Projekt „Tenne” – für die Katz!?
Karl Gebauer , geboren 1931 und aufgewachsen in Wiesbaden.
Vater Sozialdemokrat, Nazi-Opfer.
Karl lernte Buchbinder und Buchdrucker.
Wie seine Brüder schloss er sich der SPD an, war Pazifist.
Suchte 1975 Kontakt zum MfS und arbeitete bis 1985 aktiv mit dem Nachrichtendienst der DDR zusammen.
1992 verhaftet, 1994 zu 12 Jahren Haft verurteilt, nach 6-jähriger Haft entlassen. Karl Gebauer verstarb 2002.
Da er nun nicht mehr selbst den folgenden Beitrag verfassen kann, werden hier Original-Textpassagen aus seinem autobiographische Buch „Doppelagent Erinnerungen ” wiedergegeben.
Über einen neuen Lebensabschnitt, der für ihn bedeutungsvoller nicht sein konnte, schreibt er:
Am 2. Juli 1975 erteilte Bonn Zustimmung zu meiner Berufung, fünf Tage später wurde zwischen mir und IBM Sondersysteme Gesellschaft mbH zu meinem Arbeitsvertrag eine Zusatzvereinbarung geschlossen, in der ich „ausdrücklich zur Geheimhaltung aller Angelegenheiten verpflichtet wurde, die von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung als geheimhaltungsbedürftig gekennzeichnet“ wurden. So las sich das – nicht grundlos derart nebulös – in der Urteilsbegründung.
Am 11. November 1975 erteilte mir W. W. von IBM Sondersysteme Gesellschaft mbH, Verwaltung Bonn, seinen Segen. In dem Schreiben an die Herren de V, Systemberatung und Ausbildung, H. und W. – den Herren Gebauer und J. zur Kenntnis – hieß es: „Es bestehen keinerlei Bedenken gegen den Einsatz von Herrn Gebauer als örtlicher Sicherheitsbeauftragter; dieses wurde mit dem BMWi, Referat ZB 5, abgestimmt. Herrn J. bitte ich mit Kopie dieses Schreibens, mir den Termin der zu seiner Entlastung durchzuführenden Übergabeverhandlung mitzuteilen. Die Verpflichtung von Herrn Gebauer erfolgt nach der ordnungsgemäßen Übergabe. Unterschrift: gez. W.«
Am 20. November 1975 wurden mir offiziell alle Aufgaben des örtlichen Sicherheitsbeauftragten für den Bereich Führungssysteme übertragen. „Von da an verwaltete der Angeklagte VS-Unterlagen bis zur VS-Stufe Geheim und hatte Zugang zu allen Panzerschränken in seinem Tätigkeitsbereich. Er versah seine Arbeit zur vollen Zufriedenheit des Arbeitgebers und fiel durch Arbeitsbereitschaft und Leistung vieler Überstunden auf.“
Ein halbes Jahr zuvor, am 21. März 1975, war ich erstmals in Ostberlin gewesen.
Am Ende der 60er Jahre hatten die beiden Supermächte das atomare Gleichgewicht hergestellt. Dieser Umstand bewirkte zunächst nichts. Erst nachdem diese Erkenntnis in den politischen Führungen der USA und der UdSSR auch zu der Einsicht führte, dass das Wissen um wechselseitige Vernichtung eine Basis sein könnte, sich politische zu arrangieren, kam Bewegung in die Fronten des Kalten Krieges.
Der Einmarsch der Warschauer Paktstaaten 1968 in Prag bedeutete gewissermaßen ein retardierendes Moment auf der Weltbühne wie auch die Ausweitung des Krieges auf Nordvietnam durch die USA. Er konnte jedoch den Zug der Zeit nicht mehr aufhalten. Die nach dem sowjetischen Staats- und Parteichef Breshnew benannte Doktrin, dass kein „Bruderstaat“ Moskaus ungefragt eigene Wege gehen dürfe, führte zum Niederwalzen des Prager Frühlings, und die Amerikaner glaubten, den „Vormarsch des Kommunismus“ in Vietnam aufhalten zu können.
Mit der 68er Bewegung im Westen und der Regierungsübernahme der Sozialdemokraten in Bonn 1969, nicht zuletzt aber mit der Präsidentschaft Richard Nixons in Washington im gleichen Jahr, setzte ein Paradigmenwechsel in der internationalen Politik ein.
Im August 1970 schlossen die Bundesrepublik und die Sowjetunion den Moskauer Vertrag, ihm folgte ein ähnlicher mit Polen noch im selben Jahr, danach – im September 1971 – kam das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin (West) zustande, in dem die Siegermächte des II. Weltkrieges die Westberlin-Frage erstmals vertraglich fixierten. Im Dezember 1972 folgte der Grundlagenvertrag zwischen Bonn und Berlin, mit der die Bundesrepublik endgültig Abschied nahm von ihrem bisherigen Alleinvertretungsanspruch.
Die neue Ostpolitik Willy Brandts trug Früchte. 1973 wurden die BRD und die DDR in die UNO aufgenommen. All das wäre aber ohne eine Weichenstellung der Großmächte nicht möglich gewesen. Nixon und Breshnew trafen sich am 26. Mai 1972 in Moskau und verabredeten, in Wien über die Verminderung der Streitkräfte und Rüstungen in Mitteleuropa (MBFR) zu beraten. Vor allem aber unterzeichneten sie ein erstes Abkommen über die Begrenzung strategischer Atomwaffen (SALT l).
Am 30. Mai 1972 hatten die NATO-Staaten sich in Bonn auf die multilaterale Vorbereitung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) verständigt. Die Staats- oder Regierungschefs Frankreichs, Japans und der Bundesrepublik konferierten 1972/73 ebenfalls in Moskau. Alle Zeichen deuteten auf Entspannung. Dieser Prozeß führte schließlich 1975 zur Konferenz von Helsinki. Bei diesem Gipfeltreffen von 35 Staatsoberhäuptern aller europäischer Staaten einschließlich Kanadas und den USA wurde eine Schlußakte unterzeichnet, mit der die Modalitäten eines friedlichen, kooperativen Miteinanders verabredet wurden.
