Geschmähter Friedensdienst

Die Spione der DDR handelten nach der Maßgabe, einen Krieg zu verhindern. Ihre Leistungen werden in Zeiten sich verschärfender Konflikte deutlich erkennbar

Von Werner Großmann und Wolfgang Schwanitz

In der kommenden Woche erscheint im Verlag Das Neue Berlin das von Klaus Eichner und Gotthold Schramm herausgegebene Buch »Top-Spione im Westen«. Darin berichten Agenten der Hauptverwaltung Aufklärung, des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, über ihre Tätigkeit an den Schaltstellen westdeutscher Politik und Wirtschaft. Der Band erschien bereits 2003 unter dem Titel »Kundschafter im Westen«. Gegenüber der damaligen Fassung fehlen in der neuen Ausgabe drei der ursprünglich 31 Beiträge. jW veröffentlicht an dieser Stelle vorab das für diese Ausgabe verfasste Vorwort. (jW)

Seit nunmehr einem Vierteljahrhundert ist die DDR Geschichte. Ihr Auslandsnachrichtendienst und alle anderen Institutionen sind es damit auch. Wer bei politischem Verstand ist, hat viele Gründe, dies zu bedauern. Der wichtigste Grund ist die Tatsache, dass inzwischen der Krieg wieder als eine normale Fortsetzung der Politik praktiziert wird.

Der französische Sozialist Jean Jaurès (1859–1914) sah nicht als erster und einziger den kausalen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg, aber er kleidete diesen in ein sehr überzeugendes Bild: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Womit gesagt ist: Solange es Kapitalismus gibt, solange wird es auch Kriege geben.

Die Deutsche Demokratische Republik brach mit dem Kapitalismus in Deutschland, der Schwur der Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!« wurde Staatsdoktrin. Womit die DDR zwangsläufig zur Zielscheibe kapitalistischer Staaten wurde, insbesondere jenes Nachfolgestaates des Deutschen Reiches, der ein einheitliches, antifaschistisch-demokratisches Deutschland verhinderte, indem er das Land teilte. Die existentielle Auseinandersetzung mit den alternativen Gesellschaften, die eine antikapitalistische Entwicklung einschlugen, nannten sie Kalter Krieg. Und dieser wurde, grundsätzlich betrachtet, nach den gleichen Prinzipien geführt, die Kaiser Wilhelm II. 1905 in seinem Neujahrsbrief an den deutschen Reichskanzler Bernhard von Bülow formuliert hatte: »Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig per Blutbad, und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht a tempo.«

Der Krieg »nach außen« wurde bis 1990 verhindert allein durch die Existenz eines zumindest militärisch gleichwertigen Widerparts, eines Bündnisses, das sich die Sicherung des Weltfriedens auf die Fahnen geschrieben hatte. Die Androhung wechselseitiger Vernichtung war zwar kein auf Dauer erträglicher Zustand, außerdem verschlang die Rüstung Ressourcen, die den Völkern fehlten. Aber das wies den Kapitalismus in die Schranken. Diese waren beseitigt, als die Mauer fiel und der Warschauer Vertrag sich auflöste. In Europa wurde wieder geschossen. Zuerst auf dem Balkan – wie schon einmal 1914. Ab 1999 waren auch deutsche Soldaten dabei. Solange zwei deutsche Staaten existiert hatten, hatte man sich solche Unverfrorenheit, nicht getraut …

Opfer der Siegerjustiz

Diesen großen politischen Bogen sollte man schon schlagen, um sich bewusst zu machen, welchen Beitrag die Spione der DDR – die wir zu ihrer Unterscheidung von den Agenten des Kapitalismus »Kundschafter« nannten – zur Bewahrung des Friedens bis 1990 nachweislich leisteten. Und wir sollten auch sagen, dass sie dazu nur deshalb in der Lage waren, weil die sie führende Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) zu einem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gehörte, in welchem der Schutz des Friedens staatlich organisiert und koordiniert worden ist. Selbstredend gemeinsam mit anderen Institutionen, denn das MfS inklusive HV A stand nicht über anderen Einrichtungen der DDR, sondern es war Teil eines großen Ganzen.

