Interview mit Egon Krenz in der Prawda

(Egon Krenz hat freundlicherweise die originale deutsche Fassung zu Verfügung gestellt)

Andrey DULTSEV: Warum haben Sie Ihr Buch “Wir und die Russen“ jetzt geschrieben und veröffentlicht? Haben Sie den Zeitpunkt absichtlich ausgewählt?

Egon Krenz: Mit meinem Buch erinnere ich die Herrschenden hierzulande an eine von ihnen vergessene historische Erfahrung: Deutschland ging es immer dann am besten, wenn es gute Beziehungen zu Russland hatte. Das wusste im 19. Jahrhundert schon der Eiserne Kanzler Bismarck. Es gibt einen äußerst interessanten Brief seiner Urenkelin aus dem Jahre 1947 an Generalmajor Sergei Iwanowitsch Tulpanow, der damals in der sowjetischen Militäradministration in Deutschland tätig war, den ich in meinem Buch zitiere: “Es schreibt Ihnen die Enkelin des bedeutenden Staatsmannes Bismarck, dessen Vermächtnis immer ein ewiger und unzerstörbarer Frieden mit Russland war. Sogar auf dem Sterbebett … hat dieser wiederholt: ›Nie gegen Russland!‹ Zu diesem progressiven Erbe des Erz-Konservativen passt nun aber die aktuelle Außenpolitik Deutschlands überhaupt nicht. Begriffe wie “Bestrafungen” und “Sanktionen” aus dem Munde deutscher Politiker an Russlands Adresse sind nicht nur geschichtsvergessen, sie sind eine Anmaßung gegenüber einem Volk, das für Deutschlands Freiheit vom Faschismus sein Herzblut gegeben hat.

Damit erinnern Sie auch an die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus?

So ist es. Die 75. Wiederkehr dieses historischen Datums ist ein zentraler Grund für das Buch. Ich war 1945 zwar erst acht Jahre alt, in Erinnerung ist mir dennoch geblieben, dass die sowjetische Besatzungsmacht ein riesiges Plakat mit dem Bildnis Stalins kleben ließ, auf dem geschrieben stand: ” Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben.” Diese klassischen Worte wurden später nicht falsch, weil sie von Stalin stammen. Für mich sind es tiefgehende Gedanken über Deutschland. Gedanken eines Siegers über ein Deutschland am Ende des bis dahin fürchterlichsten Krieg aller Kriege, in dem die Sowjetunion durch deutsche Schuld 27 Millionen Menschen verloren hatte. Mir sagen sie bis heute, dass es der Sowjetunion nie um Rache, nicht um die Zerstückelung Deutschlands, nicht um die Unterjochung ging, sondern um ein einheitliches Deutschland ohne Nazis und als Friedensstaat im Zentrum Europas. In dieser Tradition sehe ich auch die Russische Föderation.

In der offiziellen Rede des deutschen Bundespräsidenten zum “Tag der Befreiung” am 8. Mai in Berlin war von solchen Zusammenhängen aber keine Rede.

Das ist leider wahr. Wer erwartet hatte, der Bundespräsident würde den Anteil der sowjetischen Armee an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus würdigen, wurde enttäuscht. Kein Land der Welt hatte mehr Opfer zu beklagen als die Sowjetunion. Jenseits aller ideologischen Barrieren sollten diese Fakten anerkannt und gewürdigt bleiben. Die Sowjetarmee hat den deutschen Faschismus zerschlagen, nicht aber die deutsche Nation. Schon allein diese Tatsache rechtfertigt, dass deutsche Regierungen den Beziehungen zu Russland eine Sonderstellung einräumen müssten. Ähnlich wie es die Bundesrepublik beispielsweise wegen des Holocaust mit Israel hält.

Wie begründen Sie Ihren Standpunkt?

Inzwischen ist doch auch dokumentarisch belegt, was der Mainstream in Deutschland immer noch nicht wahrhaben will: Die UdSSR hatte kein strategisches Interesse an der deutschen Spaltung. Wer über die Geschichte der DDR und ihr Verhältnis zur Sowjetunion urteilen will, darf nicht an der Frage vorbei gehen, wer Deutschland wirklich gespalten hat. Die Gründung der DDR 1949 lässt sich historisch nicht einordnen, ohne die Situation des Jahres 1945. Wäre es nämlich nach dem Willen der UdSSR und der deutschen Kommunisten gegangen, wäre aus Deutschland “ein antifaschistisches, demokratisches Regime, eine parlamentarisch-demokratische Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“ geworden. So steht es im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945. Er war vorher mit der sowjetischen Führung abgestimmt worden. Er eröffnete Deutschland einen völlig neuen Weg des Friedens und der staatlichen Souveränität, der aber von den westlichen Besatzungsmächten gemeinsam mit Politikern der späteren Bundesrepublik verhindert wurde.

