Zum 110. Geburtstag von Ruth Werner

Kommunistin, Kundschafterin, Internationalistin, Mutter und Schriftstellerin

Als ich etwa 1956 in der DDR-Frauenillustrierten „Die Frau von heute“ den Vorabdruck des 1958 erschienen Buches „Ein ungewöhnliches Mädchen“ als Fortsetzung las wusste ich nicht, niemand in der DDR, wer sich hinter dem Namen Ruth Werner verbarg. Heute meine ich, das Buch begleitete mich ein Leben lang, so wie auch vieler junger Sozialisten. Wie sagt man: Es hinterließ gewaltige Spuren.

Ruth Werner schrieb in der Ausgabe des „Neuen Deutschland“ vom 19./20. November 1977: „Auf den letzten Seiten von „Sonjas Rapport“ teile ich mit, wie dieser Bericht entstanden ist: Unsere Partei bat mich und auch andere alte Genossen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Ich fand das gut. Zu vieles aus der Vergangenheit geht uns verloren. Doch dann fiel es mir schwer, die lang geübte Disziplin des Schweigens zu brechen, besonders als die Aufgabe hinzukam, die Erinnerungen an zwanzig Jahre Kundschaftertätigkeit zur Veröffentlichung vorzubereiten.“

Wer war Ruth Werner, die ihr bewegtes Leben in einem „Bericht“ darlegt? Wesentliche Charakterzüge von ihr – Disziplin, Bescheidenheit und Bodenständigkeit. Sie wurde am 15. Mai 1907 als Ursula Maria Kuczynski in einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und wurde bereits zu Beginn ihrer Lehre Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes. Sie wurde Mitglied der Kommunistischen Partei und gründete 1928 die Marxistische Arbeiterbibliothek (MAB Berlin). 1929 heiratete sie den Architekten Rudolf Hamburger (Sein Grab befindet sich auf dem Dresdner Heidefriedhof) und ging mit ihm 1930 nach Shanghai. Hier lernte sie, vermittelt durch die linke amerikanische Journalistin Agnes Smedley, Richard Sorge kennen. Dieses Kennenlernen sollte ihr weiteres Leben bestimmen. Sie hatte sich in Berlin um einen Parteiauftrag für ihren Chinaaufenthalt als mitreisende Ehefrau des Architekten Rudolf Hamburger beworben und lange Zeit auf ein Signal der Komintern in Shanghai gewartet. Als dieses kam hatte Ruth Werner bereits festen Kontakt zu Richard Sorge und entschied sich für diesen. „Erst viel später erfuhr ich, dass es sich um Mitarbeit bei der sowjetischen Aufklärung des Generalstabes der Roten Armee handelte. Für mich änderte das nichts. Ich wusste, meine Tätigkeit unterstützte die Genossen des Landes, in dem ich lebte – ging diese aktive Solidarität von der Sowjetunion aus, fand ich das doppelt schön.“ schrieb Ruth Werner in „Sonjas Rapport“. Sie wurde in die Konspiration der illegalen Arbeit eingeführt. Ihre disziplinierte, umsichtige und unerschrockene Art bei der Absicherung der Arbeit Sorges beeindruckte diesen. Inzwischen Mutter eines Sohnes und ihrer Verantwortung gegenüber der Familie bewusst verstand sie es, die illegale Arbeit, das hohe Risiko bei der Hilfe für verfolgte chinesische Genossen als eine Einheit zu betrachten. Ihren zweiten Chinaaufenthalt trat sie im Auftrage der sowjetischen Aufklärung GRU an, nachdem sie auf Empfehlung von Richard Sorge in Moskau u.a. das Funken erlernt hatte. Bereits 1936 sollte sie an einem weiteren Brennpunkt der Weltgeschichte eingesetzt werden. Hitlerdeutschland beschritt den Weg der Expansion. Die sowjetische Aufklärung sah die Gefahren im Westen ihrer Grenzen und schickte ihre bewährte Kundschafterin nach Polen und die damals „Freie Stadt Danzig“. Sie unterstütze illegale Gruppen, bildete aus, analysierte, sammelte Informationen und hielt die Funkverbindung mit der Zentrale. Im Hinterkopf: Inzwischen Mutter einer Tochter und dem Bewusstsein „Wäre unsere Tätigkeit als Kundschafter entdeckt worden, hätten wir noch Schlimmerem als einem harten Urteil rechnen müssen: mit der Auslieferung an Hitlerdeutschland.“, so Ruth Werner in „Sonjas Rapport“. Nach einem kurzen Aufenthalt in Moskau fiel in der Zentrale die Entscheidung: Nächster Einsatzort ist die Schweiz. Sie baute ihre Funkzentrale auf und war „Pianistin“ im Orchester der Roten Kapelle. Sie sammelte selbst Informationen, leitete Kundschafter an und vermittelte wichtige Meldungen des Leiters der Roten Kapelle, Sandor Rado, weiter. Hier, in der illegalen Arbeit, lernte sie ihren Len Beurton kennen und lieben. Die durch die Heirat erlangte britische Staatsbürgerschaft gab ihr etwas Sicherheit, denn die Schweiz wurde ständig durch Hitlerdeutschland unter Druck gesetzt und die Gefahr einer Auslieferung von Antifaschisten bestand real. Während ihrer Zeit in der Schweiz organisierte sie im Auftrag der sowjetischen Genossen eine Geldübergabe an Rosa Thälmann in Deutschland. 1940 bereitete die Zentrale einen weiteren Einsatz vor: England. Aufbau eines Nachrichtennetzes, Kontakte zu Militär und politischen Kreisen aufnehmen und Funkstation aktivieren. Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion schuf einige günstige Voraussetzungen für die Arbeit mit Informanten aus militärischen Kreisen. An dieser Stelle möchte ich auf die bedeutende Rolle des Elternhauses und der Familie von Ruth Werner eingehen. In all den Jahren ihrer Kundschaftertätigkeit stand ihre Familie hinter ihr. Ihre neuen Einsatzorte suchte sie stets über die Route London auf. Eine besonders innige Beziehung hatte sie zu ihrem Bruder Jürgen (Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Wirtschaftsgeschichte Jürgen Kuczynski). „Die Verbindung zu Klaus Fuchs regte mein Bruder Jürgen ungefähr Ende 1942 an. Er schilderte ihn als wichtigen Genossen mit interessanter Arbeitsstelle, der anscheinend die Verbindungen zur Sowjetunion verloren hatte. Ich sendete eine codierte Nachricht an die Zentrale in Moskau und erhielt Antwort: Kontaktaufnahme erwünscht.“, so Ruth Werner in „Sonjas Rapport“. Heute wissen wir von der Bedeutung dieser Verbindung, die dazu beitrug, das atomare Gleichgewicht herzustellen. Ihre Schlichtheit kommt in ihren Zeilen in „Sonjas Rapport“ zum Ausdruck: „Obwohl mir ohne zu wissen, dass es sich im Endziel um die Atombombe handelte, die Bedeutung meines Materials klar war, blieb mein Anteil gering. Ich war nur der technische Übermittler und möchte nicht, dass dies später einmal hochgespielt wird.“ In dieser Zeit der höchsten Anspannung wurde ihr zweiter Sohn geboren. Kundschafterin und Mutter bildeten für sie eine Einheit. Niemand kam zu kurz. Sohn Peter formulierte es so: „Tatsächlich waren ihre Kinder ihr ganzes Leben – sofern ein Mensch mehrere ganze Leben gleichzeitig haben kann. Sie konnte es. Dies war vielleicht ihre erstaunlichste Eigenschaft. Und sagen wir es so – Es bleibt in jeder Biografie etwas Unergründbares. Das Leben meiner Mutter war doch geprägt von ungeheurem Glück. Es war das Glück einer großen und immer auf die Zukunft neugierigen Optimistin.“ (aus „Funksprüche an Sonja“, Neues Leben, 2007).