Die Kundschafter, auch die der Militäraufklärung, kämpften in der ersten Linie, die keineswegs unsichtbar war. Der Verlauf der Klassenfront war durchaus erkennbar. Und sie selbst blieben nur solange unsichtbar, solange sie nicht erkannt wurden. Falls sie jedoch enttarnt wurden, verhielt man sich ihnen gegenüber so, wie es der deutsche Kaiser seinerzeit gefordert hatte: »abschießen, köpfen und unschädlich machen«. Horst Hesse, der 1958 aus einer Filiale des US-Nachrichtendienstes MID in Würzburg die Datei mit den amerikanischen Agenten in der DDR sicherstellte (was später die Vorlage für den DEFA-Film »For eyes only« lieferte), wurde in den USA in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Andere Kundschafter wie Hans Voelkner oder Marianne und Hans-Joachim Bamler wurden in französischen Kerkern »unschädlich« gemacht, Christel und Günter Guillaume, Renate und Lothar-Erwin Lutze in denen der Bundesrepublik. Lutze war elf Jahre inhaftiert, ehe er 1987 ausgetauscht werden konnte. Er saß von allen am längsten.

All diese Genossen und unsere Gefährten wussten, wie hoch ihr Risiko war. Sie gingen es mit Bedacht ein, weil sie nicht nur von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt waren, sondern auch von dessen Notwendigkeit.

Daran änderte auch die Niederlage nichts, die wir 1989/90 erlitten. Dieser Überzeugung blieben sie, blieben wir ebenso treu wie jene Kräfte der Konterrevolution, die obsiegten, der ihren: Sie machten die Sozialisten mit Hilfe der Justiz unschädlich, um »dann Krieg nach außen (zu beginnen). Aber nicht vorher und nicht a tempo.« Es gab etwa dreitausend Ermittlungsverfahren nach 1990, viele Kundschafter wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Die kapitalistische Justiz – die trotz gegenteiliger Bekundungen eine Klassenjustiz ist und bleibt – drängte sie an den sozialen Rand der Gesellschaft. Die Rentenkassen erledigten auch die Führungsoffiziere und die Mitarbeiter, die hinter diesen Kundschaftern in der DDR standen. Und die kapitalistische Propaganda besorgte die Gehirnwäsche bei den Außenstehenden. Inzwischen haben wir es mit einer ganzen Aufarbeitungsindustrie zu tun. Das Land ist überzogen von einem Netzwerk staatlicher oder staatlich alimentierter Einrichtungen, die jenen Generationen, die keine lebendige Erinnerung an die DDR haben, ein Bild von dieser »zweiten deutschen Diktatur« vermitteln sollen, in der »die Stasi« spitzelte und spionierte, Unschuldige verfolgte und zu seelischen Krüppeln machte.

Menschenverachtender Plan

Dass solche Darstellungen falsch und verlogen sind, wissen alle, die dabei waren. Wir werden aber immer weniger, das ist der Lauf der Welt. Deshalb legen wir Zeugnis ab, solange es geht. Dabei geht es nicht um Rechtfertigung. Wofür sollten wir uns »rechtfertigen«? Die Sicherung des Friedens bedarf keiner Begründung. Eher stehen doch wohl jene in der Pflicht zu erklären, warum sie fortgesetzt den Frieden brechen. Sie führen weltweit Krieg gegen den Terror, wie sie behaupten.

Sollte man nicht besser nach dessen Ursachen fragen? Wurzeln diese nicht in Jahrhunderte währender kapitalistischer Bevormundung, Ausbeutung und Unterdrückung? Oder in der Zerschlagung staatlicher Strukturen, um einen »Systemwechsel« mit dem Ziel höherer Profite herbeizuführen? Wenn dann Unwissenheit auf Leichtgläubigkeit trifft, finden religiöse Vorstellungen Zuspruch, die Glück und Zufriedenheit versprechen. Natürlich und mit Recht stößt das zu Beginn des 21. Jahrhundert auf Widerspruch, und alle Verbrechen, die sich auf antiquiertes Denken oder auf eine Religion berufen, sind zu verurteilen. (Das gilt für den Islam wie für das Christentum) Doch die Auseinandersetzung mit solchen Auffassungen und den daraus resultierenden Rechtsbrüchen darf nicht die Frage nach dem Warum ausblenden. Das aber geschieht absichtsvoll. Sie wird weggebombt. Denn hinter den Rauch- und Propagandaschwaden verschwinden auch andere Probleme.