Es kam anders: Es kam zur Gründung von zwei deutschen Staaten.

Als die DDR gegründet wurde, war Deutschland längst gespalten. Dafür hatte vor allem schon 1948 die Einführung einer separaten Währung durch die Westmächte in den Westzonen und Westberlin gesorgt. Von der Gründung der DDR erfuhr ich als 12-Jähriger. Noch nicht am Gründungstag, dem 7. Oktober 1949, sondern einige Tage später. Eigentlich erst durch Stalin. Mein Klassenlehrer verlas ein Telegramm von ihm, gerichtet an Präsident Wilhelm Pieck, von Beruf Tischler, und Ministerpräsident Otto Grotewohl, gelernter Buchdrucker. Zweierlei habe ich mir damals eingeprägt und bis heute nicht vergessen: An der Spitze des neuen Staates standen Arbeiter, die gegen Hitler gekämpft hatten. Antifaschistische Widerstandskämpfer. Ein epochaler Unterschied zu der einige Monate zuvor gegründeten Bundesrepublik, deren erster Präsident 1933 im Deutschen Reichstag dem Ermächtigungsgesetz der Nazis zugestimmt hatte. Im Telegramm des sowjetischen Repräsentanten zur Gründung der DDR stand ein Gedanke, der mich stark geprägt und historischen Bestand hat – bis heute: “Die Gründung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik“, heißt es dort, “ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas“ Und weiter: “Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Existenz eines friedliebenden demokratischen Deutschland neben dem Bestehen der friedliebenden Sowjetunion die Möglichkeit neuer Kriege in Europa ausschließt, dem Blutvergießen in Europa ein Ende macht und die Knechtung der europäischen Länder durch die Weltimperialisten unmöglich macht“. Wie damals formuliert wurde, genauso ist es gekommen. Solange die UdSSR und an ihrer Seite die DDR bestanden, gab es in Europa keinen Krieg. Das Verschwinden beider Staaten aus der Geschichte ist wiederum ein europäischer Wendepunkt. Kriege in Europa wie der gegen Jugoslawien wurden nach 1990 leider wieder möglich. Sogar mit deutscher Beteiligung. Das wäre zur Zeit der Existenz der Sowjetunion undenkbar gewesen.

Haben Sie noch persönliche Erinnerungen an das Kriegsende?

Als ein Sowjetsoldat am 30. April 1945 das rote Siegesbanner auf dem Deutschen Reichstag in Berlin gehisst hatte, war ich noch zu jung, um die politischen Zusammenhänge der Zeit verstehen zu können. Alt genug aber, um zu begreifen, wie gut, dass der Krieg zu Ende war. Mein späteres freundschaftliches Verhältnis zu sowjetischen Menschen beginnt unbewusst in den ersten Nachkriegsjahren. Ich lernte sowjetische Soldaten kennen, die anders waren als jene “barbarischen Untermenschen“, von denen die Nazipropaganda berichtet hatte. Einer von ihnen war unweit unserer Wohnung einquartiert. Offizier war er und Dolmetscher der Militärkommandantur. Jeden Abend, wenn er in sein Quartier zurückkam, brachte er mir etwas Essbares mit. Mal war es ein tiefschwarzes und feuchtes Soldatenbrot, mal etwas Würfelzucker und gelegentlich auch in Zeitungspapier eingewickelter Speck. Mittags schickte er mich zur Gulaschkanone der sowjetischen Einheit, die in meiner Heimatstadt stationiert war. Dort erhielt ich ein Kochgeschirr voller Kascha oder auch Kohlsuppe. Russische Worte für Brot, Zucker, Speck, Kohlsuppe und Grütze habe ich damals gelernt und nie wieder vergessen. An manchen Abenden saß der Offizier auf den steinigen Stufen vor dem Haus und drehte sich aus Zeitungspapier und Tabak eine Zigarette. Einmal summte er eine Melodie so vor sich hin, die ich noch nie gehört hatte. “Sing mit“, forderte er mich auf. “Das kann ich nicht“, antwortete ich. Er rief, als müsste ich mich dafür schämen: “Das ist doch das ‚Heidenröslein’ von Goethe!“ “Heidenröslein“ und “Goethe“, diese Worte hörte ich das erste Mal. Nicht von einem deutschen Lehrer, von einem Russen in sowjetischer Uniform, der den Krieg und die Verbrechen der Deutschen in seinem Heimatland am eigenen Leib erlebt hatte. Solche Emotionen leben in mir weiter und spornen mich an, auch durch Bücher und andere Aktivitäten die Wahrheit über die Befreiungstat der Sowjetarmee zu verteidigen.

Eine Resolution des Europaparlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft stellt solche Akzente aber in Frage.

