Fakten kontra Verdrehungen

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Dieter Skiba/Reiner Stenzel: Im Namen des Volkes. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher. Edition Ost, Berlin 2016, 463 Seiten, 29,99 Euro

Am morgigen Dienstag, dem 16. August, stellen die Autoren ihr Buch um 19 Uhr in der jW-Ladengalerie vor (10119 Berlin, Torstr. 6)

 

Dieter Skiba und Reiner Stenzel haben ein Buch über DDR-Verfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher herausgegeben – ein Standardwerk

Von Arnold Schölzel

Man könnte meinen, es sei geklärt, welcher deutsche Staat bis 1990 konsequent die zwischen 1933 und 1945 begangenen Untaten deutscher Faschisten verfolgte und welcher nicht. Die Zahlen schienen eindeutig zu sein. In ihrem Buch »Im Namen des Volkes. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher« geben die Autoren Dieter Skiba und Reiner Stenzel an, in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR seien zwischen 1945 und 1990 »etwa 17.000 Männer und Frauen als Tatverdächtige erfasst und davon 12.890 angeklagt und verurteilt« worden. Die Zahl der Verurteilungen war damit fast doppelt so hoch wie im Westen, wie aus Zahlen hervorgeht, die der Münchner Historiker Andreas Eichmüller 2008 veröffentlichte. Danach wurden vom 8. Mai 1945 bis Ende 2005 in den westlichen Besatzungszonen, in der Bundesrepublik sowie in Westberlin 36.393 Ermittlungsverfahren gegen 172.294 Beschuldigte geführt. Von 16.740 Angeklagten seien 6.656 rechtskräftig verurteilt worden. Hinzu kommen die von alliierten Militärtribunalen verurteilten Personen. Skiba und Stenzel beziffern sie mit etwa 40.000 für die sowjetische Seite, wobei allein bis Ende 1946 17.715 wegen Naziverbrechen verurteilt worden waren. Im 1999 in München herausgegebenen »Handbuch der deutschen Geschichte« heißt es, dass von Gerichten der Siegermächte in Deutschland und in anderen Ländern »etwa 50.000 bis 60.000 Personen« wegen Naziverbrechen verurteilt worden seien, in den drei Westzonen waren es demnach 5.025 deutsche Angeklagte.

So weit, so eindeutig? Wie die vergangenen 26 Jahre lehrten, mühen sich Historiker und Journalisten weidlich, die Dinge zu verdrehen. Insbesondere die Tätigkeit der für die Verfolgung faschistischer Verbrechen zuständigen Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS), in der die beiden Autoren dieses Bandes arbeiteten, wird in Frage gestellt. Denn die DDR war per westdeutschem Gründungsmythos nie antifaschistisch, das MfS eine Erpressungs- und Überwachungsbehörde, wie sie in der »freien Welt« unvorstellbar gewesen sein soll. Also wurden im »Unrechtsstaat« überführte und verurteilte Verbrecher nach 1990 teilweise rehabilitiert, wie hier akribisch aufgelistet ist. Die Akten der MfS-Untersuchungsabteilung wurden unter »Stasi«-Unterlagen-Chef Joachim Gauck eilends zerfleddert und der öffentlichen Nutzung weitgehend entzogen. Schließlich erhielt die Bundesrepublik vom Simon Wiesenthal Center 2015 eine Art Persilschein für ein wenn auch spätes, so doch seit einigen Jahren »vorbildliches« Handeln bei der Verfolgung von Naziverbrechen. Es geht bekanntlich um inzwischen fast 100jährige Männer, die mit großem Trara Richtern zugeführt werden. Das Zertifikat verdient einen Goldrahmen zusammen mit den Berufungsurkunden für den Rassegesetzexperten Hans Josef Maria Globke zum höchsten Beamten der Bundesrepublik in den 50er Jahren oder für den SS-Schlächter Theodor Oberländer zum Minister.

Skiba und Stenzel wollen mit ihrem Buch »den gängigen Verdrehungen, Verschleierungen und Verleumdungen entgegentreten«. Neben dem »Braunbuch« von 1965 (von der Edition Ost mehrfach wiederaufgelegt), eigenen Arbeiten und Material aus Medien hatten sie eine entscheidende Quelle: die Dokumentation »DDR-Justiz- und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen«. Sie entstand selbstverständlich nicht in der Bundesrepublik, sondern zwischen 1990 und 2010 an der Universität Amsterdam, unter der Federführung von Christiaan Frederik Rüter und Dick de Mildt, die seit den 1960er Jahren an der Dokumentation westdeutscher Urteile arbeiten. Die Sammlung enthält in 14 Bänden den Wortlaut der Urteile zu faschistischen Tötungsverbrechen, die zwischen 1945 und 1990 gefällt wurden. Rüter stellte seine Dokumentation zur Auswertung den Autoren zur Verfügung und äußerte sich nach Erscheinen von deren Arbeit bereits lobend. Das Lob ist berechtigt. Skiba und Stenzel können, gestützt auf seine Arbeit, Fakten über Fakten vorlegen. Ihr Band enthält, der Nummerierung durch Rüter folgend, auf mehr als 350 Seiten Zusammenfassungen zu 91 Urteilen der »Waldheim-Prozesse« von 1950 sowie zu 839 Urteilen zu faschistischen Tötungsverbrechen – angefangen mit dem Spruch eines »Volksgerichts« in Sachsen vom September 1945 bis zu dem des Bezirksgerichts Rostock vom 25. September 1989 gegen den an Misshandlungen und Erschießungen im besetzten Polen beteiligten Jakob Holz. Ein umfangreiches Register macht den Band zu einem leicht handhabbaren Nachschlagewerk.

Besonders bemerkenswert erscheinen, weil zum Wesen der Anschlusspolitik führend, die »Rehabilitierungen« von in der DDR verurteilten Kriegsverbrechern nach 1990, die hier dargestellt werden. Als Beispiel sei der Fall Johannes Piehl zusammengefasst: Der 1979 in Neubrandenburg wegen schwerster Kriegsverbrechen zu lebenslänglicher Haft Verurteilte stellt 1990 einen Rehabilitierungsantrag, worauf das Oberlandesgericht Rostock am 16. September 1993 entschied, seine Verurteilung sei teilweise »rechtsstaatswidrig« gewesen. Die DDR habe das Verfahren zur Selbstdarstellung missbraucht, die von Piehl angeordneten Erschießungen von Zivilisten wegen »Widerstandsmaßnahmen« gegen die deutschen Besatzer seien aber nicht völkerrechtswidrig gewesen. Die Sowjetbevölkerung habe eine »Gehorsamspflicht« gegenüber den deutschen Faschisten gehabt. Das Gericht berief sich ausdrücklich auf die bundesdeutsche Rechtsprechung seit den frühen 1950er Jahren.

Der letzte noch in Haft befindliche und in der DDR verurteilte Kriegsverbrecher war auf freiem Fuß, ein wichtiges Ziel der »Wiedervereinigung« erreicht. Skiba und Stenzel haben einen Band vorgelegt, der ein Standardwerk werden dürfte.

Erschienen in der Tageszeitung “junge Welt” vom 15.08.2016