Schlimmer geht’s nimmer

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Seit dem Anschluss der DDR an die BRD sind gerade einmal 27 Jahre und sechs Monate vergangen. So nimmt es nicht Wunder, dass die Aufarbeitung noch im vollen Gange ist. Recht behalten hat der Leiter der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, der bereits 2006 voraussagte, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Und erst unlängst, im Februar des Jahres, hat der Bundesrat beschlossen, einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der Antragsfristen in den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen einzubringen. Damit soll es auch künftig möglich sein, Anträge auf Rehabilitierung zu stellen und zu prüfen, ob Personen einer IM-Tätigkeit nachgegangen sind.

von Ralph Hartmann

Dass die Aufarbeitung schon jetzt blendende Resultate erzielt hat, steht außer Frage. LeMO hat das Hauptergebnis auf den Punkt gebracht: »Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war eine kommunistische Diktatur, die mit Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Ostdeutschen überwachte und unterdrückte.« Doch wer oder was ist LeMO, wird sich wie auch ich so mancher Ossietzky-Leser fragen. Das Deutsche Historische Museum gibt Auskunft: »Das Lebendige Museum Online (LeMO) … ist ein virtuelles Museum. Es bietet wissenschaftlich fundierte Informationen sowie eine große Sammlung an Text- und Bildquellen zur europäischen Geschichte von 1815 bis zur Gegenwart an.« Kooperationspartner sind die Stiftungen Deutsches Historisches Museum und Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie das Bundesarchiv. In ausgewählten Schulen wird LeMO im Unterricht eingesetzt. Kulturstaatsministerin Monika Grütters ließ es sich nicht nehmen, 2014 eine überarbeitete Fassung im Berliner Tränenpalast freizuschalten. LeMO dient der »zielgruppenspezifischen, digitalen Vermittlung von Geschichte« und gewann zahlreiche Medienpreise.

Das Urteil einer solchen Institution über die DDR hat Gewicht. Es verkürzt noch einmal das Spektrum, auf das die Aufarbeitung ansonsten reduziert wird: SED-Diktatur, Mauer, Schießbefehl, Stasi. Bei dieser Verkürzung bleiben leider andere Missstände im untergegangenen Staat unterbelichtet. Roland Jahn will deshalb Licht in das Dunkel bringen, denn er beabsichtigt, sich mehr dem »Alltag in der Diktatur« zuzuwenden. Da eröffnet sich ihm ein reiches Betätigungsfeld, denn die Partei- und Staatsführung ließ sich allerhand einfallen, um den Bürgern einen Sozialstaat vorzugaukeln: Vollbeschäftigung und keine Angst um den Arbeitsplatz; niedrige Mieten und keine Obdachlosigkeit; niedrige Tarife für Strom, Gas, Wärme, Wasser und Abwasser; niedrige, langfristige Pachten für Wochenendgrundstücke und Kleingärten; umfassende Fördermaßnahmen für Frauen und Jugendliche, junge Eheleute und kinderreiche Familien; Medikamentenabgabe und Krankenhausaufenthalte ohne Zuzahlungen, umfassende Betreuung von Schwangeren; ein dichtes Netz von Theatern, Orchestern, Museen, Bibliotheken, Kulturhäusern und Jugendklubs; niedrige Preise bei Büchern, Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Benutzung von Bibliotheken, für Kino-, Theater-, Konzert- und Museumsbesuche; weitgehende Chancengleichheit im Bildungswesen, unentgeltlicher Besuch aller staatlichen Bildungseinrichtungen, Stipendien für alle Studenten unabhängig vom Einkommen der Eltern; unentgeltliche Kinderbetreuung, minimale Preise für Essen und Milch in Kinderkrippen und -gärten sowie für Schulspeisung und Teilnahme an Ferienlagern; ein entwickeltes System der Berufsausbildung ohne Mangel an Ausbildungsplätzen und nahtloser Übergang in den erlernten Beruf; sorgsame gesundheitliche Betreuung der Kinder und Jugendlichen von obligatorischen Schutzimpfungen bis zu wiederkehrenden prophylaktischen Untersuchungen auf allgemeinmedizinischem Gebiet.

