Kissingers Vermächtnis

Kriegsverbrecher, Völkerrechtsnihilist, Geheimdiplomat: Der frühere Sicherheitsberater und Außenminister ist eine Schlüsselgestalt zum Verständnis der US-Politik

Von Norman Paech

Norman Paech ist Professor für Verfassungs- und Völkerrecht i. R. der Universität Hamburg.

Henry Kissinger ist 93 Jahre alt, und dies ist kein Nachruf. Dies ist auch keine Sammelrezension der seit Jahrzehnten unablässig anschwellenden biographischen Gesänge auf diesen bedeutendsten politischen Strategen der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, der seinerseits ein Großmeister der Selbstdarstellung ist. Erst jüngst hat der britische Historiker Niall Ferguson auf 1.120 Seiten versucht, zumindest die ersten 45 Jahre dieses »Idealisten« zu verstehen (»Kissinger: Der Idealist, 1923–1968«, Berlin 2016). Sein New Yorker Fachkollege Greg Grandin untersuchte zur gleichen Zeit etwas bescheidener auf 296 Seiten, aber um so giftiger die zweiten 45 Jahre von Kissingers politischer Karriere und spricht von dem »langen Schatten«, den seine Tätigkeit bis in die Administration Obama wirft (»Kissingers langer Schatten. Amerikas umstrittenster Staatsmann und sein Erbe«, München 2016). Inzwischen füllen die Auseinandersetzungen mit der Person und seiner Tätigkeit ganze Regale, hervorgehoben seien hier nur die Arbeiten der Journalisten Seymour Hersh und Christopher Hitchen, »The Price of Power« von 1983 bzw. »Die Akte Kissinger« von 2001. Man fragt sich, ob es da noch etwas Neues gibt und ob die x-te Erkundung des Seelengefüges und der moralischen Untiefen die Lektüre lohnt. Kissinger selbst hat bereits mehr als 4.000 autobiographische Seiten hinterlassen und jüngst mit seinem neuesten Werk »Weltordnung« auf knapp 500 Seiten einen weiteren Blick in seine Archive gewährt. Hier stehen jedoch zwei Erzählungen gegeneinander. So zwingend, makellos und spannend sein Lebenslauf aus eigener Sicht erscheint, so zynisch, skrupellos, opportunistisch, aber ebenfalls spannend stellt er sich in den Dokumenten der offiziellen Archive dar, und die sind noch lange nicht vollständig erschlossen.

Unerklärliche Person

Als der ehemalige Außenminister im Januar 2015 zu einem Hearing vor dem »Armed Services Committee« des US-Senates erschien, wurde er auf dem Kapitol von Demonstranten mit der Forderung nach »Gefängnis für Henry Kissinger wegen Kriegsverbrechen« empfangen. Im Hearing hingegen erhielt er uneingeschränktes Lob für seine »vielen Beiträge zu Frieden und Sicherheit«. Zwischen diesen beiden Polen, »Verbrecher« und »Friedensnobelpreisträger«, pendelt auch die hiesige Diskussion, so z. B. als es um die vom Verteidigungsministerium bezahlte »Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur für internationale Beziehungen und Völkerrechtsordnung« an der Universität Bonn ging, die schließlich in »Henry-Kissinger-Professur für Governance und Sicherheit« umbenannt wurde, da ihr Namensgeber mit dem Völkerrecht nun wirklich gar nichts anfangen kann. In seinem knapp 1.000 Seiten starken Werk über Außenpolitik »Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik« von 1994 wird das Völkerrecht auf keiner Seite erwähnt.

Neue Erkenntnisse über diese »unglaubliche, unerklärliche und unerträgliche Person«, wie die 2006 verstorbene italienische Journalistin Oriana Fallaci einmal schrieb, sind in der Tat rar. Doch ist es wichtig, sich seine ausgedehnten und unermüdlichen Machenschaften sowie seine politische Philosophie zu vergegenwärtigen, um die imperialistische Außenpolitik der USA verstehen zu können – in der Vergangenheit und in der Zukunft. Denn die wohl künftige Präsidentin der USA, Hillary Clinton, bekannte in einer Rezension der »Weltordnung« in der Washington Post, dass »Kissinger ein Freund ist«, auf dessen Rat sie vertraue, der »sich regelmäßig bei mir gemeldet hat, scharfsinnige Beobachtungen über ausländische Politiker mit mir teilte und mir schriftliche Berichte über seine Reisen zuschickte«. Kissingers Vision sei auch ihre: »gerecht und liberal«. Nun gibt es keinen Außenpolitiker in den USA, der sich nicht gerne der Freundschaft Kissingers versichert und sich in ihr sonnt – außer Bernard Sanders. Hillary Clinton (damals noch Rodham) allerdings hatte sich als Jurastudentin an der Yale-Universität an den Protestkundgebungen gegen die von US-Präsident Richard Nixon am 30. April 1970 verkündete Invasion in Kambodscha mit Vietkongflaggen beteiligt und seinerzeit gerufen: »Schluss mit dem weltweiten US-Imperialismus!«