Vor diesem Hintergrund begann ich meine Tätigkeit bei IBM-Sondersysteme. Mir war klar, dass das Tauwetter in den internationalen .Beziehungen nicht automatisch zum Einfrieren aller Rüstungsprojekte führen würde. Doch dass die politischen Prozesse zu einem gewissen Umdenken bei Militärs und Waffenproduzenten führen mußten, war anzunehmen. Vielleicht war ich ein wenig blauäugig.
Anders kann ich mir mein Erschrecken nicht erklären, als ich mich in die Betriebsspezifikation eines Projektes mit der Bezeichnung „Tenne“ vertiefte. Es war zunächst pure Neugier. Das geheimnisumwehte Vorhaben interessierte mich vor allem deshalb, weil vermutlich die meisten Mitarbeiter des Hauses seit 1972 damit beschäftigt waren. …
Ich war kein Militär und kein Computerexperte, doch das, was ich mit klopfendem Herzen Seite um Seite las und vielleicht nur zur Hälfte verstand, genügte schon, um mir den Atem zu verschlagen. Es handelte sich gewissermaßen um die Planung des militärischen Erstschlages der NATO im Ostseeraum. Von Glücksburg aus, dem verbunkerten Marinehauptquartier, sollte mittels eines computergestützten Führungssystems der Angriff durch die Streitkräfte Nordsee in Kooperation mit NATO-Partnern gegen Stützpunkte und Einheiten des Warschauer Paktes befehligt werden. Die Soft- und Hardware für dieses Projekt wurden in unserem Hause gefertigt.
Das haute mich um. Bislang war ich stets vom Defensivcharakter der Bundeswehr ausgegangen; offiziell und öffentlich sprach man nur von der Landesverteidigung. Die NATO verstand sich in ihren Verlautbarungen als Verteidigungssystem. Alle Planungen gingen – angeblich – von einem Angriff des Warschauer Paktes aus, der abgewehrt werden müsse, nie las ich etwas von einem Präventivschlag. ….
Ich bekam Herzdrücken, als mir die Tragweite des Papiers mit dem sonderbaren Decknamen bewußt wurde.
Wenn jetzt Schritte unternommen wurden, eine Überlegenheit über die andere Seite zu gewinnen, war die Balance dahin. Das mußte verhindert werden. Aber wie?
Indem »Tenne« publik gemacht wurde! Dann erfuhren davon die Russen, und die Waffe hatte ihre Wirkung verloren.
Ich fuhr nach Hamburg zum „Spiegel“ und packte die von mir angefertigten Kopien auf den Tisch eines mir bekannten Redakteurs. Das Nachrichtenmagazin hatte seinerzeit viel Courage bewiesen und Verteidigungsminister Strauß hart attackiert. Das führte zwar zur Besetzung der Redaktion und zur Inhaftierung seines Herausgebers, aber eben auch zur Hebung des Ansehens des Blattes und zur Wertschätzung der Pressefreiheit. Vielleicht konnte auch in diesem Falle die Medienmacht helfen?
Nach zwei Tagen erhielt ich einen Anruf aus der Hansestadt. Ich solle mir die Unterlagen abholen, das Material sei ihnen zu heiß. Ansonsten: kein Kommentar.Offenkundig war man dort inzwischen staatstragend geworden. Ich holte meine Kopien wieder ab. Und reiste an einem Wochenende nach Wiesbaden zu einem Vertrauten, der ähnlich wie ich dachte und fühlte.
„Kannst Du mir helfen? Der „Spiegel“ hat keine Zivilcourage.“ Der Wiesbadener Vertraute brachte mich am Vormittag zu einem ihm bekannten Anwalt. Das verunsicherte mich zunächst ein wenig, weil ich niemanden mit hineinziehen wollte. Doch der Mann überzeugte mich gemeinsam mit meinem Bekannten, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Als Jurist unterliege er der Schweigepflicht. Er blinzelte mich über seiner Brille hinweg an: „Das gilt auch gegenüber MAD, BND und Verfassungsschutz…“ Ich hatte ihn verstanden.
Ich händigte beiden die Unterlagen aus und verabschiedete mich. …
Ich bummelte durch meine Heimatstadt, besuchte einige Bekannte und Freunde und kehrte dann, wie verabredet, in die Anwaltskanzlei zurück.
Der Jurist schien sichtlich erregt.
„Wissen Sie, was Sie uns da in die Hand gedrückt haben?“ Ich wußte nicht, ob er mich examinieren oder nur sein Erstaunen zum Ausdruck bringen wollte, und schwieg.
„Das ist das Programm des globalen Untergangs. So etwas können sich nur kranke Hirne oder gänzlich Perverse ausgedacht haben. Das ist unglaublich.“
Er zog hörbar die Luft durch die Nase. „Potentielle Selbstmörder sind das. Und uns nehmen sie ungefragt mit in die Katastrophe.“
Ich schwieg noch immer.
„Als Defensivkonstrukt ist der Plan völlig ungeeignet. Wenn die Gegenseite den Erstschlag führt, kommt „Tenne“ gar nicht zur Anwendung. Dafür bleibt keine Zeit mehr. Das bedeutet: „Tenne“ macht nur Sinn, wenn man in der Vorhand ist. Und das ist man nur, wenn man als erster losschlägt. Verstehen Sie?“
Er hatte von meinem gescheiterten Versuch, das Manuskript über den „Spiegel“ in die Öffentlichkeit zu lancieren, bereits gehört.
„Die Presse können Sie vergessen. Die angeblich so mutigen und mächtigen Journalisten sind, bei Lichte betrachtet, mehrheitlich nur kleine Kläffer. Ihre Unabhängigkeit verliert sich mit der Höhe ihrer Apanage.“
„Und die Justiz?“
Der Anwalt brach in homerisches Gelächter aus.
„Im Ernst?“
Ich nickte.
