Halbes Gedenken, ganze Verzerrung – Der Bundestag und der Überfall auf die Sowjetunion

Der Bundestag gedenkt nicht des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion vor bald achtzig Jahren, er spricht darüber. Was in der BRD offenbar nicht möglich ist, ohne die komplette Sammlung der antirussischen Propagandameme abzuarbeiten und vor allem der Ukraine Unterstützung zu versprechen.

von Dagmar Henn

Es war ohnehin die Sparausgabe eines Gedenkens; eine echte Gedenkstunde, die dann auch vor vollen Rängen stattgefunden hätte, hatte die Linke zwar beantragt, aber sie wurde abgelehnt. So eröffnete der halbformelle Rahmen die Möglichkeit, auf vielfache Art und Weise die Geschichte zu verzerren und ausgerechnet in diesem Zusammenhang gegen Russland auszuteilen.

Vorneweg zog Außenminister Heiko Maas (SPD), der sich zwar vor den Opfern verneigte und erklärte, “fassungslos blicken wir auf diesen Teil unserer Geschichte, auf den Rassenwahn, auf die völlige moralische Enthemmung, die auch gerade im Ostfeldzug ihren fürchterlichen Ausdruck genommen haben”, aber schon, wenn es um Versöhnung geht, oder, deutlicher gesagt, um die erstaunliche Tatsache, dass nach diesem Krieg noch ein Bürger einer der früheren Sowjetrepubliken einem Deutschen die Hand reicht, macht er eine Matsche aus “mittel- und osteuropäischen Ländern”, um einerseits das böse Wort Russland zu vermeiden und andererseits so einige, die an diesem Überfall oder zumindest an dessen Fortführung beteiligt waren, wie Bandera-Anhänger oder baltische SS-Hilfstruppen, hinter dieser Matsche verschwinden zu lassen.

Dass die vermeintlich universell geltenden Menschenrechte natürlich nur in Russland oder Weißrussland sanktionswürdig verletzt werden können, niemals aber in Frankreich, den USA oder Saudi-Arabien, gleich wie viele Augen ausgeschossen, Käfige in Guantanamo errichtet oder Schwule enthauptet werden, versteht sich von selbst. Maas hält das wie üblich für Völkerrecht.

Natürlich enthielt auch jeder weitere Beitrag die erforderlichen Sätze über den verbrecherischen Charakter dieses Angriffs, und auch der Begriff Vernichtungskrieg, der darauf hinweist, dass die Wehrmacht an der Ostfront völlig anderen Zielen folgte als an der Westfront und ein Überleben der vorgefundenen Bevölkerung nicht geplant war, darf nach dieser Veranstaltung endgültig als etabliert gelten. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) sprach gar von der “Einzigartigkeit des Russlandfeldzugs”, die man nicht relativieren dürfe. Hätte er an dem Tag sonst nichts gesagt, wäre das ein echtes Verdienst gewesen.

Aber um diesen Satz herum fanden sich ganz andere. Die Geografie musste besonders darunter leiden: Die Länder “zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, Balten, Ukrainer, Weißrussen” hätten besonders unter diesem Angriff gelitten. Ein Blick in einen historischen Atlas (oder selbst in ein altes Geschichtsbuch mit diesen lange notorischen Karten “Deutschland in den Grenzen von 1938”) hätte ihn darüber belehren können, dass am 22. Juni 1941 zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich schlicht die Grenze lag; und weder ein ukrainischer noch ein weißrussischer Staat zu diesem Zeitpunkt bestand.

Aus dem deutschen Überfall mit allem Zubehör, vom Generalplan Ost über den Kommissarbefehl bis hin zum Dogma vom slawischen Untermenschen, ziehen mit zwei Ausnahmen alle die eigenartige Konsequenz, man müsse eine russophobe, Bandera verehrende Ukraine unterstützen. Vielleicht nicht unbedingt mit Waffen, aber “wo es nötig und angemessen ist” (Kiesewetter, CDU/CSU).

Sogar nach einer Erwähnung von Babij Jar, wo die ukrainische Hilfspolizei am Massaker beteiligt war, gelingt es, per Unterschlagung dieser Beteiligung am Ende mit den Verehrern der Täter zu paktieren. Die Grünen haben die kognitive Dissonanz in dieser Frage durch geschickte Arbeitsteilung abgeschwächt – Claudia Roth durfte mit viel Pathos gedenken, Manuel Sarrazin reichte das geopolitische Gift nach. Den Vogel ab schoss hier Elisabeth Motschmann (CDU/CSU), die ihr Bedauern für die ehemalige Grünen-Abgeordnete Marieluise Beck ausdrückte, die sich ja so für Babij Jar eingesetzt habe und jetzt mit ihrer Stiftung Liberale Moderne von Russland sanktioniert sei. Marieluise Beck, die so eng mit den ukrainischen Nazis kuschelt, dass kein Blatt Papier mehr dazwischen passt. Wie Frau Beck das in einem Kopf zusammenbringt, sich um das Gedenken und um das Wohlergehen der Anhänger der Täter gleichzeitig zu kümmern, wird ihr Geheimnis bleiben. Frau Motschmann ist jedenfalls entgangen, dass bei jedem, der von diesen Beziehungen der Frau Beck weiß, die Formulierung, sie habe sich “um Babij Jar gekümmert”, ein ganz anderes Bild hervorruft.