Kurios, eine Gruppe von antikommunistisch eingestellten Politikern fällt ein politisches Urteil über die Geschichte des 20.Jahrhunderts. Nicht etwa darüber, wie sie tatsächlich verlaufen ist, sondern wie sie sich Antikommunisten ausmalen. Nicht Fakten zählen, sondern Verdächtigungen. Geschichte wird als Waffe des Antikommunismus missbraucht, um beispielsweise den Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu verfälschen, die Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus zu negieren, um faschistische Verbrechen zu relativieren und Täter und Opfer auf eine Stufe zu stellen. Totalitärer geht es wirklich nicht. Nach dieser Geschichtsdeutung gilt nicht mehr das faschistische Deutschland als Alleinschuldiger des Zweiten Weltkrieges, sondern, wie es wörtlich heißt, “die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich“. So etwas nenne ich geistige Brandstiftung. Für die Zeitgeschichte fällt positiv ins Gewicht, dass Präsident Putin in einem Grundsatzartikel das Verdrehen von historischen Tatsachen anhand von Dokumenten entlarvt hat.

Wie erklären Sie sich die Geschichtsfälschungen?

Eigentlich geht es nicht nur um Geschichte, sondern um die Gegenwart. Die Botschaft lautet: Nie wieder eine Alternative zum Kapitalismus! Der Hass auf links ist stärker als die Einsicht zur Kooperation gegen Gefahren des Faschismus. Schauen Sie auf die Konjunktur, die solche Wortpaare haben wie “Sozialismus und Faschismus sind Zwillinge“, “Hitler und Stalin Brüder im Geiste“, “die DDR und das Dritte Reich gleichrangige Diktaturen“, dann wird doch klar, dass damit der Faschismus verharmlost wird. Geschichtsfälscher haben sich offensichtlich auf den irrigen Begriff “Nationalsozialismus“ statt auf die historisch korrekte Bezeichnung “deutscher Faschismus“ geeinigt. Der “Nationalsozialismus“ war weder “national“ noch war er “sozialistisch“. Er war einmalig verbrecherisch. Das “vergessen“ die selbsternannten Historiker des Europaparlaments bei ihren skandalösen Vergleichen.

Das letzte Wort auf dem Klappentext des Buchs lautet “Verrat“. In Ihrem Buch zitieren Sie den ehemaligen sowjetischen Botschafter in der BRD Walentin Falin, der sagte, dass die “Wiedervereinigung“ Deutschlands “eine Variante des Münchener Abkommens“ war: “…wir haben über den Kopf der DDR hinweg alles ausgehandelt, wir haben dieses Land verraten“.

Bevor ich über “Verrat“ spreche, möchte ich vor allem die jahrzehntelange Freundschaft zwischen der UdSSR und der DDR hervorheben. Die DDR-Deutschen und die Russen, die Belorussen, die Ukrainer, die Balten, die Kasachen und die anderen über hundert Nationen des Vielvölkerstaates Sowjetunion hatten ein neues Verhältnis zueinander gefunden, das frei war von Hass und Zwietracht. Nichts kann mir diese grundlegende Überzeugung nehmen. Ich verwechsele nicht einzelne Politiker mit dem kollektiven Wollen der Völker der Sowjetunion. Die sowjetische Besatzungszone und später die DDR hatten beispielsweise das Glück, dass an der Spitze der auf ihrem Territorium stationierten sowjetischen Armee-Einheiten nicht nur hervorragende Militärs standen, sondern Internationalisten, die ein feinfühliges Verständnis für die Probleme der Deutschen hatten. Sie gehören in das Ehrenbuch der Geschichte. Es waren die bekanntesten Heerführer der sowjetischen Armee, Marschälle wie Shukow, Sokolowski, Tschuikow, Gretschko, Sacharow, Jakubowski, Konjew, Koschewoi, Kulikow und Kurkotkin sowie die Armeegeneräle Iwanowski, Saizew, Lushew und Snetkow. Ich erinnere in meinem Buch an sie, weil wir Deutschen ihnen viel zu danken haben. Anders als Gorbatschow und seine Gefährten hatten sie im Großen Vaterländischen Krieg ihr Leben nicht nur für die eigene Heimat, sondern auch für ein antifaschistisches Deutschland eingesetzt und dafür den Weg von den Schlachten bei Moskau, Stalingrad oder Leningrad nach Berlin zurückgelegt. Die DDR war ein Stück ihres Lebens. Deshalb waren die im Herbst 1989 noch aktiven Armeegeneräle Lushew und Snetkow, mit denen ich befreundet war, auch nicht bereit, Gorbatschows Politik der Aufgabe der DDR zu unterstützen.

Und weshalb zitieren Sie dennoch Falin über “Verrat“?