„Wenn Sie diesen Stapel hier“, er hob den Packen meiner Kopien in die Höhe und ließ ihn auf den Schreibtisch fallen, „einem Staatsanwalt auf den Tisch legen und erklären: Hier planen ein paar Wahnsinnige den Erstschlag. Die Planung eines Krieges verstößt gegen unser Grundgesetz und gegen diverse Gesetze, zudem ist Gefahr im Verzuge – also ermitteln Sie zügig und verhindern Sie, dass dieser Plan Wirklichkeit wird. Wenden Sie Schaden von unserem Lande ab. … Wissen Sie, was passiert? Der liest nur die fett gedruckte Zeile, die auf jeder Seite oben zu finden ist: Streng geheim. Dann wird er nach dem Staatsschutz rufen, der Sie in die Mangel nehmen wird, um in Erfahrung zu bringen, woher Sie die Unterlagen haben. Und wenn man das weiß, wird man Sie – nicht die Urheber des Papiers – belangen, weil Sie gegen alle möglichen Paragraphen verstoßen haben. Sie sind der Staatsfeind, niemand sonst.“
Scheiße, dachte ich, der hat recht. Das kann nur zum Bumerang werden. »Und, was raten Sie?“
„Informieren Sie die Gegenseite direkt!“
„Wie bitte?“ Ich glaubte mich verhört zu haben.
„Gehen Sie ‘rüber. Informieren Sie Ostberlin, was hier in Wilhelmshaven ausgebrütet wird. Dann ist die Luft raus aus dem Ballon.“
Im Raum war es totenstill. Mir hatte es den Atem verschlagen. Auch mein Bekannter schwieg. Der Anwalt musterte mich aufmerksam, in seinem Blick glimmte etwas Irritation, eine merkwürdige Mischung aus Triumph und Angst, zu weit vorgeprescht zu sein. Ich zögerte mit einer Antwort. Daran hatte ich erstens bis dato noch nie gedacht, zweitens besaß ich keinerlei Beziehungen zur DDR.
Es gab weder Verwandte dort, noch interessierte mich, was hinter dem Harz passierte. Dieses Land war für mich Terra incognita. Ich kannte Amerika besser.
Aber immerhin: Das war ein denkbarer Weg. Wenn ich die Unterlagen für „Tenne“ in Ostberlin abgab, erfuhr es der ganze Warschauer Pakt. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Allerdings überschritt ich damit den Rubikon – mit allen Konsequenzen. So lange ich das, was ich wußte, in der Bundesrepublik öffentlich machte, verstieß ich nur gegen meinen Arbeitsvertrag, verhielt ich mich gegenüber meinem Arbeitgeber illoyal. Wenn ich es in einen anderen Staat trug, zumal einen feindlichen – was so nie gesagt wurde, aber die DDR war es natürlich objektiv -, dann war das eine andere Spielklasse. Fiel das schon unter Hoch- und Landesverrat? Gab es diese Kategorie überhaupt bei uns? Ich kannte mich in unserem Strafgesetzbuch nicht aus, hatte es noch nie in der Hand gehabt. Doch das war letztlich unerheblich. Wichtiger schien, dass die militärstrategische Parität zwischen West und Ost erhalten blieb. Sie war nach meiner Auffassung die entscheidende Voraussetzung für den Frieden in Europa und in der Welt.
„Ich mach’s.“
Der Anwalt lächelte anerkennend freundlich. „Ich habe eine Kontaktadresse in Ostberlin, bei der Sie sich melden – zunächst ohne diese Kopien. Sie fahren mit dem Zug bis Bahnhof Zoo in Westberlin, dann mit der S-Bahn zur Friedrichstraße. Dort passieren Sie die Grenze. Am Bahnhof nehmen Sie ein Taxi und fahren damit nach Lichtenberg.“ Er nannte mir Straße und Hausnummer und einen Namen, nach dem ich verlangen sollte. Vermutlich werde man mich fragen, wer mich geschickt hätte, sagte er, doch darüber solle ich schweigen. Keine Namen, keine Adresse, keine Angaben. Die Jungs drüben seien zwar ziemlich clever, doch ab und an gibt es auch bei ihnen ein Loch. … Er wolle jedenfalls nichts riskieren.
Ich hatte ihn verstanden. Ab jetzt war Schluss mit lustig. Für mich galten fortan die Regeln der Konspiration.
Am 21. März 1975 reiste ich nach Berlin. Wie vorgeschlagen stieg ich in die S-Bahn und fuhr zum Bahnhof Friedrichstraße, der bereits auf dem Territorium der DDR lag. Ich stieg die Stufen hinunter und folgte den Pfeilen, die zum Grenzübergang wiesen. Es ging noch weiter hinab zur U-Bahn und zu einer anderen S-Bahn-Linie, die Ostberlin in Nord-Süd-Richtung durchquerten, ohne an anderer Stelle in der DDR-Hauptstadt zu halten.
An der Grenzschleuse reihte ich mich in eine Schlange ein, füllte die Karte aus, auf der ich Name und Adresse angeben musste wie den Zweck meines Besuches („Tourist“). Die schob ich zusammen mit meinem Reisepass und meinem Ausweis über den Tresen in Schulterhöhe, hinter dem ein dicker Grenzer in Uniform erhöht saß.
Als er nach genauem Studium meiner Papiere den Arm hob und einen Stempel in meinen Pass hämmerte, wusste ich, dass ich einen saublöden Fehler gemacht hatte. Wie konnte ich mir in ein Reisedokument in das ein Dauervisum für die USA eingetragen war, Hammer, Zirkel und Ährenkranz einstempeln lassen! Ich ohrfeigte mich in Gedanken und wusste, was ich nach meiner Rückkehr als erstes zu tun hatte: mir neue Reisepapiere zu besorgen und diesen Pass als verloren zu melden.