Der Imperialismus – diesen Begriff liebt man nicht, weil er zu deutlich den Charakter der kapitalistischen Gesellschaft benennt – hat keine Moral außer jener, an die schon Karl Marx im »Kapital« erinnerte: »300 Prozent (Profit) und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.« Wir erinnern uns: Im Mai 1945 – soeben war von der Antihitlerkoalition Nazideutschland niedergerungen und der Krieg in Europa beendet worden – sollte die Sowjetunion von britischen und US-Truppen militärisch niedergeworfen werden. Für die »Operation Unthinkable« wollte man etwa 100.000 kriegsgefangene Wehrmachtsoldaten reaktivieren. Der Termin des Überfalls war auf den 1. Juli 1945 festgelegt. Er wurde abgeblasen, weil man erstens die Sowjetunion militärisch für zu stark hielt und zweitens Probleme sah, der eigenen Bevölkerung einen Krieg gegen den bisherigen Verbündeten glaubwürdig zu vermitteln. Dieser streng geheime Plan wurde erst 1998 publik.

Ende 2015 erfuhr die Welt von einem anderen »streng geheimen« Plan: die nukleare Vernichtung von 1.200 Städten in den Staaten des Warschauer Vertrages sowie Chinas. Deren Namen standen in einer »Atomwaffenbedarfsstudie« des strategischen Bomberkommandos der USA. Die 800 Seiten umfassende Zielliste machte Washington Ende der 50er Jahre zum Regierungsprogramm, es wurden dafür 1.200 Wasserstoffbomben MK-15 produziert, von denen jede die Sprengkraft von 300 Hiroshima-Bomben besaß. Allein 68 solcher Mordinstrumente sollten auf die DDR-Hauptstadt Berlin abgeworfen werfen, für Leningrad – drei Jahre von der faschistischen Wehrmacht erfolglos belagert – waren 145, für Moskau 179 vorgesehen. Der Deckname der Zielorte: »Ground Zero«.

Dass dieser irrwitzige, menschenverachtende Plan nicht ausgeführt wurde, war nicht irgendwelchen Humanitätsgedanken oder christlicher Nächstenliebe geschuldet, sondern einzig der Tatsache, dass die Sowjetunion und ihre Verbündeten unter großen Mühen ein atomares Patt erreicht hatten, was zu der simplen Logik führte, die selbst Kalte Krieger begriffen: Wer als erster schießt, stirbt als zweiter!

Nicht grundlos hieß damals das Uranerz, das wir oft unter unsäglichen Bedingungen und keineswegs schadlos für Mensch und Umwelt aus den Schächten in der DDR kratzten, »Friedenserz«. Der Preis, den wir zahlten, war hoch. Aber die Rendite rechtfertigte unseren Einsatz: Wir verhinderten dadurch die nukleare Vernichtung der Menschheit. Zu den notwendigen Aufwendungen, die uns auszehrten, gehörten auch die zugunsten der Schutz- und Sicherheitsorgane im In- und im Ausland. Ohne unsere Aufklärer und das gesellschaftliche Hinterland hätten wir nicht bis 1990 Frieden sichern und für eine stabile Ordnung sorgen können. Ein System kollektiver Sicherheit, in den 70er Jahren mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) geschaffen, wäre ohne dieses kollektive Engagement nicht möglich gewesen.

Globale Bespitzelung

Und jene geheimen Pläne zur Eroberung und Beherrschung der Welt waren nicht die einzigen – das Thema ist keines ausschließlich für den Geschichtsunterricht. Es ist Gegenwartskunde, wie wir etwa von Edward Snowden wissen, einst Mitarbeiter der CIA. Von ihm erfuhr 2013 die Welt, dass die Geheimdienste der USA systematisch die Welt ausforschen. Ob Freund oder Feind, Verbündeter oder Gegner: egal, gespitzelt wird global. Seither dringen mehr und mehr Details an die Öffentlichkeit. Im Bundestag beschäftigt sich seit 2014 ein Untersuchungsausschuss mit der NSA-Affäre, in dem auch die Kooperation des Bundesnachrichtendienstes mit den US-Spionageeinrichtungen ans Licht kam wie auch die Tatsache, dass der BND gleichfalls EU-Partner abhörte. Als 2013 ebenfalls ruchbar wurde, dass die Amerikaner das Telefon der Bundeskanzlerin abhörten, empörte sich Angela Merkel: »Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht.« Zwei Jahre später kam heraus, dass der BND das gleiche tat – er hörte die »Freunde« in Paris ab. Uns überraschte das nicht.