1949 musste Ruth Werner aufgrund der Enttarnung von Klaus Fuchs Großbritannien verlassen und ging mit ihrer Familie in die DDR. Sie engagierte sich als Genossin und fand ihre Berufung als Schriftstellerin. Ihre Lebenserfahrungen gingen in ihren Büchern ein, trugen und tragen bei, unsere Geschichte zu verstehen. Erst ab Mitte der 60iger Jahre wurden Kundschafter, beginnend mit der Rehabilitierung Richard Sorges, als solche benannt. „Dr. Sorge funkt aus Tokyo“ von Julius Mader, Gerhard Stuchlik und Horst Pehnert war ein Anfang. Bis 1977 erfüllte Ruth Werner diszipliniert ihre Verschwiegenheitspflicht. Sie schied als Oberst der Roten Armee aus der militärischen Aufklärung der Sowjetunion (GRU) aus und konnte ihre 1937 und 1969 erhaltenen höchsten sowjetischen Militärorden, den Rotbannerorden, offen tragen. Die DDR ehrte sie unter anderem mit dem Nationalpreis I. Klasse und mit dem Karl-Marx-Orden.

Ihr Vermächtnis wird weiter getragen durch den Ruth-Werner-Freundeskreis in ihrem Berlin-Treptow und durch den Ruth-Werner-Verein e.V. in Carwitz, gegründet am 10. Todestag der Kundschafterin und Schriftstellerin. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, die Auffassungen von Ruth Werner über Frieden und Humanität zu vermitteln und wendet sich an Schulklassen und Kultureinrichtungen in seiner Gegend. Das Vermächtnis von Ruth Werner hat ihre Tochter Janina Blankenfeld in ihrem Buch „Die Tochter bin ich“, Kinderbuchverlag Berlin, 1985, meines Erachtens umfassend formuliert: „Ich glaube, wenn alle Menschen auf der Welt an die Kinder dächten, dann gäbe es keinen Krieg mehr, auch kein Kind müsste hungern. Überall, wo ein Mensch … davon spricht, dass ein Krieg nötig ist, sollten die vernünftigen Menschen aufpassen. Sie sollten so aufpassen, dass er das nicht zweimal sagt.“

Horst Hommel

Erstveröffentlichung im ROTFUCHS – Mai 2017