Nachdem ich meine obligaten 15 Westmark in DDR-Mark getauscht hatte, drängte ich hinaus ins Freie. Draußen warteten bereits einige Dutzend Personen auf ein Taxi. Endlich war auch ich an der Reihe. Ich stieg hinten ein, nannte die Adresse, der Mann gab Gas. Er hatte es unterlassen, Mitfahrer zu gewinnen. In der Magdalenenstraße ließ er mich aussteigen.
Wenig später saß ich einem Mann gegenüber, der sich mit Winkler vorstellte. Im Prozeß gegen mich wurde er als Zeuge Wolfgang M. geführt, Oberstleutnant der Abt. 2 der Hauptabteilung II im Ministerium für Staatssicherheit. Er trug Zivil, war durchaus freundlich, aber reserviert. Trotzdem wirkte er nicht unsympathisch. Er beherrschte erkennbar das Einmaleins des Geheimdienstlers: bedeckt halten, den anderen kommen lassen, keine Reaktion zeigen, prüfen, ob es ehrlich oder eine Provokation ist.
Ich stellte mich vor, erzählte was ich mache und welche Gründe mich veranlasst hätten, hier vorstellig zu werden. Er hörte sich geduldig an, was ich anbot, und fragte dann nur: „Wieviel?“
Ich glaubte, mich verhört zu haben und fragte zurück, was er meine.
„Na, wieviel Sie für diese Informationen haben wollen?“
„Sie meinen Geld?“
„Sicher. Alles hat seinen Preis. Auch Informationen. Also: Was verlangen Sie für die Unterlagen, die Sie uns anbieten?“
Meine Überraschung war echt. Daran hatte ich nie gedacht.
„Ich will nichts. Das heißt: Wenn ich meine Reisekosten und Spesen zurückerstattet bekäme, würde ich mich freuen. Ließe sich das einrichten.“
Über das Gesicht von „Winkler“ huschte ein leises Lächeln. Entweder hielt der mich für durchtrieben oder für bescheuert.
„Das läßt sich einrichten.“
Ich greife vor: In der Urteilsbegründung 1994 hieß es, ich habe „für die Verratstätigkeit insgesamt mindestens 40.000,- DM“ erhalten. Das klingt gewaltig, und die Charakterisierung als Judaslohn ist nicht zu überlesen. Halten zu Gnaden: Ich habe mich mit „Winkler“ zwischen 1975 und 1980 an die zwanzig Mal getroffen, meist in Berlin. Man addiere die Fahrkosten und die Hotelrechnung. Hinzu kam die Miete für ein Appartement in Wilhelmshaven, das ich mir Mai 1976 in der Nähe meiner Arbeitsstelle mit Zustimmung Berlins besorgte, um ungestört Dokumente kopieren zu können. Dazu stellte man mir japanische Fototechnik zur Verfügung – die ich in den 80er Jahren ebenfalls wieder ablieferte. Die Übergabe erfolgte auf einem Parkplatz an der Transitstrecke. Nein, ich habe mir weder etwas schenken lassen, noch habe ich mehr Geld bekommen oder genommen, als ich zuvor ausgegeben hatte. Ich war und bin nicht käuflich. Dieses Faktum konnte auch das Gericht nicht gänzlich ignorieren, wenngleich es natürlich das Klischee bediente und zu meiner ersten Reise nach Berlin bemerkte: „Aus finanziellen, in erster Linie aber aus politischen Gründen wollte er sich für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit anbieten.“ Man beachte die Reihenfolge und die Unlogik der Sprache.
Im weiteren wollte „Winkler“ natürlich in Erfahrung bringen, wer mich zu ihm geschickt hatte. Ich machte eine ausweichende Bemerkung und bat um Verständnis, dass ich keine Namen nennen wolle. Er gab sich damit zufrieden und insistierte nicht weiter. Ich müsse jedoch ihn verstehen, wenn er weiter skeptisch bliebe. Er wolle erst Unterlagen sehen, die sie prüfen müßten, um sicher zu gehen, dass sie echt seien und mein Angebot ehrlich sein. Ich lächelte zurück: „Die Unterlagen können zwar echt, aber ich kann dennoch ein falscher Hund sein. Ich kann ja geschickt worden sein.“
„Winkler“ verzog ein wenig das Gesicht. „Kann sein, muss nicht sein. Auch das werden wir überprüfen.“
Wir hatten uns verstanden.
Im weiteren zeigte mir „Winkler“ das Schlupfloch, durch das ich mich noch zurückziehen könnte. Falls ich davon keinen Gebrauch machen möchte und mich auf eine Zusammenarbeit mit „den Aufklärungsorganen“ der DDR einließe, würde dies erhebliche Konsequenzen für mein weiteres Leben haben. „Sie werden ein zweites Leben führen und Argwohn und Mißtrauen zu Ihren ständigen Begleitern machen. Jeder Fehler kann den Kopf und die Existenz kosten. Zwar gibt es gewisse Frühwarnsysteme, über die wir Sie warnen können, wenn Gefahr im Verzuge ist, doch meist sind Sie auf sich allein gestellt. Seien Sie versichert: Bequem ist das nicht, was da auf Sie zukommen wird. Und lukrativ schon gar nicht. Es gehört Idealismus dazu. …“
Ich nickte Zustimmung. Dessen war ich mir durchaus bewusst, wobei ich jetzt, fast ein Vierteljahrhundert nach diesem Gespräch, zugeben muss, dass das spätere Leben noch ein wenig dramatischer verlief als avisiert. Das ständige Gehetztsein, das fortgesetzte Denken in zwei Welten und auf zwei Ebenen zerrte stärker an den Nerven als befürchtet. Um sich nicht zu verquatschen, zog man sich innerlich aus der Gesellschaft zurück, auch wenn man durchaus im öffentlichen Leben stand. Man errichtete Schutzmauern um sich, hinter denen man plötzlich verschwand. Man war isoliert. Offenheit , die einem entgegengebracht wurde, konnte man nicht mit gleicher Münze bezahlen. Jedes Wort, das ins Ohr drang, wurde auf nachrichtendienstliche Verwertbarkeit überprüft. Der banalste Satz wurde abgeklopft, ob er nicht eine Botschaft enthielt, eine Chiffre. Was wollte mein Gegenüber mit der Feststellung sagen:
Unsere Zusammenarbeit gilt vorerst nur für das Projekt „Tenne“. Ich möchte aussteigen können, wenn es erledigt ist, schränkte ich ein.