Antikommunist und Nihilist

Damals ahnte niemand, auch Hillary Rodham nicht, dass Kissinger die geheime Bombardierung Kambodschas mit B-52 Bombern bereits im Februar 1969, einen Monat nach der Amtseinführung des Wahlsiegers Nixon, geplant hatte und schon im März 1969 mit ihr begonnen worden war. Mit seinen militärischen Beratern Alexander Haig und Ray Sitton hatte er einen gigantischen Täuschungsapparat aufgebaut, um die »Operation Menu« vor dem Kongress und der Öffentlichkeit geheimzuhalten. Erst 1973 erfuhren diese durch einen Whistleblower von ihr. Alle Dokumente, Karten und Zeugnisse wurden nach jedem Einsatz sofort verbrannt und gefälschte Papiere an Pentagon und Kongress weitergegeben. Die Piloten wurden erst in der Luft von ihren Zielen in Vietnam umgeleitet, um ihre Bomben über Kambodscha abzuwerfen. Ein verdeckter illegaler Krieg gegen ein neutrales Land – ein eindeutiges Kriegsverbrechen, keine 25 Jahre nach den Nürnberger Prozessen. Warum diese Geheimhaltung? Nixon und Kissinger waren eingefleischte Antikommunisten. Beide verfochten eine harte Linie gegen Vietnam, welches sie militärisch bezwingen wollten, fürchteten aber, dass der Kongress die Bombardierung eines neutralen Landes nicht genehmigen würde. Kaum im Amt und einmal an der Macht, war Kissinger bereit, alle moralischen, politischen und rechtlichen Bedenken abzustreifen, den Kongress und die Öffentlichkeit zu belügen, um einer fixen, aber falschen Idee nachzulaufen, dass es nämlich möglich sei, den Vietcong militärisch zu besiegen. Erstaunlich, wie die Verfügbarkeit der Macht einen zivilen Hochschullehrer – noch im Herbst 1968 sollte er in Harvard eine Vorlesung über »Grundsätze internationaler Beziehungen« halten – in einen skrupellosen Kriegsorganisator verwandelt.

Der Vietnamkrieg hatte Kissinger überhaupt erst an die Seite des Republikaners Nixon gebracht, den er verachtete und den er noch im Wahlkampf auf seiten des demokratischen Kandidaten Hubert Humphrey als »paranoid« und als »Hohlkopf« bezeichnet und ihn als »Desaster« bewertet hatte. Doch unmittelbar nach Nixons Sieg diente sich Kissinger dem Republikaner an – mit Berichten von den Pariser Vietnam-Verhandlungen, die zum Teil geheim, zum Teil gefälscht waren. Der ehrgeizige Harvard-Professor wollte unbedingt einen politischen Posten und bekam ihn. Er überzeugte Nixon davon, die Außenpolitik im Weißen Haus zu konzentrieren und das National Security Council (Nationaler Sicherheitsrat, NSC) neu zu organisieren, das er als Leiter mit enormen Befugnissen ausstatten konnte. Das NSC wurde zur strategischen Zentrale der Kriegführung, zum Kommandoturm der US-Außenpolitik. Diese war imperialistisch, kriegsbetont und wurde gegen Außenminister William P. Rogers durchgesetzt, der in der Ausweitung des Krieges auf Kambodscha keinen Sinn sah und sie ablehnte. Es wird Kissinger nicht zu Unrecht vorgeworfen, den Krieg in Vietnam verlängert zu haben. Im Gegensatz zu Robert McNamara, Verteidigungsminister bei John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, der 1968 zurücktrat, weil er schon damals keinen militärischen Ausweg aus dem »Vietnam-Desaster« sah und in seinen politischen Bemühungen um die Beendigung des Krieges von den Hardlinern gestoppt wurde, hat Kissinger nie einen Hauch von Zweifel an der Richtigkeit seines falschen Krieges verspürt. Während McNamara fast dreißig Jahre nach seinem Rücktritt in seinem Buch »In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam« (deutsch: »Vietnam: das Trauma einer Weltmacht«, Hamburg 1996) all die Fehler und das voraussehbare Scheitern des Krieges in Vietnam eingestand, ist Kissinger noch heute davon überzeugt, dass der Krieg mit seinen immensen Opfern auf beiden Seiten langfristig erfolgreich war, denn durch ihn sei die Ausdehnung des Kommunismus gestoppt worden.

