Gedenkfeier zu Ehren Dr. Richard Sorge

Gedenkstätte Dr. Richard Sorge

Etwa 100 Menschen versammelten sich am Donnerstag vor dem Gebäude in der Berliner Richard-Sorge-Straße 2, um des marxistischen Wissenschaftlers, Journalisten und sowjetischen Kundschafters zu gedenken. Richard Sorge (geb. 1895) war am 7. November 1944 vom Militärregime Japans in Tokio hingerichtet worden. jW-Chefredakteur Arnold Schölzel hob in einer kurzen Ansprache hervor, dass Sorge im September 1941 berichtete, dass Japan keinen Angriff auf den Fernen Osten Sibiriens plane. Daraufhin wurden von dort zur Verteidigung Moskaus Truppen herangeführt, die den deutschen Feldzug stoppten. Zu der Manifestation in Berlin hatte die Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung (GRH) erstmals 2012 aufgerufen. GRH-Vorsitzender Hans Bauer erklärte, aus dem Gedenken an diesem Datum solle eine Tradition werden. Die Teilnehmer legten Blumen an jener Stelle nieder, an der von 1969 bis 1991 eine Metalltafel an Richard Sorge erinnerte.

 

Wortlaut der Ansprache Arnold Schölzels:

Heute vor 69 Jahren, um 10.20 Uhr Ortszeit, starb Richard Sorge im japanischen Kerker unter der Hand des Henkers. Wer die vergangenen 23 Jahre in der Bundesrepublik erlebt hat, kann den Hass ermessen, der die japanische Militärclique veranlasste, den 7. November 1944, den 27. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution als Zeitpunkt für die Hinrichtung zu wählen. Der Hass auf die Revolution, auf gesellschaftliche Veränderung im Interesse der Bevölkerungsmehrheit, auf die Urheber der mehr als 40 Jahre dauernde Einschränkung der Handlungsfreiheit des deutschen Imperialismus, also auf die Sowjetarmee und die deutschen Kommunisten in Ost und West, begleitet in immer neuen und sich steigernden Schüben die neuen Ansprüche auf Vormacht und Teilhabe an Weltmacht aus Bonn und nun aus Berlin. An dieser Konstellation hat sich nichts geändert, auch wenn es derzeit hierzulande nicht unmittelbar um Leben und Tod geht. Als Richard Sorge ermordet wurde, hatte die Sowjetarmee in Stalingrad gesiegt, die Schlacht am Kursker Bogen erfolgreich geschlagen und stand an der Weichsel. Es war zu einem großen Teil sein Verdienst und das seiner Genossinnen und Genossen der Gruppe „Ramsay“, dass der Sieg über den Faschismus nahe gerückt war: Sie hatten am 14. September 1941 nach Moskau gemeldet, dass Japan die Sowjetunion nicht angreifen würde, der Ferne Osten sicher sei. So konnten Truppen aus Sibirien nach Moskau in Marsch gesetzt werden. Hitlers Blitzkrieg war gescheitert. Das entschied für lange Zeit und letztlich bis heute den Verlauf der Weltgeschichte. Wenn auch unter unendlichen Verlusten, von denen sich die Sowjetunion nicht mehr erholte, der militärische Sieg wurde errungen. Vergessen und verzeihen werden das die heute Herrschenden nie.

Imperialismus, Krieg und Faschismus: Das war der historische Hintergrund, der Richard Sorges Leben und seine Biographie bestimmte. In den Ersten Weltkrieg, dessen Anzettelung durch den deutschen Imperialismus sich im kommenden Jahr zum 100. Mal jährt, ging er als Freiwilliger. Als er nach seiner Verwundung, nach dem Studium im Lazarett von Werken seines Großonkels Friedrich Adolf Sorge, des engen Freundes von Marx und Engels, der Lektüre ihrer Werke Anfang 1918 aus der Armee entlassen wurde, begann er einen politischen Weg, den er konsequent zurücklegte. Er führte ihn in die USPD und in die KPD, in die Wissenschaft und in den Journalismus, vor allem aber in die Arbeit für den Verbindungsapparat der KPD, für die Kommunistische Internationale und schließlich in die KPdSU und die Kundschaftertätigkeit für die Rote Armee. Seine Arbeit in Skandinavien und Großbritannien, in China und schließlich in Japan machte ihn zum erfolgreichsten Aufklärer des 20. Jahrhunderts. Er hatte Zugang zu höchsten Führungskreisen Japans, zum gesamten Apparat der deutschen Botschaft in Tokio, verfolgte die militärische Forschung und Entwicklung der Achsenmächte und übersandte bereits in den ersten Monaten des Jahres 1941 Telegramme über die Vorbereitung des faschistischen Angriffs auf die Sowjetunion – bis hin zur Angabe von dessen Beginn. Die sowjetische Führung ignorierte das. Markus Wolf hat das mit den Worten kommentiert: „Es gehört zu der größten Tragik dieser Kundschaftergeneration, dass ihre rechtzeitigen Warnungen in maßloser Selbstherrlichkeit von einem Mann vom Tisch gefegt wurden, der damit den Tod zehntausender Sowjetsoldaten und Zivilisten verschuldete.“ Sorge wurde verdächtigt, für den Feind zu arbeiten. Er ignorierte das und verstärkte nach dem Überfall der Faschisten noch seine Tätigkeit. Es dauerte genau 20 Jahre, bis 1964, als seine Tätigkeit nicht mehr verschwiegen oder gar geleugnet, sondern er rehabilitiert und als „Held der Sowjetunion“ geehrt wurde. Erst dann konnte sein Leben, seine Leistung ihre Vorbildwirkung entfalten.