Diese Option möchte ich mir erhalten.“
„Winkler“ widersprach nicht und kommentierte auch meinen Vorschlag nicht.
Statt dessen ging er zum Technischen über.
„Ich würde Sie bitten, zum nächsten Treff die Unterlagen mitzubringen, damit wir sie studieren können. Ich nenne Ihnen drei Termine – es sind immer Wochenenden -, von denen Sie einen wählen müssen. Merken Sie sich die Daten oder notieren Sie sie, aber bitte so, dass Fremde nichts damit anfangen können. Dann gebe ich Ihnen eine Telefonnummer. „Hier.“ Er schob mir einen Zettel zu. „Der Anschluß ist Tag und Nacht besetzt. Sie sollten sich die Nummer einprägen. Und merken Sie sich das Stichwort ‚Möwe‘. Wenn Sie sich für einen Termin -1,2 oder 3 – entschieden haben, rufen Sie dort an und sagen nur ‚Möwe1‘ oder ‚Möwe 3‘. Mehr nicht. An diesem Tag werden wir uns Punkt 10,00 Uhr im Bahnhof Friedrichstraße treffen. Ich werde auf der Treppe im Vorraum stehen. Wir begrüßen uns nicht. Wenn wir uns gesehen haben, werde ich gehen. Sie folgen mir unauffällig und in angemessenem Abstand. In einer Seitenstraße steht mein Wagen… Richten Sie sich auf eine Übernachtung ein. Unsere Auswerter werden vermutlich einen Tag brauchen, und dann werden Sie Ihnen einige Fragen stellen. Wir werden uns in der Zwischenzeit ein wenig Berlin anschauen. Kennen Sie die DDR-Hauptstadt?“
Ich schüttelte den Kopf. Woher denn.
„Ich bringe Sie jetzt zum Bahnhof Friedrichstraße. Alles weitere dann wie verabredet.“ „Winkler“ erhob sich und reichte mir die Hand. „Auf gute Zusammenarbeit.“
Zurück in meinem Hotel in Westberlin suchte ich mir einen Platz an der Bar. Das Leben hier war laut und grell, kein Vergleich mit dem beschaulichen Wilhelmshaven. In den Nischen und. auf den Barhockern parlierten Pärchen, die Damen waren auffällig geschminkt. Für mich war keine übrig, und so konnte ich ungestört tief in mein Glas und in mein Innerstes starren. Ich war mir bewusst, etwas Verbotenes getan zu haben – doch mein Gewissen regte sich nicht. Kein Unrechtsbewußtsein meldete sich zu Wort. Nichts. Ich war auch nicht sonderlich stolz. Ich hatte etwas getan, was ich glaubte, tun zu müssen. Gänzlich unheldisch, nichts da von „ein Mann geht seinen Weg“. Es war notwendig und Schluss.
Am 29. April 1975 war ich zum zweiten Mal hinübergereist. Nachdem ich „Möwe“ mein Kommen avisiert hatte, flog ich morgens mit der ersten Maschine von Bremen nach Tegel. Der Genosse „Winkler“ verkehrte diesmal mit mir auf neutralem Boden. Wir besuchten das Pressecafé neben dem Berliner Verlag, eine der Neubauten in der Nähe des Alexanderplatzes, die soeben fertiggestellt worden waren.
Im Verlaufe des Treffens schon ich „Winkler“ unauffällig drei technische Zeichnungen über den Tisch, die zum Projekt „Tenne“ gehörten, darunter die Raumaufteilung eines Neubaus in Flensburg, in welchem IBM-Anlagen installiert werden sollten. Ich berichtete über den Personalbestand von IBM in Wilhelmshaven und übergab auch eine Liste, aus der der jeweilige Grad der VS-Verpflichtung des Beschäftigten zu erkennen war. „Winkler“ schien sichtlich zufrieden.
Am 18. Juli sahen wir uns zum dritten Mal. Wir trafen uns diesmal in einer konspirativen Wohnung in Ostberlin. In meinem Gepäck hatte ich eine Übersicht, die nahezu alle geheimzuhaltenden Unterlagen des Projektes „Tenne“ enthielt, die bei IBM lagen und die ich bei Bedarf besorgen konnte. Außerdem konnte ich „Winkler“ über mein Gespräch im Bundeswirtschaftsministerium berichten, bei dem ich auf die Übernahme meiner Funktion als Sicherheitsbeauftragter vorbereitet worden war.
Keine sechs Wochen später war ich erneut in Berlin.
Endlich aber kamen wir zum eigentlichen Anlass meiner Reise.
Voller Stolz präsentierte ich „Winkler“ eine Übersicht von insgesamt 86 Dokumenten von NATO-, Bundeswehr- und IBM-Verschlußsachen sowie sechs 16mm-Filme mit ca. 12.000 Aufnahmen. Die Filme hatte ich aus dem Panzerschrank des Dokumentenraumes von IBM entnommen und sie am gleichen Tage bei einer anderen Firma in Wilhelmshaven maschinell kopieren lassen. Am nächsten Morgen legte ich vor Arbeitsbeginn die Filmrollen wieder an ihren alten Platz im Tresor. Wie sich später herausstellte, waren die Kopien derart lausig angefertigt worden, dass nur ein Film verwertbar war. Auf diesem waren 32 Einzeldokumente zum Projekt „Tenne“ enthalten. „Winkler“ informierte mich darüber bei unserem nächsten Treffen am 29. November 1975.
Um die Panne mit diesen unzulänglichen Kopien auszuwetzen, fuhr ich am 30. Januar 1976 mit den Originalfilmen, die die Dokumente zum Projekt „Tenne“ enthielten, erneut nach Ostberlin.