Zunächst: Ich teile die Meinung von Präsident Putin, dass der Untergang der UdSSR die größte globalpolitische Katastrophe am Ende des vergangenen Jahrhunderts war. Damit im Zusammenhang steht, dass die Sowjetunion nicht nur an der Wiege der DDR stand, sondern auch an ihrem Totenbett. Die DDR war ohne Sowjetunion nicht lebensfähig. Wie die letzte sowjetische Führung das 1989/90 ausnutzte, hat Insider Walentin Falin bisher am klarsten formuliert. Valentin Falin arbeitete damals in unmittelbarer Nähe von Gorbatschow und verfügt somit über die beste Sachkenntnis. Gleichzeitig denke ich: Verrat gibt es ja nicht nur aus Berechnung. Es gibt ihn auch aus Eitelkeit, aus Missgunst, Unwissen, aus Schwäche, Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung, Eigenliebe und manch anderem. Doch objektiv bleibt es Verrat. Die Zerschlagung der Sowjetunion und mit ihr des europäischen Teils des sozialistischen Weltsystems beeinflusste Millionen und Abermillionen Schicksale auf äußerst negative Weise. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Wort von Friedrich Engels verweisen. In seiner Schrift “Revolution und Konterrevolution in Deutschland” heißt es: “Wenn man nach den Ursachen der Erfolge der Konterrevolution forscht, so erhält man von allen Seiten die bequeme Antwort, Herr X oder Bürger Y habe das Volk verraten. Diese Antwort mag zutreffen oder auch nicht […], aber unter keinen Umständen erklärt sie auch nur das Geringste, […] wie es kam, dass das Volk sich verraten ließ.” Daraus ziehe ich den Schluss: Wir können und dürfen uns nicht nur auf den Verrat eines Einzelnen zurückziehen. Für den Untergang der DDR gibt es nicht nur äußere Ursachen. Es ist ein Ensemble von innen- und außenpolitischen, ideologischen und moralischen, ökonomischen und ökologischen, strukturellen und aktuellen Gründen. Dazu gehört auch, dass das Vertrauensverhältnis zwischen dem Volk und der Führung der DDR gestört war. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, dass wir Lenins Ratschlag missachtet haben, dass letztendlich die Höhe der Arbeitsproduktivität über den Sieg des Sozialismus entscheidet. Eine umfassende internationale marxistische Analyse der Ursachen der weltpolitischen Vorgänge von 1989 bis 1991 liegt leider auch dreißig Jahre später meines Wissens noch nicht vor.

Wie schätzen Sie Gorbatschow als Politiker und als Person ein?

Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, Gorbatschow “einzuschätzen“. Das obliegt in erster Linie den Menschen, die in dem Land gelebt haben, für das er Verantwortung trug. Ich gehörte sehr lange zu den DDR-Politikern, die Gorbatschow vertrauten. Das hing vor allem damit zusammen, dass in unserem Verständnis die KPdSU die erfahrenste Kommunistische Partei der Welt war, die nicht zulassen würde, dass Renegaten an die Führung kämen. Gorbatschow passte sich aber schnell dem machtpolitisch Opportunen an. An die Stelle marxistisch-leninistischer Dialektik setzte er ein imaginäres “Neues Denken”, obwohl die NATO zu keinem Zeitpunkt bereit war, in den Kategorien der Entspannung neu zu denken. Diffuse “allgemein-menschliche Werte” bekamen einen höheren Stellenwert als die Werte und Ideale des Sozialismus. Er umgab sich mit Leuten wie Alexander N. Jakowlew und Eduard A. Schewardnadse, die alles andere als geradlinige Mitstreiter waren. Er vertraute den Schmeicheleien westlicher Politiker mehr als seinen eigenen Genossen. So verlor sich rasch der Geist des Aufbruchs in Richtung sozialistischer Umgestaltung, den auch viele in der DDR an Gorbatschow schätzten und weshalb sie in ihm einst einen Hoffnungsträger sahen.

Fühlten Sie sich hintergangen durch das diplomatische Spiel von Gorbatschow in den Jahren der “Wiedervereinigung“?

