Kalter Krieg – Eine frühere Agentin des DDR-Spionagedienstes erzählt ihre Geschichte als Sekretärin hochrangiger Politiker in Westdeutschland

Günter Ebert,  Die Topagentin - Johanna Olbrich alias Sonja Lüneburg, ISBN 978-3-360-01849-6

Günter Ebert,
Die Topagentin – Johanna Olbrich alias Sonja Lüneburg,
ISBN 978-3-360-01849-6

Eine Rezension in der “NZZ am Sonntag” vom 29. September 2003  (Siehe Originaltext in Literaturbeilage der NZZ – Seite 23)

Doppelleben für die Stasi

Günter Ebert (Hrsg.): “Die Topagentin.” Johanna Olbrich alias Sonja Lüneburg.

Edition Ost, Berlin 2013. 254Seiten,

Von: Urs Rauber

Für den ostdeutschen Spionagechef Markus Wolf war die Frau «auf dem Weg, eine Spitzenquelle für unseren Dienst zu werden». Noch in seinen Erinnerungen von 1997 schrieb er über Johanna Olbrich (1926 bis 2004) – ohne ihren Tarnnamen «Sonja Lüneburg» zu nennen, unter dem sie in der Bundesrepublik zwei Jahrzehnte unentdeckt als Sekretärin verschiedener hoher Politiker gearbeitet hatte. Am Ende war «Lüneburg» elf Jahre lang Mitarbeiterin von FDP Generalsekretär Martin Bangemann, später Wirtschaftsminister im Kabinett Kohl, gewesen. Die in Ostdeutschland geborene Johanna Olbrich war eine initiative, selbstbewusste Frau, die seit ihrer Jugend gerne gesellschaftliche Verantwortung übernahm. Voller Idealismus trat die Junglehrerin mit 20 in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein, um beim Aufbau einer gerechteren Gesellschaft mitzuhelfen. Sie sei ein eher kritisches Parteimitglied gewesen, das hohle Rituale ablehnte. Etwas verwundert und neugierig sagte sie zu, als die Staatssicherheit (Stasi) sie 1965 fragte, ob sie bereit sei, klandestin in den Westen zu gehen, «um für die DDR zu arbeiten». Olbrich war damals 39 und alleinstehend, aber keineswegs «ohne Männer». Es reizte sie, etwas Ungewöhnliches für ihren Staat zu tun. Über die spezielle Herausforderung, mit zwei Identitäten zu leben, war sie sich überhaupt nicht im Klaren. «Ich war entsetzlich blauäugig», schreibt sie in ihren postum herausgegebenen Erinnerungen. Dennoch lernte Johanna Olbrich rasch das konspirative Handwerk: mit gefälschten Papieren leben, Personen observieren, tote Briefkästen bedienen.

Im Unterschied zur gängigen Bekenntnisliteratur von Ex-Geheimdienstlern ist Olbrichs Lebensbericht frei von Pathos, Eigenstilisierung und Beschönigung, wenn auch der Wille zur Rechtfertigung deutlich hervortritt. Schnörkellos beschreibt die Autorin ihr zweites Leben, das sie auch gegenüber ihrer eigenen Familie in der DDR geheim halten musste – offiziell war sie in einer DDR-Botschaft im Fernen Osten angestellt und durfte keinen Besuch empfangen. Finanziell brachte ihr die Spionagetätigkeit wenig ein, sie schildert im Gegenteil, wie pedantisch die Stasi-Buchhalter ihre knappen Spesen abrechneten. Olbrich hatte die Identität einer realen Person angenommen, die aus der BRD in die DDR übergesiedelt war, dort krank und von der Stasi hospitalisiert wurde. Die Agentin lernte die echte Sonja Lüneburg nie kennen. Dass sie kurze Zeit gar Sekretärin eines anderen Stasi-Informanten, des FDP-Bundestagsmitglieds William Borm, wurde, ohne dass die beiden von der geheimen Tätigkeit des jeweils anderen wussten, gehört zu den raffinierteren Spezialitäten der DDR-Spionage.

Im August 1985 wurde «Sonja Lüneburg »überstürzt in die DDR zurückbeordert, weil sie in den Ferien in Rom ihre Tasche mit Ausweisen liegen gelassen hatte und um ihre Aufdeckung fürchtete. Sie lebte fortan wieder ihr «erstes» Leben als Rentnerin in der DDR. Entdeckt wurde Johanna Olbrich erst nach dem Mauerfall im Juni 1991. Sie wurde wegen Nachrichtendienstes zugunsten eines fremden Staates zu 1¾ Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Der Bundesrepublik Deutschland war gemäss dem Gericht «kein messbarer Schaden» entstanden. Martin Bangemann sagte als Zeuge nur Gutes über seine Mitarbeiterin.

Olbrich starb 2004 im Alter von77 Jahren; Markus Wolf hielt die Trauerrede. Olbrich war eine politische Überzeugungstäterin, die an den Sozialismus glaubte und das Ende der DDR zutiefst bedauerte. Das Buch enthält auch eine wehmütige Seite, weil die Frau den autoritären Staat zwar nicht mochte, aber als Übergang in eine freiere, gerechtere Gesellschaft für unvermeidlich hielt. Man mag diesen Idealismus für naiv halten, in seiner Aufrichtigkeit nötigt er dennoch einen gewissen Respekt ab. Störend ist einzig die hymnische Einleitung durch den Herausgeber, einen ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, und dessen kniefällige Haltung gegenüber der DDR. “