Ich passierte meist den Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße als Tourist. Wie angekündigt, stand „Genösse Winkler“ auf der Treppe, über die die Einreisenden in die Bahnhofshalle gingen. Als er mich sah, drehte er sich auf dem Absatz um und setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihm durch die Halle hinaus auf die Friedrichstraße. Mein Führungsoffizier passierte, ohne sich umzuschauen, die Straße und verschwand in einer Seitengasse. Ich lief ihm hinterher und sah ihn schließlich in einen WARTBURG einsteigen. Ehe ich die Tür öffnete und mich auf dem Beifahrersitz niederließ, blickte ich noch einmal prüfend in die Runde. Es sah nicht so aus, als ob uns jemand gefolgt wäre.
Erst im Auto reichte mir „Winkler“ die Hand zur Begrüßung. Nach einigen Floskeln warf er den Zweitaktmotor an. Das ganze Auto vibrierte ein wenig blechern. Halb entschuldigend, halb trotzig blickte mich „Winkler“ von der Seite an. „Wir fahren erst einmal ein Stück. – Ich gehe davon aus, dass Sie an Ihrer Absicht festhalten, für uns zu arbeiten“, begann er das Gespräch.
„Und Sie sind sich der Konsequenzen bewusst.“ –
„Selbstverständlich.“
Ich galt seither als Spion, Agent, Aufklärer einer – aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland – fremden Macht. Ich wollte mit Hilfe der Informationen, die ich künftig der anderen Seite liefern würde, zur militärstrategischen Stabilität in Europa beitragen und damit den Frieden sichern. Ich handelte gewissermaßen als deutscher Patriot und sah mich in einer Linie mit jenen, die für Deutschland und gegen die Nazis gekämpft hatten – etwa in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, in der Emigration, in der Antihitlerkoalition oder im Nationalkomitee „Freies Deutschland“.
Ich machte „Winkler“ deutlich, dass ich aus tiefer Überzeugung handeln und ihnen alles Material liefern würde, was relevant wäre. Zudem würde ich ihn in Kenntnis setzen über Operationen von MAD, BND und Verfassungsschutz, in die ich mit einbezogen werden würde.
Im Oktober 1975 wurde ich in offizieller Runde geradezu überschwenglich begrüßt. Die Genossen wirkten enthusiasimiert.
Die vergangenen drei Monate habe man intensiv genutzt, um die Unterlagen zu prüfen. Vor allem die nachgereichten Papiere haben sich als besonders wertvoll und wichtig herausgestellt. Dafür wolle mir „Winkler“ im Namen des Organs und der friedliebenden Menschheit Dank sagen.
Ihre Untersuchungen hätten meinen Verdacht bestätigt, dass das Projekt „Tenne“ ein strategischer Zug der Falken sei, den Militärapparat zu verselbständigen. Außerhalb und unabhängig von der Politik, die auf Verständigung und Frieden gerichtet sei, sollten irreversible Fakten geschaffen werden.
Die zweitägige Ausbildung in Berlin empfand ich als sehr nützlich und spannend. Mit dem Fotografieren hatte ich keine Probleme, da ich einschlägige Erfahrungen mitbrachte. Komplizierter war der elektronische Bereich. Wöchentlich wurde mit einer synthetischen Stimme per unverfänglicher Rundfunkdurchsage ein Botschaft übermittelt, die funktechnisch entschlüsselt werde musste. Ich bekam zu dieser Spielerei nie ein ernsthaftes Verhältnis, zumal ich wegen anderer Verpflichtungen oft nicht am Rundfunkempfänger sitzen konnte, wenn Berlin mir eine elektronisch verschlüsselte Nachricht durch den Äther schickte. Nicht minder anstrengend erwies sich in den folgenden Jahren der aktive Funkverkehr. Das mir übergebene Gerät war leicht zu handhaben – aber auch leicht festzustellen. Ich vermied es, von Jever oder Wilhelmshaven zu senden und suchte mir Orte in der Umgebung im Radius von etwa 50 Kilometern aus. Vom MAD wußte ich, dass in Langewerth rund um die Uhr in den Äther gelauscht wurde. Zwar war man in der Lage, den Funker zu lokalisieren, doch ehe man ehe man vor Ort war und zugreifen konnte, war der schon auf und davon. Um die Zeit zu verkürzen, begann der MAD Hubschrauber einzusetzen. Als ich davon hörte, stellte ich meine Landausflüge ein und sendete nur noch aus Oldenburg oder Bremen. Da waren die Hubschrauber hilflos.
Seither war ich IM „Claus Reuter“, wie ich aus den späteren Prozessunterlagen erfuhr. Mir war lediglich der Name genannt worden. Der Personalausweis und der Pass, die ich ebenfalls zur Verfügung gestellt bekam, lauteten auf den Namen Paul Gärtner. Sie waren für den Fall meines Rückzugs bestimmt. Dazu hatte ich eine Brieftasche mit Containerfach, in der ich ständig die Dokumente versteckt bei mir führte. Als Warnung hatte ich mit meinem Führungsoffizier verabredet, dass er einem ehemaligen Kollegen, der in der Nachbarschaft lebte, eine Botschaft übermittelte, in der das Codewort „Tauschmöglichkeiten für Schmetterlingsblöcke“ auftauchte. Der Nachbar war harmlos, kannte nicht den Sinn der Botschaft, wohl aber mein vermeintliches Briefmarkenhobby. Dieses Signal zum sofortigen Einstellen meiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit konnte natürlich nicht über meinen Dienstapparat oder meine Privatadresse laufen. Ebenso der Appell, wenn Gefahr im Verzug war und ich so schnell wie möglich das Bundesgebiet zu verlassen hatte. Dafür hatten wir das Schlüsselwort „Verkaufe Elefantenbriefmarkensammlung“.
Der 14. Mai 1992, ein Donnerstag, versprach ein Tag wie jeder andere zu werden. Der Frühling brach in unserem Garten auf, überall blühte und grünte es.
