Der Nowitschok-Superspreader Alexei Nawalny: Eine Opfersuche

In Nawalnys Organismus und an seiner Trinkflasche soll das tödliche Nervengift Nowitschok nachgewiesen worden sein. Trotz engster Körperkontakte zum “Vergifteten” blieben weitere Opfer aus. Eine Spurensuche des ehemaligen Kriminalbeamten Jürgen Cain Külbel.

von Jürgen Cain Külbel

Besonders imponiert hat mir im Fall Skripal die Szene mit der weltweit einzigartigen Synchron-Giftstarre, die den ehemaligen MI6-Spion Sergei und dessen damals 33-jährige Tochter Julia punktgenau zur gleichen Zeit, etwa um 16.15 Uhr, und am gleichen Ort, nämlich auf einer Parkbank im englischen Salisbury, ereilte. Das ist einen Eintrag in das kriminalistische Kuriositätenkabinett wert, vor allem wegen des perfekten Timings.

Wenn man bedenkt, dass beide um die Mittagszeit des 4. März 2018 am Wohnhaus von Sergei Skripal mit dem Gift in Berührung gekommen sein sollen und danach die gemeinsame Fahrt mit dem Pkw folgte, der Besuch eines Pubs, einer Pizzeria, dann das lockere Flanieren vorbei an einer Überwachungskamera; und plötzlich hat es Boom gemacht – irgendwie auf Knopfdruck. Das Biochemiewaffenlabor in Wiltshire (“Porton Down”) “identifizierte” hinterher Nowitschok als den gegen die Skripals eingesetzten Nervenkampfstoff.

Ausgangslage: Nowitschok in Blut, Urin, an Haut und Trinkflasche

Auch im Fall Nawalny wurde ein NATO-Militärlabor aktiv, diesmal ein deutsches, das Münchner Bundeswehrinstitut für Pharmakologie und Toxikologie (InstPharmToxBw). In einer Studie des Wissenschaftsrates vom 10. Juli 2020 heißt es:

“Das InstPharmToxBw erklärt, jedes der Institute der NATO-Mitgliedstaaten weise eine eigene spezifische Struktur und fachliche Ausrichtung auf; im Unterschied zu dem Münchener C-Schutz-Institut seien diese Einrichtungen eher naturwissenschaftlich orientiert. Die unterschiedliche Ausrichtung sei im Interesse einer effektiven Arbeits- und Ressourcenteilung innerhalb der NATO.”

Am 28. August 2020 wies eine zwölfköpfige Investigativ-Kolonne des Hamburger Nachrichtenmagazins Der Spiegel im Beitrag “Das Nawalny-Komplott” darauf hin, dass “die Experten der Charité im Fall Nawalny den Einsatz eines Nervenkampfstoffs abklären. Diskret ersuchten die Berliner auch Hilfe bei der Bundeswehr und in Porton Down in Großbritannien”. Porton Down und München also, zwei unvoreingenommene NATO-Labore in einem Topf bei der Aufklärung der “Wahrheit” im Fall Nawalny!

Am 4. September veröffentlichte die nächste achtköpfige Investigativ-Kolonne des Spiegel den Artikel “Merkel in der Russlandfalle“. Darin heißt es:

“Offiziell war es eine Einladung zum Kaffeetrinken, als Angela Merkel am Mittwochmittag ihre sechs wichtigsten Minister im Kanzleramt versammelte, die Einberufung des Sicherheitskabinetts hätte zu viel Aufsehen erregt. Es ging um das Schicksal Alexej Nawalnys, des russischen Oppositionspolitikers, der vergiftet in der Berliner Charité liegt. Die Analyseergebnisse des Münchner Bundeswehrinstituts für Pharmakologie und Toxikologie lagen vor, ein Oberstabsarzt, der schon Giftattacken in Syrien untersucht hatte, erklärte sie den Kabinettsmitgliedern.

“Das Ergebnis war eine politische Bombe. Ohne Zweifel, sagte der Arzt nach Angaben von Teilnehmern der Sitzung, gehöre das Gift zur Nowitschok-Gruppe von Nervenkampfstoffen. Man habe die Spuren nicht nur im Blut, im Urin und in Hautproben Nawalnys gefunden, sondern auch an einer Flasche, die er auf der Reise dabeigehabt hatte. Seine Angehörigen hatten sie nach dem Zusammenbruch des Politikers aufbewahrt und den Ärzten in Berlin übergeben. Vermutlich hatte Nawalny aus der Flasche getrunken, als er bereits vergiftet war, und so die Spuren des Gifts dort hinterlassen.”