Dem Bereich Gegenspionage der HV A war es in den 80er Jahren gelungen, ein Dokument mit der Bezeichnung »National SIGINT Requirements List« (NSRL) sicherzustellen. Es handelte sich um eine Wunschliste der Intelligence Community der USA für die weltweite fernmelde- bzw. elektronische Aufklärung. Federführend bei der Erstellung dieses Dokuments war die NSA. Darin fixiert waren das Interesse aller US-Geheimdienste, des Weißen Hauses und einiger Regierungsorgane, etwa des Außen- und des Energieministeriums, an spezifischen Informationen aus bestimmten Regionen und Ländern. Verlangt wurden detaillierte Daten zur Außen-, Innen-, Wirtschaftspolitik, über die Potenzen an strategischen Rohstoffen, die Streitkräfte, das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen, Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung (vor allem in solchen Bereichen, bei denen die USA unangenehme Überraschungen fürchtete), spezielle Rüstungsforschungen, Entwicklungen in der Energiepolitik etc. Und natürlich verlangte man auch Auskünfte über die Tätigkeit der Geheimdienste jener Länder.

Durch diese Liste, von unseren Kundschaftern besorgt, erhielten wir Kenntnis von den geheimen Informationsinteressen der USA an jedem einzelnen Land der Erde und wie diese bedient werden sollten. Wir hatten somit die Möglichkeit, darauf prophylaktisch zu reagieren und uns (und unsere Verbündeten) zielgerichtet vor den Angriffen der US-Geheimdienste zu schützen.

Darüber berichtete Oberst a. D. Klaus Eichner, Chefanalytiker der HV A, in seinem Buch »Imperium ohne Rätsel. Was bereits die DDR-Aufklärung über die NSA wusste«. Das wurde, wie üblich, als reine DDR-Propaganda und als »Rechtfertigungsschrift« abgetan – bis im Mai 2014 eine Podiumsdiskussion in den Räumen der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin stattfand. Daran nahm auch William Binney teil, der 32 Jahre lang bei der NSA unter anderem als Technischer Direktor gearbeitet hatte, ehe er nach Nine Eleven hinwarf. Ins Zentrum des Gespräches rückte bald jene »National SIGINT Requirements List«. Binney und andere Diskutanten bestätigten, dass dieses Arbeitsprogramm der US-Führung unverändert existiere und laufend aktualisiert werde. Und die Diskussion der Experten offenbarte ferner: Kern des Problems ist der Drang der Großmacht USA, ihren globalen Herrschaftsanspruch mit Hilfe ihrer Nachrichtendienste gegen Feind wie Freund durchzusetzen. Dieser Überzeugung war die DDR seinerzeit aus politischen Gründen – unsere Aufklärer brachten dafür fortgesetzt die Beweise.

Klaus Eichner, sonst in der Regel ausschließlich mit einer untergegangenen und geschmähten DDR-Institution in Verbindung gebracht, wurde nach dieser Gesprächsrunde in einem Hamburger Nachrichtenmagazin plötzlich als »ehemaliger DDR-Offizier« bezeichnet. Das war nicht falsch. Aber eben nur die halbe Wahrheit: Klaus Eichner war Offizier in der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit, dem er von 1957 bis 1990 angehörte. Er wurde auf einmal als seriöser, kundiger Fachmann behandelt und als gleichberechtigter Gesprächspartner akzeptiert. Aber dass er Mitarbeiter des MfS war, das behielt man lieber für sich.

Dokumentendiebstahl

Im Juni 1990 waren alle US-Unterlagen mit Blaulicht und bewaffnetem Schutz der Volkspolizei zur Archivierung in die Normannenstraße, der einstigen MfS-Zentrale, gefahren worden. Darunter jene 13.088 Blatt, die zum Komplex NSRL von unseren Kundschaftern und ihren Quellen zusammengetragen worden waren. In den Abendstunden des 4. Oktober 1990 – am ersten Arbeitstag nach dem Ende der DDR – durchsuchte im Auftrag der Bundesanwaltschaft ein Spezialkommando des BKA mit vier Beamten und zwei Technikern das Archiv.