Ich trank mit Aline in aller Ruhe meinen Morgenkaffee, als es an der Tür klingelte. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Besuch mir galt. Eine innere Stimme sagte mir: ‚Jetzt holen sie dich.’
Vor der Tür stand eine Frau in Begleitung zweier Männer. „Herr Gebauer?“
„Ja.“
„Staatsschutz, Bundeskriminalamt. Gegen Sie liegt ein Haftbefehl wegen Landesverrats vor.“ Sie hielt mir ein Papier vor die Nase.
Ich blieb ruhig und gelassen und sagte nur: „Kommen Sie herein. Vielleicht ist noch Kaffee da.“
Die Nachrichtenagentur dpa meldete am 15. Mai 1992 aus Karlsruhe, dass »der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof (BGH)… Haftbefehle gegen sechs frühere Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) erlassen« habe. Nach Angaben der Bundesanwaltschaft vom Freitag sollen die Verdächtigen – von denen sich zwei in Untersuchungshaft befinden – für die Hauptabteilung II (Spionageabewehr) des MfS gearbeitet haben. Vier Beschuldigte wurden nach Erlaß der Haftbefehle unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt.
Als schwerwiegend wird der Fall eines 60jährigen Handwerkers aus dem Großraum Wilhelmshaven eingestuft. Er soll dem MfS von 1975 bis 1980 etwa 35.000 Blatt Geheimdokumente geliefert haben, zu denen er bei der Firma IBM Sondersysteme dienstlich Zugang hatte. Die Dokumente – laut Bundesanwaltschaft ‘Staats-geheimnis1 – betrafen die Entwicklung geheimer Führungssysteme für die Bundeswehr und die NATO.
Eine Berliner Tageszeitung schrieb unter dem Motto „NATO hätte Seekrieg verloren“:
Der Prozess gegen den mutmaßlichen Stasi-Spion Karl Gebauer wird offenbar immer schwerwiegender. Das von Gebauer gelieferte Geheimmaterial hätte nach Ansicht des Berliner Kammergerichts im Falle eines Seekrieges zur Niederlage von NATO und Bundesmarine geführt.
„Der Krieg wäre verloren gewesen“, hielt der Vorsitzende Richter des Strafsenats dem 62jährigen Rahdumer vor.
Doch trotz pikanter, aber falscher Details, die bewußt in der ersten Nachrichtenwelle gestreut wurden („er soll für seine Agententätigkeit etwa 60.000,00 DM erhalten haben“) kam es zu keinem empörten Aufschrei.
Meine Schwester Christa aus den Staaten meldete sich besorgt: „Mit Entsetzen habe ich von Deiner Verhaftung als Spion für den östlichen Geheimdienst erfahren. Die Wiesbadener überschlagen sich mit Briefen und Zeitungsausschnitten über den ‚Top-Agenten Gebauer‘. Ich bin bestürzt. …“
Es schrieben einfache Leute, die ich nicht kannte, und auch Prominente, Menschen aus allen Teilen des Landes, insbesondere aus Ostdeutschland. Sie drückten mir symbolisch die Hand, ermutigten mich und erklärten in einfachen, aber wärmenden Worten ihre Solidarität. Da schrieben die Pastorin und der Lehrer, ehemalige Staatsbeamte und NVA-Offiziere, die Rentnerin und der abgewickelte Wissenschaftler, aktive Politiker und unbescholtene, unpolitische Zeitgenossen. Natürlich meldeten sich nunmehr auch politische Gruppierungen, und je linker sie im politischen Spektrum standen, desto kämpferischer und vereinnahmender zeigten sie sich. Sie waren und sind mir alle gleichermaßen lieb und treu, doch wie ich damals nicht für eine Partei gearbeitet hatte, so ließ ich mich auch jetzt nicht okkupieren und zur Ikone einer bestimmten politischen Strömung machen. In diesem Sinne antwortete ich auch Christa: „Es gibt kein schöneres Erbe als das, was uns Vater hinterlassen hat, sich für die soziale Achtung und Würde seiner Mitmenschen einzusetzen. Wir nannten uns Kundschafter für den Frieden und waren darauf bedacht, dass die NATO-Seite kein Übergewicht bekam, welches sie verführt hätte, einen Krieg anzuzetteln. Das Gleichgewicht der Kräfte hielt immerhin 40 Jahre, und daran haben Leute ich ihren Anteil, Der ‚kleine Unterschied‘ besteht darin, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die westlichen Spione die guten Spione waren, während die, die für den Osten arbeiteten, die bösen Spione sind.“
Christa reagierte auf diese Erklärung sehr verständnisvoll.
Die Wochen gingen mit Vernehmungen dahin, inzwischen lernte ich nach Köln meine dritte JVA kennen – die zweite in Wilhelmshaven. ..
Vor meinem Fenster führte die Straße zum Ölhafen und zu dem Objekt der Bundesmarine; keine hundert Meter weiter lag der „Bayrische Hof“, wo ich mich gern mit den Leuten von MAD, Verfassungsschutz, BND und MfS getroffen hatte – wegen der guten Küche und der angenehmen Atmosphäre.
Gesundheitlich war ich ziemlich angeschlagen. Ich laborierte immer noch mit meinem Fuß. 1990/91 war ich am Herzen operiert worden und hatte Bypässe gelegt bekommen. Und Knast ist nun mal kein Sanatorium, folglich verbesserte sich seit Mai 1992 mein Wohlbefinden nicht. Die Durchblutung der Beine wurde immer schlechter, es drohte eine Beinamputation, wenn nicht ein Bypass gelegt werden würde. Eine Operation im Haftkrankenhaus lehnte ich aber ab, da selbst einem U-Häftling wie mir freie Arztwahl zustand. Das Berliner Kammergericht, an dem der Prozess gegen mich stattfinden sollte, nachdem das zuständige in Celle wegen angeblicher Überlastung das Verfahren abgegeben hatte, wies mein Ansinnen zurück. Es bestünde Fluchtgefahr, hieß es. Das Argument war unsinnig; ich erklärte, dass ich nach einem solchen Eingriff bestenfalls auf Händen davonlaufen könnte, wozu ich mich allerdings zu alt fühle. Das Kammergericht bestand aber auf seiner Auffassung, ich solle entweder im Hospital der JVA Lingen oder aber unter Polizeibewachung in einem Krankenhaus meiner Wahl operiert werden. Das lehnte ich ab und trat am 9. Juli 1993 in den Hungerstreit. Mein Demokratieverständnis bäumte sich gegen diese Haltung auf. Bis zum Zeitpunkt meiner rechtskräftigen Verurteilung hatte auch für mich die Unschuldsvermutung zu gelten. Ich saß seit über einem Jahr bereits in U-Haft und wurde in meinem elementaren Bürgerrechten eingeschränkt wie ein Verurteilter.