Wir kennen die Aussage der ehemaligen Außenministerin Madeleine Albright vom Dezember 1996, dass der Preis von 500.000 verhungerten Kindern infolge der Sanktionen der USA angesichts des Ziels, Saddam Hussein zu beseitigen, es wert sei. Kissinger unterstützte schon im August 2002 einen »Präemptivschlag« gegen Saddam Hussein, obwohl er in der Los Angeles Times (LAT) einräumte: »Die Idee einer gerechtfertigten Präemption widerspricht dem modernen Völkerrecht.« Aber die Neuartigkeit der »terroristischen Bedrohung« mache eine »revolutionäre« Strategie notwendig. Vizepräsident Dick Cheney nahm diese Empfehlung sofort auf und echote noch im gleichen Monat in der Washington Post, Kissinger zitierend, dass es ein zwingendes Gebot zu präemptivem, vorbeugendem Handeln gebe. Kissinger ging es vor allem darum, das Heft selbst in der Hand zu haben, die Aktion zu bestimmen, die Geschichte zu gestalten. Er wollte demonstrieren, »dass eine terroristische Herausforderung oder ein systemischer Angriff auf die internationale Ordnung auch für die Täter und deren Unterstützer verheerende Folgen haben«, wie er in der LAT schrieb. Das eröffnete eine weite Perspektive, bei der das Völkerrecht in den Hintergrund trat. Den damals eingeschlagenen Weg haben die USA bis auf den heutigen Tag nicht verlassen.

Grünes Licht für Völkermord

Kissinger hat die amerikanische Außenpolitik nicht revolutioniert. Er konnte auf einem imperialen Verständnis und einer interventionistischen Praxis der vorangegangenen Administrationen aufbauen. In deren Koordinatensystem bildeten die absolute Dominanz der USA in der Nachkriegswelt und der Kampf gegen die kommunistische Bedrohung die Achse, um die sich jede politische und militärische Initiative drehte. Dabei galt nicht das Dogma, alles selber zu machen. Der Stellvertreterkrieg war eine akzeptierte Variante der Herrschaftssicherung. Daran änderte auch Kissingers »Philosophie der Tat« (Greg Grandin) nichts, wie sein Verhalten im Osttimor-Konflikt beweist.

1965 hatte Generalmajor Suharto Präsident Sukarno in einem blutigen Putsch mit westlicher Unterstützung entmachtet und eine brutale antikommunistische Diktatur errichtet. In einer gnadenlosen Kommunistenjagd, bei der nach unterschiedlichen Quellen zwischen 500.000 und drei Millionen Menschen getötet wurden, konnte Suharto die seinerzeit weltweit drittgrößte kommunistische Partei, die »Partai Komunis Indonesia«, faktisch vernichten. Er nannte sein System »neue Ordnung«. In ihr nahmen in den USA oder von US-amerikanischen Stiftungen in Indonesien ausgebildete Beamte und Wissenschaftler die führenden Positionen ein, öffneten mit neuen Investitionsgesetzen den indonesischen Markt und erleichterten den Zugriff auf die Ressourcen und auf billige Arbeitskräfte. Sukarno hatte 1957 ausländische Großunternehmen enteignen lassen und drei Jahre später eine Bodenreform zu Lasten der Großgrundbesitzer beschlossen, die allerdings nie richtig in Angriff genommen wurde. Damit war unter Suharto nun Schluss. Sie sollte auch im östlichen Teil der Insel Timor nicht zur Anwendung kommen.

Eine Propagandakampagne gegen die »Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit von Timor-Leste« (Fretilin) mit dem Vorwurf, sie sei eine kommunistische Organisation, wurde nicht nur von Jakarta, sondern auch von Washington und von der australischen Regierung in Canberra betrieben. Das Gespenst eines »zweiten Kubas« wurde an die Wand gemalt, und Berichte über Verfolgungen, Verwüstungen und Grausamkeiten durch die »marxistische Fretelin« erschienen in den Medien. Das gab Suharto die Rückendeckung, ab Mitte 1975 Osttimor mit seinen Truppen zu infiltrieren und bis Jahresende zu besetzen.