Für Jahn und die anderen DDR-Aufarbeiter eröffnet sich also tatsächlich ein breites Feld, das von ihnen in fahrlässiger Weise bisher nicht beackert wurde, um die angebliche soziale Sicherheit unter der SED-Diktatur anzuprangern. Dabei könnten sie auch die Ablenkungsversuche der DDR-Versteher zurückweisen, der Bundesrepublik zu unterstellen, lange Zeit an Relikten aus der Wilhelminischen Kaiserzeit festgehalten zu haben. Mit Vorliebe verweisen sie dabei darauf, dass in der BRD noch Jahrzehnte nach ihrer Gründung an den Schulen die Prügelstrafe vollzogen wurde, während sie im Osten Deutschlands streng verboten gewesen sei. In die gleiche Richtung weisen die Vorwürfe, dass Frauen in der Bundesrepublik bis 1977 ihren Ehemann um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie arbeiten oder sich ein Bankkonto einrichten wollten, während in der DDR die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch in der Ehe per Verfassung gesichert gewesen sei. Diejenigen, die daran erinnern, lassen ganz außer Acht, dass es sich um altdeutsche Werte handelte, die in einem Rechtsstaat nicht wie im Osten par ordre du mufti, sondern nur schweren Herzens in einem demokratischen Procedere außer Kraft gesetzt werden konnten.

Thema der Aufarbeitung ist endlich auch der Kindesmissbrauch in der DDR. Bekanntlich wurden in den alten Bundesländern, vor allem auch in katholischen Einrichtungen, zahllose dieser Verbrechen begangen. Gerechter- und glücklicherweise kommen nun auch die in der DDR begangenen Untaten ans Tageslicht. Eine 2016 gegründete Kommission untersucht auch sie. Leider musste Christine Bergmann, Mitglied der Kommission, in einem Appell an die Betroffenen feststellen, dass »uns bisher nur wenige Anmeldungen von Betroffenen aus dieser Zeit vor[liegen]. Wir rufen Sie daher auf … mitzuhelfen, sexuellen Kindesmissbrauch in der DDR zu untersuchen.« Es liegt auf der Hand, die »Betroffenen« haben offenkundig noch immer Angst vor der Stasi.

Schäbig ist auch der Versuch, die DDR als einen Friedensstaat auszugeben, der an keinem einzigen Krieg beteiligt gewesen sei, während die BRD die verbrecherischen Kriege Frankreichs und der USA gegen Vietnam unterstützt habe und nach der Wiedervereinigung führend an der NATO-Aggression gegen Jugoslawien teilgenommen habe. Völlig außer Acht wird dabei gelassen, dass es sich dabei um zutiefst humanitäre Kriegsziele handelte.

Last but not least ist bei der Aufarbeitung des ostdeutschen Unrechtsstaates auch zu beachten, dass seiner Führungsriege vor allem vaterlandslose Gesellen angehörten. Sie rekrutierte sich aus Antifaschisten, die mehrheitlich im Widerstand, in KZ oder in Zuchthäusern sowie im Exil die Hitlerdiktatur und den Krieg überlebt hatten. Während an der Wiege der Bundesrepublik hohe Nazis und Kriegsverbrecher wie Globke, Lübke, Kiesinger, Oberländer, Filbinger und zahlreiche Hitlergeneräle sowie Nazijuristen gestanden hätten. In ihrem grenzenlosen Hass auf die BRD ließen die DDR-Oberen am 2. Juli 1965 gar eine Dokumentation mit dem Titel »Braunbuch: Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik. Staat, Wirtschaft, Armee, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft« veröffentlichen. Als Ergebnis ungebremster Sammelwut sind darin die Namen von 1800 Politikern und Wirtschaftsführern aufgelistet. Doch glücklicherweise ließ sich die Bundesrepublik nicht lumpen. 1981 veröffentlichte Olaf Kappelt das »Braunbuch DDR. Nazis in der DDR«, in dem die Namen von 876 NS-belasteten DDR-Bürgern aufgeführt werden, die bedauerlicherweise keine führenden Positionen in Partei und Staat innehatten. In einer Neuauflage wurden noch rund 120 weitere Namen hinzugefügt. Aber die Suche sollte man auch heute nicht aufgeben, denn die SED-Diktatur weist nicht zufällig viele Gemeinsamkeiten mit dem Hitlerstaat auf. Es genügte doch schon die Gedenkstätte Hohenschönhausen aufzusuchen, in der der bekannte Demokratiekämpfer Hubertus Knabe beeindruckende Ausstellungen organisierte: »Ich habe meine Pflicht getan – Täter im Dritten Reich und in der DDR« sowie »Deutsche Diktaturen vor Gericht – Die strafrechtliche Aufarbeitung von NS- und SED-Verbrechen«. Schlimmer geht’s nimmer.

Erschienen bei Ossietzky 8 / 2018