Am besten, ich berichte von meinem vierstündigen Treffen mit Gorbatschow am 1. November 1989 in Moskau. Ich fragte ihn: “Welchen Platz räumt die Sowjetunion beiden deutschen Staaten im gesamteuropäischen Haus ein?” “Die DDR“, so ergänzte ich, sei ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges, also auch ein Kind der Sowjetunion. Es sei für die DDR wichtig zu wissen, ob die Sowjetunion weiter zu ihrer Vaterschaft stehe?” Gorbatschow antwortete: “Nach den Völkern der Sowjetunion ist uns das Volk der DDR das liebste.” Daraus zog er die Schlussfolgerung: “Die Einheit Deutschlands steht nicht auf der Tagesordnung. Darüber hat sich die Sowjetunion mit ihren früheren Partnern aus der Zeit der Antihitlerkoalition geeinigt. Genosse Krenz, übermittle dies bitte den Genossen des SED-Politbüros.” Dann legte er  nach: “Es ist an der Zeit, auf Kanzler Kohl stärkeren Druck auszuüben. Er hat auf das Pferd des Nationalismus gesetzt. Ihm darf die DDR nicht vertrauen“. Es mag von mir naiv gewesen sein, aber ich habe Gorbatschow geglaubt und in diesem Sinne meine Arbeit organisiert. Zur gleichen Zeit, als mir Gorbatschow mitgeteilt hatte, mit der Sowjetunion werde es keine deutsche Einheit geben, waren seine Beauftragten aber schon im Bundeskanzleramt in Bonn und haben sich hinter unserem Rücken erkundigt, was der Bundesrepublik die deutsche Einheit wert sei. Ende 1994 entdeckte ich in einer Berliner Buchhandlung Gorbatschows erstes nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik in deutscher Sprache veröffentlichtes Buch mit Protokollen seiner Spitzengespräche. Ich blätterte neugierig darin. Unser Gespräch vom 1. November 1989 fehlte. Warum? Das war für mich so schwer nicht zu erklären. Inzwischen hatte er neue Freunde. Es waren jene, die er mir gegenüber noch 1989 als “Nationalisten” verdammt hatte und vor denen ich mich in Acht nehmen sollte. Urteilen Sie selbst, wie Sie dieses Verhalten bezeichnen würden.

Warum hat Gorbatschows Politbüro die DDR so billig abgetreten und nicht verhindert, dass seine politischen Weggefährten vor Gericht gestellt wurden (für Honecker und Mielke war die Haft in Moabit bereits die zweite in ihrem Leben? Die ersten war in der Nazizeit).

Das müssten Sie Gorbatschow selbst fragen. Einen kleinen Einblick in sein tatsächliches Denken über die DDR hinter unserem Rücken erhielt ich erst 2006 als seine Mitarbeiter Anatolij Tschernjajew, Wadim Medwedew und Georgi Schachnasarow “Protokolle des KPdSU – Politbüros“ veröffentlichten. Ich kannte alle drei und hielt sie seinerzeit sogar für meine Genossen. Doch was sie, wie ich nun las, damals intern über die DDR verbreiteten, enttäuschte mich zutiefst. Kurz gesagt: Für Gorbatschows Mitarbeiter schien die DDR ein reines Schacherobjekt gewesen zu sein, ein Gegenstand, den man für Deals mit den USA und mit der BRD einsetzte. Als ich das gelesen hatte, musste ich mich an ein Gespräch mit Eduard Schewardnadse Anfang der neunziger Jahre erinnern, als er schon georgischer Präsident war. Erich Honecker hatte 1986 durch unsere Aufklärung aus dem Weißen Haus in den USA erfahren, dass die Sowjetunion angeblich schon damals bereit gewesen wäre, die DDR aufzugeben. Ich fragte Schewardnadse: Ist da etwas dran? Seine Antwort war ausweichend: Um die Sowjetunion zu erhalten, so der ehemalige sowjetische Außenminister, habe man “allen Ballast abwerfen müssen.“ Wir, die DDR, sollen nach dieser Version keine Brüder gewesen sein, sondern “Ballast“. Nicht der treueste und  wohl auch ehrlichste Bündnispartner der Sowjetunion, sondern eine Bürde, der man sich entledigen wollte. Dass Präsident Jelzin später Erich Honecker an den politischen Gegner Kohl auslieferte, damit der ihn vor Gericht stellen konnte, auch dafür, dass Honecker ein treuer Bündnispartner der UdSSR war, gehört in dieses nicht ruhmvolle Kapitel.

1997 sind Sie selbst der politischen Justiz in der BRD zum Opfer gefallen und zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wozu diese politische Abrechnung?