Nun ist nicht klar, ob die Spuren an der Flasche von Herrn Nawalnys Händen oder von seinem Speichel stammen. Bemerkenswert, dass die kontaminierte Flasche nachher durch zahlreiche Hände ging, ohne weiteren Schaden anzurichten: von Herrn Nawalny ging sie über auf seine Team-Mitglieder, die sie wiederum den Angehörigen seiner Familie aushändigten, von denen sie endlich in die Obhut des Bundeswehrlabors gelangte. Durchaus eine sportliche Staffelübergabe eines der tödlichsten Nervengifte der Welt.

Die acht Spiegel-Reporter gruben trotz der Steilvorlage des Oberstabsarztes in dieser heiklen Sache erwartungsgemäß nicht tiefer. Das soll in meinem Beitrag nachgearbeitet werden. Schließlich zählen Nowitschok-Gifte zu den hochtoxischen Nervengiften. Nowitschok – meist dickflüssig, aber auch als Aerosol oder Pulver anwendbar – ist so gefährlich, dass sich sogar der Täter in Lebensgefahr begibt.

Schon wenige Milligramm des eingeatmeten, über Körperöffnungen oder die Haut aufgenommenen Stoffes können tödlich sein, weil das Nervengift lebenswichtige Abläufe im Körper ausbremst: Herz-Kreislauf-System, Muskeln, Atmung, Gehirn kommen aus dem Takt. Starke Schmerzen, Zuckungen, Atemnot, extreme Schweißbildung, Schaumbildung vor dem Mund, unkontrollierter Stuhl- und Urinabgang, veränderter Herzschlag, Muskelkrämpfe sind die Folge. Denn das Gift hemmt die Acetylcholinesterase, ein Enzym mit der lebenswichtigen Aufgabe, den Botenstoff Acetylcholin zu spalten, der ein wichtiger Informations-Überträgerstoff im Körper ist. Er reguliert die Kommunikation zwischen bestimmten Nervenzellen sowie zwischen Nerven- und Muskelzellen. Jede Person, die mit diesem Gift in Kontakt kommt, gefährdet ihr Leben.

Doch ehe ich die von den Spiegel-Investigativen nicht erledigten Hausaufgaben nachsitze, müssen Sofortmaßnahmen angesprochen werden: Sei es eine Explosion, ein Terroranschlag, eine Havarie, ein Brand, ein Angriff mit chemischem Kampfstoff – die Rettung von Menschenleben, der Schutz der Gesundheit, die Abwehr einer drohenden Gefahrenlage haben stets Vorrang vor polizeilichen und kriminalistischen Maßnahmen. Daher wandte ich mich mit zwei Fragen an das Auswärtige Amt in Berlin.

Frage: Wurden durch das deutsche Außenministerium direkt nach Bekanntwerden der Ergebnisse des Bundeswehrlabors am 2. September 2020 oder nach dem 2. September 2020 die zuständigen Behörden der Russischen Föderation von einer möglichen Gefahrenlage durch Nowitschok für die russische Bevölkerung in Kenntnis gesetzt, damit dort Sofortmaßnahmen zur Gefahrenabwehr und Dekontamination eingeleitet werden können?

Frage: Hat das deutsche Außenministerium die Mitglieder von Herrn Nawalnys “Fond zur Korruptionsbekämpfung”, welche ihn am 20. August 2020 begleiteten, direkt oder indirekt über die zuständigen Behörden der Russischen Föderation von der für sie möglichen Gefahrenlage durch Nowitschok in Kenntnis gesetzt? Wenn ja, wann?

Die Antwort:

“Der Botschafter der Russischen Föderation wurde am 2. September 2020 zu einem dringenden Gespräch ins Auswärtige Amt gebeten, im Gespräch wurde ihm u. a. mitgeteilt, dass ein Nervengift der in Russland entwickelten Nowitschok-Gruppe zweifelsfrei durch ein Speziallabor der Bundeswehr nachgewiesen wurde. Zudem wurde die Organisation über das Verbot Chemischer Waffen über den Einsatz eines illegalen Stoffes nach dem Chemiewaffenübereinkommen informiert.