Die herausragenden Aufklärungsergebnisse, die Menschen wie Richard Sorge erzielten, werden von bürgerlichen Autoren auf subjektive Eigenschaften, auf ein persönliches Geheimnis, eine spezielle Disposition zum „Meisterspion“ oder ähnlich Irrationales zurückgeführt. Auf den Kern der Angelegenheit kommen sie nicht, weil er für sie eine Art Tabu ist: Die kommunistische Weltanschauung, die Tatsache, im Kampf gegen Faschismus und Krieg unbestechlich zu sein und ein bewusster Gegner des Imperialismus zu bleiben. Im Fall von Richard Sorge hätte man es wissen können, denn er hatte eine Reihe von Publikationen vorgelegt, war journalistisch und wissenschaftlich in einer Weise hervorgetreten, die an seinem Standpunkt keinen Zweifel lassen konnte. Wenig bekannt ist, dass Richard Sorge Anfang der 20er Jahre maßgeblich daran beteiligt war, in Frankfurt am Main das heute noch existierende renommierte „Institut für Sozialforschung“ zu gründen. Es scharte nicht nur zahlreiche linke und kommunistische Intellektuelle um sich, die in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Faschismus eine hervorragende Rolle spielen sollten, es beherbergte auch durch Richard Sorges Vermittlung die deutsche Abteilung der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe, die in Moskau herausgegeben wurde. Das hatte bereits enorme Bedeutung für die ideologischen Kämpfe in der Weimarer Republik und für die Entwicklung der Sozialwissenschaften in Deutschland. Noch bedeutender war womöglich das Buch „Der neue deutsche Imperialismus“, das Richard Sorge unter seinem Pseudonym R. Sonter 1928 und in zweiter Auflage 1930 herausgab. Es erschien 1988 in der DDR als Reprint mit einem Vorwort von Jürgen Kuczynski. Er schrieb dort, dieses Buch „öffnete uns die Augen für das, was Lenin in seinem Buch über den Imperialismus geleistet hat. Gestattet mir, zwei Passagen aus Sorges Buch vorzutragen, die neue Aktualität gewonnen haben. Sein Ausgangspunkt ist, dass es sich beim Deutschland des Jahres 1927, als das Buch geschrieben wurde, „mit der politisch sehr wichtigen und theoretisch hochinteressanten Tatsache zu tun haben, dass ein hochimperialistisches Land, durch einen Weltkrieg zusammengebrochen, trotz außerordentlicher Hemmungen wieder eine imperialistische Entwicklung einschlägt“. Nach 1945 dauerte die „außerordentliche Hemmung“ zum neunem imperialistischen Aufstieg nicht vier oder fünf Jahre, sondern mehr als 40 Jahre – die entscheidendste Hemmung war die DDR. Bei Richard Sorge heißt es weiter: „Eine spezielle Seite …stellt dann noch die Frage nach der Rolle Deutschlands in dem kommenden Kriege dar.“ Dahinter stand damals nicht nur die These, dass es Kriege geben wird, solange es imperialistische Staaten gibt, sondern Sorges genaue Analyse, wie die deutsche Außenpolitik um diese Wiederherstellung deutscher imperialistischer Macht kämpft: gegen die Fesseln der militärischen Kräfte, für den Wiedergewinn von Kolonien und von in Europa „verlorenen Gebieten“, kurz der deutsche Imperialismus werde durch sein neues Auftreten die vorhandenen Konflikte „vertiefen und verschärfen, ja sogar eine Reihe neuer Konflikte hervorrufen“.

Ich will nicht weiter auf Einzelheiten eingehen, gesagt sei nur: Die Parallelen zu dem, was wir in den vergangenen 23 Jahren an Vorbereitung und Führung von Kriegen erlebt haben oder was jüngst von einer Denkfabrik der Bundesregierung, der Stiftung Wissenschaft und Politik, unter Titel „Neue Macht, neue Verantwortung“ als Strategiepapier vorgelegt wurde (im Internet: www.swp.de), ist nicht zufällig eine Parallele zu damals. Wer wissen will, woher Richard Sorge die Kraft für seine Kundschaftertätigkeit nahm, muss sich an die Quellen seiner Überzeugung als Antifaschist, als Kriegsgegner, als Kommunist begeben. Er starb mit dem Ruf: „Es lebe die Sowjetunion! Es lebe die Rote Armee!“

 

Siehe auch den Beitrag “Der Meisterspion – über jeden Verdacht erhaben” von Markus Wolf  im “neuen Deutschland” vom 6./7. November 2004