Mein Schicksal war eines unter vielen. Nachdem Moskau der Vereinigung zugestimmt hatte, leitete die bundesdeutsche Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen mehr als 100 000 Hoheitsträger der DDR ein. Begründet hat das der damalige bundesdeutsche Justizminister Kinkel mit den Worten: ” Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat …” Die bundesdeutsche Justiz hat den politischen Auftrag ihrer Regierung dienstbeflissen erfüllt. Der Sache nach stand damit auch die sowjetische Deutschlandpolitik seit 1945 vor bundesdeutschen Gerichten. Das völkerrechtswidrige Vorgehen der Bundesregierung und ihrer Justiz hat dazu geführt, dass es einen kompletten Austausch der DDR-Eliten gegeben hat. Nicht nur bei den Staats- und Parteifunktionären, sondern auch im Bereich der Wissenschaft, der Diplomatie, der Medizin, der Kultur, des Sports, quasi aller gesellschaftlichen Bereiche. Nach vorliegenden Untersuchungen wechselten die Nazis 1933 elf Prozent der Eliten der Weimarer Republik aus. In Westdeutschland wurden 1945 nach dem Krieg lediglich dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue bundesdeutsche Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten ins berufliche und damit oft auch ins soziale Aus. Obwohl Ostdeutschland ça. 20% der Bevölkerung der Bundesrepublik stellt, sind nur etwas mehr als 5% der Ostdeutschen in Führungspositionen von Politik, Justiz, Armee, Medien, Kultur und Vorständen von Unternehmen. Dass ein ehemaliger Bundespräsident und die Bundeskanzlerin aus dem Osten kommen, hängt nicht mit deren DDR-Biografien zusammen. Vielmehr wurden sie gewählt, nachdem sich westdeutsche Kandidaten für diese Funktionen politisch-moralisch verbraucht hatten. Ex-Präsident Gauck hat zudem öffentlich bekannt, im Kopf “total westlich“ zu sein. –

In den BRD-Medien wird die DDR als “Spitzel-Staat“ dargestellt, in dem die Stasi alle abgehört hat. Es gibt sogar pathetische Filme wie “Das Leben der Anderen“, wo die Stasi, um eine Wohnung abzuhören, einen ganzen Dachboden zum Abhörlabor ausbaut. In der BRD, wenn man deren Medien glaubt, wurde niemand bespitzelt… Eine Lüge der BRD-Propaganda?

Zunächst : Je weiter wir uns zeitlich vom Ende der DDR entfernen, um so boshafter werden die offiziellen Demütigungen. Was hängt man der DDR nicht alles an? “Russenknechte“ waren wir, ” Kremlagenten ” auch ” Mörder ” – kein Schimpfwort ist zu gemein, um nicht gegen die DDR gebraucht zu werden. Alles Ungemach des Kalten Krieges, der von beiden Seiten geführt worden war, wird allein der DDR in die Schuhe geschoben. Am häufigsten nennt man die DDR einen ” Unrechtsstaat “. Dazu werden Filme gedreht, Medien missbraucht, Romane veröffentlicht, kurz: Die bürgerliche Gesellschaft kriminalisiert den ersten Versuch, auf deutschem Boden den Sozialismus aufzubauen. Tatsächlich war die DDR der deutsche Staat, der nie einen Krieg geführt hat. Kein DDR-Soldat hat je seinen Fuß zu Kampfeinsätzen auf fremdes Territorium gesetzt. Allein das rechtfertigt, sich der DDR mit größtem Respekt zu erinnern. Einzigartig an der DDR war vor allem: Ein Drittel Deutschlands war über 40 Jahre dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen. Das ist aus der Sicht unserer politischen Gegner die eigentliche Sünde der DDR, die niemals vergeben wird. In diesem Zusammenhang werden die ehemaligen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit zu Unholden erklärt und erhalten eine geringere Rente als ihnen zustände. Trotz größter Anstrengungen ist es der Strafjustiz jedoch nicht gelungen, auch nur einen einzigen Fall von Folter, radioaktiver Bestrahlung, Verabreichung von Psychopharmaka, Elektroschocks oder dergleichen, worüber die Medien viel Grausiges berichtet hatten, nachzuweisen. Solange die Akten der westdeutschen Geheimdienste nicht genau so offen liegen wie die des Ministeriums für Staatssicherheit, wird es keine gerechte Bewertung der deutschen Geheimdienste geben.

Man behauptet auch, die DDR sei Pleite gewesen. Was sagen Sie dazu ?

Es geht vor allem um das offenbar tief verwurzelte antikapitalistische Potential, das im Osten Deutschlands immer noch lebendig ist. Indem man behauptet, die DDR sei bankrott gewesen, kann man verdecken, dass sich der wirkliche Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD ereignete. Dazu ein Vergleich : Nach dem 1. Weltkrieg wurde gegenüber dem Vorkriegstand von 1913 noch 57% produziert. Nach dem 2. Weltkrieg 1946 im Verhältnis zum Vorkriegstand von 1938 immerhin noch 42%, 1992 auf dem Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums gegenüber dem vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent. Das Volkseigentum der DDR wurde verscherbelt. 85% davon erhielten Eigentümer aus dem Westen, 10% gingen ins Ausland und knappe 5 % blieben im Osten. Die Bundesrepublik übernahm von der DDR etwa 8.000 Betriebe, 20 Milliarden Quadratmeter Agrarflache, 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, Forsten, Seen, 40.000 Geschäfte und Gaststätten, 615 Polikliniken, 340 Betriebsambulatorien, 5.500 Gemeindeschwesternstationen, Hotels, Ferienheime, das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, Patente, Kulturgüter, geistiges Eigentum und manches mehr. Die DDR hinterließ der Bundesrepublik keine Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM – wie behauptet wird, sondern ein Volksvermögen von 1,74 Billionen Mark an Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich – ohne den Wert des Bodens und den Besitz von Immobilien im Ausland.