“Die Familie von Herrn Nawalny wurde ebenso unmittelbar über die Befunde informiert. Über Mitteilungen der zuständigen Stellen der Russischen Föderation an Personen und Angehörige aus dem Umfeld von Herrn Nawalny können nur diese Auskunft erteilen.”

Zudem richtete ich eine Anfrage an die Pressesprecherin der Charité Berlin, auf deren Intensivstation Herr Nawalny behandelt wird.

Frage: Wurde Ihre Einrichtung, wenn ja von wem, direkt nach Bekanntwerden der Ergebnisse des Bundeswehrlabors am 2. September 2020 oder nach dem 2. September 2020 über eine mögliche Gefahrenlage für Ärzte, medizinisches Personal, Patienten infolge der Kontaminierung der Intensivstation mit Nowitschok in Kenntnis gesetzt, damit Sofortmaßnahmen zur Gefahrenabwehr, zum Schutz von Leben und Gesundheit und zur Dekontamination eingeleitet werden konnten?

Frage: Wurde die Intensivstation geschlossen und dekontaminiert? Wenn ja, wie lange und von wem?

Frage: Traten bei Ärzten, medizinischem Personal, Patienten, die mit Herrn Nawalny in Kontakt waren/sind, Krankheitssymptome auf, die auf eine Vergiftung mit Nowitschok schließen lassen?

Leider wurde die Anfrage bis Redaktionsschluss dieses Beitrages nicht beantwortet.

So, gehen wir nun die kriminalistische Tippel-Tappel-Tour, vollenden das, was die Investigativen vom Spiegel nicht leisteten. Tatsächlich gäbe es mehr zu analysieren, was Tat, vermeintliche Täter, Opfer, Motiv etc. betreffen. Doch in diesem Aufsatz werde ich einzig die Interaktion des angeblich mit Nowitschok kontaminierten Herrn Alexei Nawalny mit seinem personellen Umfeld am Tage der Tat analysieren. Eine Interaktion, die zwangsläufig zu einer Tragödie für etliche weitere Menschen hätte führen müssen.

Bewegungsprofil von Herrn Nawalny am vermeintlichen Tattag, dem 20. August 2020

Das Team um Alexei Nawalnys “Fond zur Korruptionsbekämpfung” – Pressesprecherin Kira Jarmisch, Projektmanager Ilja Pachomow, der Aktivist Ajrat Muchametschin – verlässt frühmorgens das Tomsker Hotel Xander Richtung Bogaschewo Airport, um nach Moskau zu fliegen. Nach Aussagen von Jarmisch und Muchametschin hat Herr Nawalny bis auf eine Tasse Tee am Flughafen den gesamten Morgen weder etwas getrunken noch etwas gegessen – wir erinnern uns an mögliche Speichel- oder Handspuren mit Nowitschok auf seiner Trinkflasche.

Herr Nawalny stellt sich bei Ankunft im Flughafen in eine der zwei Abfertigungsschlangen für den Flug Tomsk (TOF) nach Moskau (DME) mit dem Flugzeug B738 (VP-BQF), Reise-Nr.: КЛ 541/542. Ein Überwachungsvideo zeigt, wie er und seine Sprecherin Jarmisch nach Passieren der Kontrolle durch den Airport laufen. Nawalny zieht seinen Trolley-Koffer mit bloßen Händen neben sich her.

Im Wiener Café im zweiten Stock setzten sich Nawalny und Jarmisch an einen Tisch, um den herum Personenbewegung stattfindet. Ein älterer Mann mit grauen Haaren und dunkelblauem Hemd sitzt am Nachbartisch und bedient sein Smartphone. Die Tische stehen eng beieinander. Es erscheint Pachomow, ein Mitglied von Nawalnys “Fond zur Korruptionsbekämpfung”, und setzt sich hinzu. Eine Kellnerin bringt Getränke.

Auf einer Fotografie ist zu sehen, wie Nawalny gegen 7.17 Uhr Tomsker Zeit aus einem roten Becher – vermutlich Tee – trinkt. Das Foto wurde von Pawel Lebedjew, einem DJ, der in Tomsk wohnt, geschossen. Er postete es auf Instagram mit der kyrillischen Beschriftung “Guten Morgen, Alexei”. Der “Kremlkritiker”, so Zeugen, lächelte und scherzte mit den Mitreisenden, die ihn erkannten.