Im ersten Jahr fielen der Besatzung zwischen 60.000 und 100.000 Timoresen zum Opfer. Die UN-Generalversammlung verabschiedete zwar – mit der Unterstützung der USA – eine Reihe von Resolutionen, die Indonesien zum Rückzug aufforderten, jedoch ohne Erfolg. Ein halbes Jahr später, im Juli 1976, wurde sie als 27. Provinz unter dem Namen Timor Timur der Republik Indonesien einverleibt. Nichts macht den brutalen und menschenverachtenden Charakter der Besatzung deutlicher als die Schätzung von USAID im Jahre 1979, dass etwa 300.000 Osttimoresen entwurzelt, vertrieben und in Lager des indonesischen Militärs zusammengetrieben wurden. Indonesiens Außenminister Mochtar Kusumaatmadja ging im November 1979 davon aus, dass etwa 120.000 Menschen in Osttimor ums Leben kamen. Amnesty International schätzt die Anzahl der Toten in der Folge von Krieg, Hunger oder Krankheit bis 1999 auf 200.000, bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von zirka 1,2 Millionen.

Suharto war sich bei seinem Plan, Es bleibt derOsttimor zu annektieren, anfangs nicht sicher über die Reaktion des Westens. So wartete er den Besuch von US-Präsident Gerald R. Ford und Außenminister Kissinger ab und befahl die Invasion erst einen Tag nach ihrer Abreise. Kissinger – sonst verblüffend detailgenau in seinen Erinnerung über seine Zeit mit Nixon und Ford – hielt dieses Treffen mit Suharto offensichtlich für eher unbedeutend und erwähnte es später nicht mehr. Dass ihm seine damalige Rolle nachträglich peinlich erschien, ist unwahrscheinlich. Seine Memoiren tragen ohnehin nicht den Stempel der Wahrheit. Vergessen hat er das Treffen jedoch nicht. Verschiedentlich hat Kissinger ausdrücklich verneint, mit Suharto substantielle Diskussionen über dessen Pläne auf der Insel gehabt zu haben. Doch 2001 wurden bis dahin geheime Dokumente aus der Gerald R. Ford Presidential Library freigegeben, die eindeutig belegen, dass Suharto für seine Invasion die volle Unterstützung des Weißen Hauses hatte. Kissinger – auch das geht aus den Dokumenten hervor – wies Suharto an, dass es »wichtig« sei, dass, »was immer er auch unternehme, schnell zu geschehen habe«, aber »es besser sei, es nach ihrer Rückkehr in die USA zu machen«. Noch ist die umfangreiche Sammlung der Kissinger-Scowcroft-Akten in der Ford Library nicht zugänglich, genauso wie die Aufzeichnungen des Indonesien-Büros im State Department und des Büros für Ostasiatische Angelegenheiten der 70er Jahre. Sie würden es zweifellos erlauben, den Memoiren Kissingers ein aufschlussreiches Kapitel hinzuzufügen.

Freund der Diktatoren

Anfang Juni 1976 hielt Kissinger auf der Tagung der »Organisation Amerikanischer Staaten« (OAS) in Santiago de Chile eine Rede mit dem Titel »Menschenrechte und die westliche Hemisphäre«. Er begann sie mit den Worten: »Eines der dringlichsten Anliegen unserer Zeit und eines, das abgestimmtes Handeln aller verantwortungsbewussten Völker und Nationen verlangt, ist die Notwendigkeit, die grundlegenden Menschenrechte zu schützen und zu erweitern.« Ein Satz zeitloser Gültigkeit, der jedoch für den Ort, an dem er geäußert wurde, nicht gelten sollte. Kissinger hatte sich schon im Jahr zuvor heftig gegen den Versuch des Kongresses gewährt, Chile wegen der massiven Menschenrechtsverletzungen durch Ermordung, Verschwindenlassen und Folter – das Fußballstadion in Santiago war in ein Konzentrationslager verwandelt worden – mit Sanktionen zu belegen. In einem Gespräch mit dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet vor seiner Rede spielte er auch diese als diplomatische Pflicht herunter, versicherte dem General, dass er »ein Opfer sämtlicher linksgerichteter Gruppen weltweit« sei, und lobte den Sturz der Regierung Allende. Bei gleicher Gelegenheit traf er Admiral César Augusto Guzzetti von der argentinischen Militärjunta und gab ihm den gleichen Rat wie Suharto ein Jahr zuvor: »Wenn es Dinge gibt, die getan werden müssen, dann sollten Sie diese zügig erledigen. Und dann sollten Sie schnell zur Normalität zurückkehren.« In Kissingers politischer Philosophie hatten Stabilität, Vasallentreue und Kampfentschlossenheit gegen den kommunistischen Feind eine weitaus höhere Bedeutung als Demokratie und Menschenrechte, die Favoriten der offiziellen Reden.