Warum ist die rassistische und nationalistische Partei AfD bei den Bundestagswahlen 2017 ausgerechnet in der ehemaligen DDR auf 21,6% gekommen und hat in den Umfragen 2019 dort teilweise an erster Stelle gestanden?

Die AfD ist kein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Problem. Die geistigen Anführer im Osten kommen fast alle aus den westdeutschen Bundesländern. Nicht jeder Ostdeutsche, der die AfD wählt, ist auch ein Anhänger der AfD. Ihre Stärke ergibt sich aus dem Versagen der etablierten Parteien. Nicht wenige Ostdeutsche sagen aus Enttäuschung über die Einheit: “Integriert doch erst mal uns!” Daraus spricht, dass sie sich immer noch als “Fremde im eigenen Land” sehen. Diese Menschen global in die “rechte Ecke” zu stellen oder ihnen AfD Sympathie zu unterstellen, ist falsch. Ich kenne eine Menge Leute, die mir sagen, dass sie aus Protest gegen die aktuelle Politik AfD wählen, obwohl sie gar nicht wissen, was die AfD wirklich will. Denen rate ich: Keine Kränkung kann rechtfertigen, Nazis und Neonazis zu wählen. Die Kraft, das Geld und die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren – eine ganze “Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt – wären sinnvoller angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass. Nazis, Neonazis und die geistigen Brandstifter in der AfD sind eine Gefahr für Deutschland – nicht aber das Erbe der DDR. In der DDR-Verfassung hieß es übrigens: “Militärische und revanchistische Propaganda in jeder Form von Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet.” Die offizielle Politik in Deutschland lässt die AfD auf den Straßen gewähren bis hin, dass sie Polizeigewalt gegen demokratische Gegenwähr von Antifaschisten und linker Kräfte zulässt.

Empfinden Ostdeutsche – nach 30 Jahren Anschluss an die BRD – noch etwas für Russland? Ist der deutsch-russische Kulturaustausch, den es zu DDR-Zeiten gab, völlig in Vergessenheit geraten?

Es gibt ein wunderbares Komsomollied “Дружба – Freundschaft“ mit der inhaltsreichen Aussage: “Всегда мы вместе, всегда мы вместе, ГДР и Советский Союз!” Die Geschichte hat anders entscheiden. Es gibt keine Sowjetunion und es gibt keine DDR mehr. Aber die Werte wie Freundschaft, Solidarität, gegenseitige Achtung und menschliche Nähe, die die Bürger beider Staaten verband, sind nicht veraltet. In offiziellen Umfragen wird sichtbar, dass im Osten Deutschlands mehr “Russlandversteher” leben als im Westen. Als “Russlandversteher“ bezeichnen hiesige Medien vor allem jene Menschen, die die offizielle Politik der Bundesrepublik gegenüber der Russischen Föderation kritisieren. Dass es davon in Ostdeutschland mehr gibt als im Westen, zähle ich zum positiven DDR-Erbe. Wenn auch in Medien das Gegenteil behauptet und das Formale der Begegnungen von Ostdeutschen und Russen herausgestellt wird, bleibt in meiner Erinnerung, dass der Gedanke der deutsch-sowjetischen Freundschaft bei nicht wenigen Ostdeutschen tief wurzelt. Der Begriff “Sowjetmensch” war nicht selten identisch mit dem Wort “Freund”. Und die DDR war in den Augen vieler Russen das andere, das neue, das antifaschistische Deutschland.

Fühlen Sie sich nach all den Jahren Russland gegenüber verbunden?

Auf alle Fälle. Wenn ich heute nach Moskau komme, treffe ich meine Freunde aus Jugendzeiten, darunter auch meine früheren Partner, die wie ich in der DDR in ihrer Heimat 1. Sekretäre des Jugendverbandes Komsomol waren: Jewgenij Tjaschelnikow, Boris Pastuchow und Viktor Mischin.Gern erinnere ich mich der breiten Solidarität aus Russland. Mein Freund J. M. Tjaschelnikow hatte im ganzen Land eine beachtenswerte Solidarität mit den in Deutschland verfolgten Hoheitsträgern der DDR organisiert, die mir viel Kraft gab. Meine Genossen aus der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (КПРФ) hatten mich 2017 zu den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eingeladen. Das war in meinem Leben nach dem Untergang der DDR ein Höhepunkt. Mit Interesse und persönlichen Gewinn habe ich kürzlich den Aufsatz von Genossen Sjuganow “Über die Weltbedeutung der russischen Frage“ gelesen. Ich freue mich über jeden Fortschritt in Russland und ärgere mich über die antirussische Propaganda und die Diffamierung des russischen Präsidenten durch deutsche Medien.

