13.07.2016 • 16:10 Uhr
Das hat es in der Geschichte der NATO-Gipfeltreffen noch nicht gegeben: Das in Englisch abgefasste Abschlusskommuniqué der NATO-Staatsoberhäupter und Regierungschefs gleicht diesmal einem Roman, mit 16.500 Wörtern auf über 30 Din-A4 Seiten. Die spontane Reaktion einer langjährigen ehemaligen Mitarbeiterin des NATO-Generalsekretariats in Brüssel auf dessen Inhalt lautete: “Ein deutlicheres Zeichen, dass man sich nicht einig war, kann es gar nicht geben”.
von Rainer Rupp
In der Tat hat in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs die Würze der NATO-Kommuniqués in deren Kürze gelegen; nur zwei bis drei Seiten ohne lange Erläuterungen, die die Geschlossenheit der Allianz signalisierten. Schon damals galt als Faustregel: Je größer der Textumfang der Abschlusskommuniqués, desto größer die politischen Differenzen, die mit geschliffenen Phrasen und Nuancierungen verdeckt werden sollten. Genau das trifft ganz offensichtlich auch auf das Warschauer Gipfelkommuniqué zu. Dieses hebt u.a. in epischer Breite die Bedeutung der US-geführten NATO für die weitere Ausweitung der US-Hegemonie gen Osten in Richtung Kaukasus und Zentralasien sowie nach Afrika hervor.
In Ermangelung eines wirklich neuen, durchschlagenden Erfolgs in Warschau wurden im Kommuniqué stattdessen Beschlüsse früherer Gipfeltreffen mit viel Liebe zu unwesentlichen Details als große Erfolge gefeiert. Das gilt sogar für die hinlänglich bekannten NATO-Flops, wie z.B. die Gipfeltreffen von Bukarest 2008 und Straßburg 2009, auf denen zwei Mal hintereinander das so genannte “Neue Strategische Konzept” der Allianz wegen schwerer interner Querelen nicht wie geplant von den Staats- und Regierungschefs abgesegnet werden konnte. Damals wie heute ging es darum, ob die Ukraine Mitglied der NATO werden darf oder nicht.
Und auch diesmal war es um die Einigkeit der Allianz nicht viel besser bestellt und man sucht im Warschauer Kommuniqué unter der Aufzählung potenzieller NATO-Beitrittskandidaten vergeblich nach dem Wort “Ukraine”.
Bereits Mitte Juni, im Vorfeld des Warschauer Gipfels, war aus Quellen im NATO-Hauptquartier[i] zu vernehmen, dass angesichts der unterschiedlichen Wahrnehmung der Gefahren und der divergierenden Interessen der NATO-Mitgliedstaaten im Umgang mit Russland mit Blick auf die Warschauer Abschlusserklärung höchstens ein Minimalkonsens möglich wäre. Es werde versucht, einen Ausgleich zwischen “deterrence and dialogue”, also zwischen Abschreckung und Verhandlungen, als Konsens zu finden.
Aber selbst im NATO-Hauptquartier habe man in Bezug auf Russland eingeräumt, dass die Gefahrenperzeption unter den Mitgliedern weit auseinandergehe. Das heißt im Klartext, dass Polen und Balten – unterstützt von Washington – hysterisch die “russische Bedrohung” an die Wand malen, während die meisten westeuropäischen Länder keine Gefahr sehen und deshalb der vom NATO-Generalsekretär und Washington geforderten Politik der Abschreckung und Aufrüstung ablehnend gegenüberstehen. Allerdings waren sich die deutschen Experten im NATO-Hauptquartier einig, dass das Bündnis – ähnlich wie 2008 und 2009 in Bukarest und Straßburg – “erneut vor eine Zerreißprobe” gestellt worden wäre, hätte man in Warschau auf Abschreckungsmaßnahmen verzichtet. Zugleich war man sich jedoch darüber im Klaren, dass die Eskalationsspirale im Osten “ein gefährliches Spiel” sei, weshalb man auf die “russische Rationalität” baue. Paradoxer geht es wohl nicht.
Trotz dieser internen Querelen ist es der NATO auf dem Warschauer Gipfel gelungen, dem Publikum eine erfolgreiche PR-Show in Sachen Abschreckung zu bieten und in Richtung Russland weiter kräftig mit dem vom deutschen Außenminister Steinmeier verurteilten „Säbel zu rasseln“. Auch aus den enthusiastischen Berichten der westlichen Mainstreammedien ob solch martialischer Entschlossenheit der NATO gegenüber dem bösen Russen war nicht herauszulesen, dass den Amis und ihren polnischen und baltischen Schützlingen auf dem Gipfel wenigstens einige Fangzähne gezogen wurden. So werden z.B. in dem 30 Seiten langen Kommuniqué 61 Mal der Begriff “Bedrohung” und 44 Mal “Herausforderung” gebraucht, aber kein einziges Mal ist von “russischer Bedrohung” oder “russischer Herausforderung” die Rede.
Auch von der von US-Politikern und Top-Militärs mantra-ähnlich wiederholten “russischen Aggression” ist im Warschauer Kommuniqué nichts zu finden. Stattdessen werden nur einzelne, angeblich “aggressive” Aktionen Russlands verurteilt, z.B. die Aufnahme der Krim in die russische Föderation. [Nach dem blutigen faschistischen Putsch in Kiew hatte sich die Krim in einem Referendum mit über 90 Prozent Zustimmung von der Ukraine getrennt und dann den Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation gestellt.] Die Herunterstufung von “Aggression” auf “aggressive Aktion” ist ein nicht zu übersehender Schritt zur diplomatischen Deeskalation, bei der sich offensichtlich Deutschland, Frankreich und andere westeuropäische Länder gegen die von Washington angefeuerten baltischen und polnischen Russenhasser durchgesetzt haben.
Als weiterer Schritt in Richtung Deeskalation wurde die Wiederaufnahme des “NATO-Russland-Rats” in Brüssel genannt, der an diesem Mittwoch zusammentritt, von dem man allerdings nicht zu viel erwarten sollte. Die Wiedereinberufung des NATO-Russland-Rates war bis zuletzt innerhalb der Allianz nicht konsensfähig gewesen.
[i] Gesprächsprotokoll angefertigt anlässlich eines Treffens von hochrangigen Mitgliedern des Bundestags, darunter auch eines ehemaligen Bundesministers, mit Spitzenbeamten und Top-Diplomaten der NATO in Brüssel, Mitte Juni 2016.
Nachzulesen: https://deutsch.rt.com/international/39420-zwischen-abschreckung-und-dialog-erfolgreiche/