Kissingers Sympathie für die Diktaturen der damaligen Zeit in Lateinamerika, für die in Brasilien und in Paraguay, die Unterstützung Washingtons für die Militärputsche in Bolivien und Uruguay sowie in Chile am 11. September 1973 und der darauffolgenden in Peru und Ecuador und schließlich im März 1976 in Argentinien – all das ist durch zahlreiche Dokumente belegt. Kissinger hat immer seine Verantwortung für den Kambodscha-Krieg bestritten, besonders vehement aber seinen Anteil an der Destabilisierung der Allende-Regierung. In der Tat hat das »Geheimdienstkomitee« des US-Senates Kissinger von dem Vorwurf der Planung und Beteiligung an der Ermordung von General René Schneider 1970 in Chile entlastet. Es wird letztlich unter streng strafrechtlichen Kriterien nur wenige belastbare Anklagepunkte für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben – die Bombardierung Kambodschas ist zweifellos einer. Doch die Fragwürdigkeit einer Politik beginnt schon unterhalb der Ebene ihrer Kriminalität. Kissinger und Nixon betrieben Außenpolitik, um ihren Gegnern »das Rückgrat zu brechen«, und sie haben damit »das Vertrauen der Bevölkerung in das amerikanische Establishment« zerstört«, wie sie selbst zugaben (Grandin). Letzteres ist ihnen gründlich und mit nachhaltigem Erfolg gelungen.

Pragmatismus vor Dogmatik

Doch da ist auch ein anderer Teil seines politischen Vermächtnisses. Was das ausmacht, lässt sich an Kissingers scharfer Kritik an der Russland-Politik Barack Obamas und der EU ablesen, denen er Unfähigkeit und Dilettantismus vorwirft. Kissingers Antikommunismus war nie so dogmatisch, dass er nicht die realen Machtverhältnisse, die die Stabilität des internationalen Systems garantierten, anerkannte. Die Annäherungsversuche von Kennedy und Johnson gen Osten hatte er noch abgelehnt. Selbst an der Macht, verbesserte er das Verhältnis zur Sowjetunion und konnte den Abschluss der SALT-Verhandlungen mit der Vertragsunterzeichnung durch Nixon und Leonid Breshnew in Moskau feiern. Kissingers Geheimdiplomatie war es auch zu verdanken, dass Nixon als erster Präsident der Vereinigten Staaten die Volksrepublik China 1972 besuchte und mit Mao Zedong zusammentraf. Die Souveränität dieser beiden Atommächte, mit denen man im UN-Sicherheitsrat zusammensaß, war auch für Kissinger unantastbar, hier war er Realist, man konnte sie nur auf Umwegen bekämpfen, brauchte sie aber für die Justierung der hegemonialen Balance.

Das sind außenpolitische Erfolge, die noch heute in den USA zählen und von der neuen Administration, wer immer sie bilden wird, als das Vermächtnis Kissingers begriffen werden sollten. Gleich ob die Biographen den Begriff des Realisten, Idealisten, Existentialisten oder Spengleristen (er war in der Tat von Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes« fasziniert) für Kissinger heranziehen, er ist auf jeden Fall ein Völkerrechtsnihilist und Militarist, der sich ganz und gar der imperialen Vision der USA verschrieben hat, aber dafür dennoch keinen neuen Weltkrieg wagen würde. Trump hat nach seinen bisherigen Äußerungen eine andere, nichtinterventionistische außenpolitische Agenda. Aber er ist Republikaner, und die sind bisher nicht durch großen Respekt vor der Souveränität anderer Staaten aufgefallen. Clinton ist bekennende »Kissingeristin« und schon in der Obama-Administration mit ihrem scharfen interventionistischen Kurs aufgefallen. Das »schlechte« Vermächtnis Kissingers hat auch Präsident Obama nicht überwinden können. Es hat die außenpolitische Mentalität auch der nachfolgenden Administrationen zu tief geprägt. Nichts spricht dafür, dass Hillary Clinton es als Präsidentin überwinden wollte. Es bleibt nur die Hoffnung, dass sie das »gute« Vermächtnis ihres Freundes fortführt und seine gegenwärtige Kritik ernst nimmt.

Erschienen in der Tageszeitung “junge Welt” vom 15.08.2016