Wie schätzen Sie die aktuelle Russland-Politik der Bundesregierung ein?

Mich beunruhigt, dass es bei deutschen Spitzenpolitikern und bei der NATO kein ernsthaftes Nachdenken über Russland und seine Menschen gibt. Die NATO verschärft ihren Kurs. Sie bestraft, sie sanktioniert, sie diffamiert Russland. Es heißt, Russland sei für Deutschland kein Partner mehr, weil es angeblich die europäische Friedensordnung in Frage stelle. Was ist Russland dann, wenn es kein Partner ist? Ein Feind? Das wäre wirklich der Gipfel der Tatsachenverdrehung. Was wäre wohl aus Europa und der Welt geworden, wenn die Sowjetunion dem deutschen Faschismus damals nicht den entscheidenden Schlag versetzt hätte? Die Welt von heute ist ohne Sowjetunion weder gerechter noch friedlicher geworden. Heute geht es um alles – um Sein oder Nichtsein, Krieg oder Frieden. Die Mauer in Berlin ist weg. Sie wurde nach Osten verschoben, besteht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen NATO und Russland. Sie ist dort, wo sie im Prinzip an jenem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Das ist nun wahrlich nicht die Wende, die 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde. Das sollte Politiker aller Parteien nachdenklich stimmen. Dreißig Jahre nach der staatlichen Einheit sollte es endlich heißen: Ohne Russland kann es keine europäische Friedensordnung geben. Aus der deutschen Politik muss die Russophobie verbannt werden. Deutsche Politiker müssen gegenüber Russland einen anderen Ton anschlagen, der Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht aber “Sanktionen“ und “Bestrafungen“ fördert. Von Russland geht keine Gefahr aus.

Finden Sie es nicht auffällig, dass die sog. “friedlichen Revolutionen“ in Osteuropa seit November 1989 immer nach dem gleichen Szenario aufgesetzt werden? War die DDR hier nicht ein Testlabor der westlichen Geheimdienste? Die Vermutung stünde nahe, auch mit einem aktuellen Blick auf Belorussland…

Durchaus. Im Januar 1989 erfuhren wir aus einem Geheimpapier aus dem Weißen Haus, dass Vernon A. Walters, ein persönlicher Freund von Präsident Bush aus CIA-Zeiten, neuer US-Botschafter in Bonn werden sollte. Walters war der Mann fürs Grobe. Keine Schurkerei der CIA der letzten Jahrzehnte außerhalb der US-amerikanischen Grenzen ohne sein Zutun. Wo gegen souveräne Regierungen geputscht wurde, die den USA nicht passten, war der CIA-Mann dabei. Bush soll seinem Getreuen den Botschafterposten in Bonn mit den Worten schmackhaft gemacht haben : “In Deutschland geht es ums Ganze!” Das war Teil eines Masterplans der neuen US-Administration. Bush hatte die Parole herausgegeben, die Sowjetunion, “in die Wertegemeinschaft des Westens ” zu holen. Er proklamierte die Überwindung der Spaltung Europas durch die Überwindung des Sozialismus. Dieser Plan wurde auf dem NATO- Gipfel in Brüssel Ende Mai 1989 erörtert. Die deutsche Einheit war nicht ihr Hauptziel. Sie war nur eine Zwischenstation auf dem Wege, der ganzen Welt die NATO- und EU- Werte zu diktieren. Das hat sich im Prinzip nicht geändert. Das Ziel ist klar definiert : Minsk ist nur eine Etappe. Das Ziel ist Moskau. Bis dorthin sind es nicht einmal 500 km. Der Ring der NATO um die Russische Föderation soll geschlossen werden, ein Bündnis der Staaten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer soll einen Cordon sanitaire gegen Russland bilden. In Anlehnung an ein Wort aus dem Kommunistischen Manifest trifft wohl auf die Gegenwart zu : ” Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd … ” gegen ein Gespenst verbündet. Dieses “Gespenst“ heißt wieder einmal Russland. ” An allem ist der Russe Schuld “, dieses Feindbild kenne ich noch aus Kindheitserinnerungen.Und weil die Russische Föderation sich dagegen wehrt, wird sie dämonisiert. Das Spiel mit Provokationen hat seine Geschichte. Um diesen globalpolitischen Aspekt der aktuellen bellorussischen Situation zu meistern, ist von Bedeutung, dass die Führung in Minsk gemeinsam mit der Mehrheit des Volkes nach Wegen sucht, innenpolitische Fehlentwicklungen zu vermeiden. Das ist der beste Weg, um die selbsternannten ” bunten Revolutionäre ” zu stoppen.

Erschien in in Russisch in der Prawda am 22./23. September 2020