.

Es war einer seiner letzten Funksprüche, dessen Bedeutung auch Stalin, der sich vor Moskau in einer verzweifelten Lage befand, nicht übergehen konnte. Teile der Fernostfront, ausgeruhte und gut ausgerüstete Einheiten, wurden eiligst nach Moskau verlegt. Dadurch trat bereits im November 1941 eine Stabilisierung der Lage ein. Mit der sowjetischen Gegenoffensive im Dezember 1941 wurden 35 Divisionen der faschistischen Wehrmacht aufgerieben und 250 Kilometer Geländegewinn erzielt. Hitlers Blitzkriegsstrategie war gescheitert.

Richard Sorge war als deutscher Antifaschist der tiefen Überzeugung, dass er mit seiner Kundschaftertätigkeit für die UdSSR einen bedeutenden Beitrag im Kampf gegen Krieg und Faschismus leistet. Er entwickelte dabei eine ungewöhnliche Meisterschaft. Seine enorme Intelligenz, seine analytischen Fähigkeiten verband er erfindungsreich mit taktischen Mitteln der Anpassung, Tarnung und Täuschung. Strenge Disziplin und Einhaltung der Konspiration scheinen seiner sehr unkonventionellen Auffassung von der Gestaltung seines Lebens entgegenzustehen – auch bei der konkreten Ausgestaltung seiner nachrichtendienstlichen Arbeit. Er konnte es sich bis zu einem gewissen Grad erlauben, im kleinen Kreis sowohl kritische Äußerungen über den Krieg Hitlerdeutschlands als auch realistische Einschätzungen über die Kriegschancen der Sowjetunion zu äußern. Diese »Geradlinigkeit « und »Offenheit« vertiefte das Vertrauen seiner Partner in der deutschen Kolonie. Wie so häufig bei der Einbeziehung starker Persönlichkeiten in geheimdienstliche Arbeit, entsprach sein Herangehen an die Erfüllung der operativen Aufgaben oft nicht den Regeln oder den Vorgaben der Zentrale.

Im Vordergrund der Aufgaben stand selbstverständlich die Informationsbeschaffung über die Pläne und Absichten, die Ressourcen und militärischen Kapazitäten Hitlerdeutschlands und Japans gegenüber der Sowjetunion. Aber es stärkte seine Position in der Botschaft erheblich, wenn er den deutschen Partnern verschiedene Interna aus japanischen Führungskreisen preisgab. Trotz des strikten Verbotes aus Moskau, sich jeder propagandistischen Tätigkeit zu enthalten, nutzten Sorge, sein Freund Ozaki und andere Mitglieder der Gruppe ganz gezielt die Möglichkeiten, japanische Kreise von den friedlichen Absichten der UdSSR und auch von ihrer militärischen Stärke zu überzeugen.

Sorge war außerdem der Überzeugung, dass er seine umfassenden Kenntnisse in geeigneter Form auch den westlichen Vertretern der Anti-Hitlerkoalition zur Verfügung stellen müsste. Der mit ihm befreundete Journalist der Nachrichtenagentur Havas, Robert Guillain, schätzte dazu ein: »Natürlich hatte ich niemals den leisesten Verdacht, dass Vukelic und Sorge Spione sein könnten. Später begriff ich, dass sie glaubten, diese Indiskretionen dienten ihrer Sache, d. h. dem Kampf gegen Hitler und den Nazismus und der Verteidigung der Sowjetunion … Drei Jahre diente ich so ohne mein Wissen als Kanal für den organisierten Geheimnisverrat durch den Sorge-Spionagering.«