Die russische Wikipedia zitiert in ihrem Artikel zu Babij Jar einen Zeugen: “Die ankommenden Juden – Männer, Frauen und Kinder – wurden von Ukrainern in Empfang genommen und zu der Stelle gebracht, wo sie nacheinander ihre Besitztümer, Mäntel, Schuhe, Oberkleidung und selbst Unterkleidung ablegen sollten. An eine bestimmte Stelle mussten die Juden auch ihren Schmuck legen. Das alles passierte sehr schnell: Wenn jemand langsam war, drängten ihn die Ukrainer mit Tritten und Schlägen zur Eile.”

Nachdem in der heutigen Ukraine Schuschkewitsch und das Bataillon Nachtigall, die die jüdische Bevölkerung Lembergs ausgelöscht haben, den Status von Helden der Ukraine haben, würde er den ähnlich tätigen Hilfspolizisten bei Babij Jar sicher nicht abgesprochen …

Aber dieses klitzekleine Detail darf nicht weiter stören, wenn man der Ukraine Unterstützung zusichern will. Schließlich dürfe man “nicht gegenüber der russischen Außenpolitik sprachlos sein” (Wadephul, CDU/CSU), wolle zwar keine Spirale der Eskalation der Sanktionen, aber dürfe “bei unseren Partnern in Mittel- und Osteuropa nie wieder den Eindruck erwecken, dass wir über ihre Köpfe hinweg mit Russland Geschichte machen” (Carsten Schneider, SPD), und überhaupt sei das Verhältnis nur schlecht wegen “Putins grausamer Politik” (Elisabeth Motschmann, CDU/CSU), während “unsere Hand” ja “ausgestreckt” sei (Kiesewetter, CDU/CSU), die russische Führung aber “die Geschichte für eigene Interessen” missbrauche (Djir-Sarai, FDP). Die Endlosschleife Krim, Donbass, Nawalny etc. kann man sich hinzudenken, das zu wiederholen ist müßig.

Manuel Sarrazin von den Grünen brachte es fertig, zwischendrin zu fordern, das Gedenken von Tagespolitik freizuhalten. Unmittelbar nach der Aussage “Ich bin todtraurig, wenn ich in Moskau die Georgsbänder sehe und damit die Solidarisierung mit einem Unrechtskrieg in der Ukraine”. Ja, man kann von Grünen nicht erwarten, die Abfolge irgendwelcher Ereignisse im Kopf zu haben, da rutscht es leicht durch, dass das in der Ukraine andersrum lief und vielmehr die Angriffe auf das Gedenken an den Sieg der Roten Armee auch in der Ukraine – man denke an den 9. Mai 2014 in Mariupol, als die mit Nazis bestückte Nationalgarde die dortige Polizeizentrale in Brand schoss und wahllos auf Passanten feuerte – den Bürgerkrieg mit auslösten.

Aber Sarrazin hat nicht nur bezogen auf die jüngere ukrainische Geschichte einen schrägen Blick, sondern auch auf die deutsche. Mit besonderer Betonung erklärte er, der Überfall auf die Sowjetunion sei mitnichten ein Angriff Nazideutschlands gewesen, sondern Deutschlands.

Diese Position hat keine sowjetische oder russische Regierung je eingenommen; im Gegensatz zu Herrn Sarrazin wussten sie sowohl von den vielen Deutschen, die in KZs gefangen saßen, als auch von jenen, die an der Seite der spanischen Republik kämpften, und mit Sicherheit von jenen, die in den Reihen der Roten Armee für die Befreiung ihrer Heimat kämpften. Herr Sarrazin sieht in ihnen nicht das bessere Deutschland, sondern einfach keine Deutschen …

Einzig die Redebeiträge der AfD und der Linken kamen ohne antirussische Wendung aus. Tino Chrupalla (AfD) forderte, man müsse “pragmatisch an einer gemeinsamen Zukunft arbeiten”. Dietmar Bartsch erzählte von seiner Russischlehrerin vor über dreißig Jahren, deren Großvater im Krieg getötet worden sei, und sagte dann: “Was soll ich meiner damaligen Lehrerin sagen, wenn heute NATO-Staaten ihr größtes Manöver ausgerechnet im Osten Europas abhalten, und die Bundeswehr ist dabei?” Ohne es zu ahnen, setzte er auch einen Kontrapunkt zu Sarrazin, indem er David Dushman, den vor wenigen Tagen verstorbenen letzten Befreier von Auschwitz, mit dem Satz zitierte: “Nicht die Deutschen sind schuld, der Faschismus muss zerstört werden.”

Diese Nicht-Gedenkstunde wurde also zu genau der Peinlichkeit, die man zuvor befürchten musste. Ein Glück, dass wenigstens das Vokabular auf “Diktator” oder “Autokraten” beschränkt wurde. Das Wort “Machthaber”, das sonst in solchen Zusammenhängen gern gebraucht wird, findet sich nämlich auch in Hitlers Rundfunkansprache vom 22. Juni 1941.

Zuerst erschienen bei RT Deutsch am 9 Juni 2021