25 Jahre später berichteten verschiedene Quellen, darunter auch der RBB im Januar 2014, dass diese und andere Maßnahmen im Auftrage des seinerzeitigen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble erfolgt waren. Um die Berliner Polizei damit nicht zu belasten, sei der Bundesgrenzschutz mit der Besorgung bestimmter Akten beauftragt worden. Diese wurden ungesichtet umgehend nach Übersee ausgeflogen, womit auch der Auftraggeber für diesen Diebstahl genannt war: die USA. Wie es im Spiegel 30/1999 dazu hieß: »Washington hatte ganz ordentlich Druck in Bonn gemacht – schließlich trugen etliche der Dokumente Stempel der höchsten amerikanischen Geheimhaltungsstufen Top Secret und Top Secret Umbra.« Den Grund für diesen Druck nannte das Nachrichtenmagazin auch: »Sie waren der Beweis dafür, wie ungeniert die Amerikaner (…) Spionage betrieben – auch gegen die Westdeutschen.«

Als die NSA-Akten das einstige MfS-Archiv verließen und in die USA ausgeflogen wurden, verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen, wodurch es unmöglich gemacht wurde, schon damals den US-Amerikanern schwarz auf weiß zu beweisen, wie sie gegen die DDR und gegen die Bundesrepublik Deutschland in den 70er und 80er Jahren spioniert hatten. Die Spuren waren erfolgreich beseitigt worden.

So wie man seit einem Vierteljahrhundert eifrig dabei ist, die Spuren der Kundschafter zu eliminieren. Das wird aber nicht gelingen, solange es die Erinnerung gibt und Bücher. Sie dokumentieren die Arbeit, die Haltung und die Motive von Frauen und Männern, die sich dafür engagierten, dass Frieden blieb – indem sie für den Friedensstaat DDR kundschafteten, politische, wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische, militärische und geheimdienstliche Institutionen des Klassengegners ausforschten, uns warnten oder halfen, unser Land und seine Verbündeten ökonomisch zu stärken, indem sie die Lücken schlossen, die der Gegner schlug, um uns zu schwächen. Markus Wolf (1923–2006), der die Hauptverwaltung Aufklärung aufbaute und sie bis 1986 erfolgreich führte, erklärte zu Recht in einem Interview: »Wir haben ja nicht gegen Feindbilder operiert. Wir hatten wirkliche Feinde.« Und das verziehen ihm diese Feinde bis an sein Lebensende nicht. Als er in den 90er Jahren, nach allen Verfahren und Verurteilungen, ein Visum für die USA beantragte, wurde es ihm mit der Begründung vom U.S. Department of State verweigert, er habe eine terroristische Vergangenheit. (»Markus Wolf Ineligible for U.S. Visa Due to Terrorist Activity«, Daily Press Briefing vom 9. Juni 1997)

Wir wussten es damals, als wir der DDR dienten, und wir können es heute nicht übersehen, weil wir es täglich in den Nachrichten zur Kenntnis nehmen müssen: Sie sind die Terroristen. Unsere Kundschafter, die Topspione im Westen, haben zu ihrer zeitweiligen Bändigung beigetragen. Darauf können alle friedliebenden Deutschen unverändert stolz sein.

Werner Großmann: Generaloberst a. D., seit 1952 Mitarbeiter des Außenpolitischen Nachrichtendienstes (APN), der späteren Hauptverwaltung Aufklärung des MfS, Chef der HV A von 1986 bis 1989, Stellvertretender Minister
Wolfgang Schwanitz: Generalleutnant a. D., Angehöriger des MfS seit 1951, von 1986 bis 1989 Stellvertretender Minister, danach Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit und in dieser Funktion Mitglied des DDR-Ministerrates
Klaus Eichner, Gotthold Schramm (Hrsg.): Top-Spione im Westen. Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich. Das Neue Berlin, 2016, 400 Seiten, 18,99 Euro, ab 15. Februar im Buchhandel

Erschienen in der Tageszeitung “junge Welt” vom 09. Februar 2016