Das professionelle Vorgehen von Sorge wird auch durch das Telegramm Nr. 980 vom 29. März 1942, das Botschafter Eugen Ott zu seiner Rechtfertigung an das Reichsaußenministerium richtete, belegt: Sorge »gilt als guter Kenner ostasiatischer Verhältnisse … Nach meiner Erinnerung wurde er mir zum ersten Male Ende 1934 vorgestellt. Er war zu diesem Zeitpunkt schon Parteigenosse. Aus den Akten der Botschaft und Partei ergibt sich nicht, wie Sorge erreicht hat, von der hiesigen Ortsgruppe der Reichsparteileitung zur Aufnahme in die Partei vorgeschlagen zu werden. Desgleichen ist nicht festzustellen, dass von seiten der Botschaft eine Empfehlung Sorges an die ›Frankfurter Zeitung‹ erfolgt ist … Wie ich festgestellt habe, hat Sorge gelegentlich für den Luftwaffenattaché auch technische Angaben übermittelt. Zu den Nachrichten, die Sorge beibrachte, gehörten auch Informationen aus dem Konoe-Kreis. Mir ist nie der Verdacht gekommen. Dass Sorge etwa Kommunist sei oder sich sonst staatsfeindlich betätigte. Wie mir übereinstimmend die Waffenattachés, der Hoheitsträger und der hiesige Pressevertreter versicherten, ist auch ihnen kein solcher Verdacht aufgetaucht. Die deutschen Journalisten haben mir noch nach der Verhaftung Sorges einen gemeinsamen Brief geschrieben, in dem sie für ihn eintraten und zum Ausdruck brachten, sie hielten den Vorwurf kommunistischer Betätigung für gänzlich unglaubwürdig. Sie haben sich auch in der Folgezeit bereiterklärt, hierfür jederzeit Zeugnis abzulegen.«

Fast ein Credo der Aufklärungsarbeit vieler »Kundschafter des Friedens« ist die Erklärung Sorges gegenüber einem japanischen Staatsanwalt vom Juni 1942: »Die Sowjetunion wollte keine politischen Konflikte oder militärischen Zusammenstöße mit anderen Ländern, besonders nicht mit Japan, und wollte Japan nicht überfallen. Folglich kamen ich und meine Gruppe ganz sicher nicht als Feinde Japans hierher. Wir unterscheiden uns völlig von dem, was man normalerweise unter ›Spion‹ versteht. Der ›Spion‹ Englands oder Amerikas ist jemand, der die schwachen Punkte in Japans Politik, Wirtschaft und Militär als Angriffsziele auskundschaftet. Dies war nicht unsere Absicht, als wir Informationen über Japan sammelten.«

Angesichts dieser Haltung Sorges in der Haft gehören die Stellung in Moskau ihm gegenüber bis zur Widerlegung der Verleumdungen zu den finsteren Seiten der Stalinzeit. Noch sind nicht alle Akten zugänglich, die Forschungen nicht  abgeschlossen. So bedarf auch die Frage einer Klärung, ob das Leben des deutschen Patrioten und Sowjetkundschafters hätte gerettet werden können. Mein langjähriger Kollege und Leiter der Deutschlandabteilung des KGB, Generalleutnant a.D. Sergej A. Kondraschow, konnte sich viele Jahre mit bislang geheimen Dokumenten der sowjetischen Dienste befassen. In einem 2001 veröffentlichten Vortrag vor einem internationalen Symposium stellte er dazu fest, die Hauptursache des Auffliegens der Sorge-Residentur sei die verantwortungslose Führung durch die Leitung der Militäraufklärung der Sowjetarmee gewesen, begründet in der haltlosen Verdächtigung Sorges als japanisch-deutschen Spion. »Die Voreingenommenheit Sorge gegenüber kam darin zum Ausdruck, dass trotz seiner eindeutigen Verdienste gegenüber unserem Land während der drei Jahre zwischen seiner Verhaftung und der Hinrichtung keiner der Leiter der Aufklärung an die Möglichkeit seiner Rettung dachte. Es ist unverzeihlich, dass der ehemalige Leiter der Militäraufklärung, General Iljitschew, den Vorschlag der japanischen Seite ignorierte, einen Austausch Sorges gegen japanische Kriegsgefangene durchzuführen.«

Wie für viele andere dieser Generation stellt sich danach die bittere Frage nach dem Wert ihres Tuns, dem Sinn ihres Lebens. Für mich ist die Antwort klar: Kein Handeln war vergebens. Ob es die Flugblätter der »Weißen Rose« waren oder Informationen von Kundschaftern gegen den Krieg – kein Opfer war umsonst! Richard Sorge gebührt ein ehrenvoller Platz im antifaschistischen Widerstand.

Der Dolmetscher von Oberst Meisinger, Karl Hamel, der Sorge kurz vor der Hinrichtung im Gefängnis besuchte, beschreibt dessen Haltung angesichts des Todes mit den Worten: »Bewundernd registrierte der Besucher, wie ruhig und  beherrscht der Häftling erschien … Er machte den Eindruck eines Mannes, der stolz ist, ein großes Werk getan zu haben, und der sich nun darauf vorbereitet, den Schauplatz seines Wirkens zu verlassen.«