Nachdem ich fünf Tage die Nahrungsaufnahme verweigert hatte, fühlte ich mich hundsmiserabel. Man überführte mich in die JVA Lingen und hängte mich an den Tropf. Die Lokalpresse, für jede Nachricht im tristen Alltag dankbar, nahm regen Anteil an meinem Widerstand. Nach zwei Wochen brach ich – ziemlich geschwächt – meinen Protest ab. Das Kammergericht, das noch für August den Prozessbeginn signalisiert hatte, lenkte nunmehr aber ein. Offensichtlich schenkte es dem ärztlichen Gutachten Glauben, dass ich unter diesen Umständen keine zwei Stunden pro Tage verhandlungsfähig sei.
Gegen Ende des Jahres 1993 brachte man mich nach Berlin-Moabit. Am 9. Dezember begann vor dem 2. Strafsenat des Kammergerichts der Hauptstadt die Hauptverhandlung.
Nachsicht oder gar Verständnis für den politischen Kontext, in dem ich aktiv geworden war, erwartete ich nicht. Der Vorsitzende Richter Wolfgang Paetzelt war ein ehrenwerter Mann, er bemühte sich erkennbar um Fairneß, aber der Zeitgeist, der nach Rache rief, beeinflußte auch ihn. Die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, Beweise lagen nicht vor, die Gutachter waren nicht neutral, meine Verteidiger der Verfahren – freundlich formuliert – nicht gewachsen. Oberstaatsanwalt Dr. Wilhelm Schmidt forderte dreizehn Jahre, mein Verteidiger plädierte für sieben, weil inzwischen viel Zeit ins Land gegangen sei und das gelieferte Material technisch längst überholt wäre. …
Nach Ansicht der Anklage bestünde kein Zweifel, dass das Verratsmaterial auch an den KGB gegangen wäre. …
Am 27. Januar 1994 wurde das Urteil verkündet: zwölf Jahre, davon vier Jahre ohne bürgerliche Rechte. ‘Mehr als Günter Guillaume damals bekommen hatte und soviel, wie auch Rainer Rupp und Klaus Kuron erhielten. Wir waren die drei „Zwölfender“, wie es bald in der Szene hieß.
In der Urteilsbegründung hatte der Richter erklärt, die von mir gelieferten Informationen hätten meine Absicht, für ein Gleichgewicht zu sorgen, ins Gegenteil verkehrt. „Die Vorteile lagen nun, und zwar schon vor der eigentlichen Inbetriebnahme des Systems, beim ehemaligen Warschauer Pakt.“
Meine Verbindungen zu den westdeutschen Geheimdiensten bleiben in dem Verfahren gänzlich unerwähnt, was das Jeversche Wochenblatt am 28. Januar 1994 zur Frage in der Unterzeile veranlasste „Einseitig Recht gesprochen?“ Im Text hieß es: »Was beim Prozess nur von Gebauer zur Sprache gebracht, offiziell allerdings auch nie dementiert wurde, war seine gleichzeitige Zusammenarbeit mit dem niedersächsischen Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst. Ein der Redaktion vorliegendes Schreiben bestätigt die Zusammenarbeit mit dem westdeutschen Verfassungsschutz, doch vor Gericht spielte sie keine Rolle, wurde nicht einmal richtig zur Kenntnis genommen. Für einen Laien ist es schwer, ein Gerichtsurteil zu kommentieren. Doch im Fall Gebauer bleibt der fade Eindruck zurück, dass hier einseitig Recht gesprochen wurde, um dem Ansehen deutscher Geheimdienste nicht zu schaden.
Nach meiner Verurteilung, die mich hart traf, aber nicht unbedingt niederstreckte, brachte man mich zurück nach Wilhelmshaven. Ich kam in eine Einzelzelle am Ölhafendamm. Da saß ich nun. Lebendig beerdigt, 62 Jahre alt, mit kaputten Füßen und krank am Herzen.
Aus Gerechtigkeitsempfinden heraus lehnte ich alle Vorschläge ab, ich solle beim Bundespräsidenten um Begnadigung nachsuchen. Gnade verlangte nach Reue und Anerkennung von Schuld – ich fühlte mich nicht schuldig, folglich sah ich keinen Anlass, beim Staatsoberhaupt ein solches Gesuch einzureichen. Das taten jedoch andere. Die Gesellschaft für rechtliche und humanitäre Unterstützung w. V. (GRH) intervenierte erfolgreich. Am 15. Mai 1998, einem Freitag, stellte mir das Bundesjustizministerium das Begnadigungsschreiben zu, Roman Herzog hatte die Reststrafe ausgesetzt. Fast auf den Tag genau war ich sechs volle Jahre inhaftiert gewesen, bleiben also noch sechs, die man mir erließ.
Ich räumte am Montag meine Gefängniszelle in Wilhelmshaven und verabschiedete mich vom Personal. Daheim standen die Nachbarn vor der Tür und empfingen mich mit Blumen. Kein Harm wohnte in ihrer Seele – ich wurde in die Gemeinschaft wieder aufgenommen, die ich mental nie verlassen hatte.
Quellen:
- Karl Gebauer. Doppelagent Erinnerungen
Verlag edition ost, Berlin 1999, ISBN 3-9321890-46-1
2. Persönliche Notizen von Karl Gebauer