Zwischenergebnis: Während des Teetrinkens befanden sich mindestens fünf Personen im engeren Umfeld von Nawalny.

Nach Aufruf des Fluges begibt sich Nawalny Richtung Flughafenbus. Der Passagier Ilja Agejew, ein Kasaner Bürger, der als Schlichter in einem Insolvenzverfahren unterwegs war, lief neben ihm die zwei Treppen zum Bus herunter und sprach ihn an: “Oh! Hallo, wie geht’s? Wahrscheinlich bist du nach Chabarowsk geflogen. Kreisverkehr?” (Anmerkung: In Chabarowsk protestieren momentan Tausende gegen die Moskauer Regierung.) “Nein”, lachte Nawalny, “er wolle nur Sibirien sehen”, beschreibt Agejew das Aufeinandertreffen: Dann sagte er zu Nawalny: “Ich bin auch das erste Mal in Tomsk. Macht es Ihnen etwas aus, ein Foto zu schießen?” “Keine Frage”, entgegnete Nawalny. “Er sah normal aus, lächelte”, so Agejew. Auf dem Foto, offenbar in der Ausgangsschleuse zum Flughafenbus geschossen, sieht man Nawalny, Agejew und im Hintergrund ein Pärchen.

Der Flughafenbus bewegt sich gegen 07.34 Uhr Tomsker Zeit Richtung Flieger. Während der Fahrt lässt sich Nawalny mit weiteren Personen ablichten. Die Aufnahme von “coronavirusdv” zeigt ihn, seinen Begleiter Pachomow sowie einen jungen Mann und eine junge Dame. Das von Muchametschin geschossene Foto zeigt Nawalny mit einem weiteren jungen Mann.

Zwischenergebnis: Auf dem Weg zum und im Flughafenbus erhöht sich die Zahl der Kontaktpersonen auf mindestens elf.

Nawalny und Pressesprecherin Jarmisch nehmen im Flieger ihre Sitzplätze nebeneinander in Reihe 10 der Economyclass ein. Der Sitzplatz von Projektmanager Pachomow befand sich ebenfalls in der 10. Reihe. Der für 7.55 Uhr geplante Take-off findet um 8.06 Uhr Tomsker Zeit statt, knapp eine Stunde nach dem Teetrinken. Das Flugzeug gewinnt an Höhe, das Bordpersonal reicht Getränke; Herr Nawalny lehnt ab. Während der ersten halben Flugstunde fühlt er sich unwohl. Jarmisch: “Er sagte, er fühle sich nicht gut, und bat mich um eine Serviette. Er schwitzte. Er bat mich, mit ihm zu sprechen, weil er sich auf meine Stimme konzentrieren wollte. Ich sprach mit ihm, und dann fragte jemand, ob er Wasser brauche. Er sagte nein. Er sagte, er müsse weg, also ging er aufs WC.”

Zwischenergebnis: Kira Jarmisch hat auf engstem Raum Kontakt zu Herrn Nawalny.

Gegen 08.30 Uhr Tomsker Zeit versucht ein Passagier, die Toilette im Heck des Flugzeuges zu benutzen; Herr Nawalny ist bereits 20 Minuten drin. Eine Schlange bildet sich vor der Tür. Seine Team-Mitglieder erscheinen, um zu sehen, was geschehen ist.

Zwischenergebnis: Der Passagier berührt offenbar Knauf/Klinke der WC-Tür, die vorher von Herrn Nawalny angefasst und geöffnet worden war.

Gegen 08.50 Uhr Tomsker Zeit ist allen vier Flugbegleitern an Bord bewusst, dass es einem ihrer Passagiere nicht gut geht. Eine Stewardess fragt über die Freisprecheinrichtung nach einem Arzt unter den Passagieren. Die Ansage wiederholt sich 15 Minuten später. Zwischenzeitlich rennt eine Stewardess mit drei, vier Decken unter dem Arm Richtung Heck des Flugzeuges.

Um 09.00 Uhr Tomsker Zeit wird der Pilot informiert. Die Flugbegleiter versuchen, Herrn Nawalny Erste Hilfe zu leisten. Sein Assistent Pachomow geht durch den Gang, bittet um medizinische Hilfe. Eine Frau sagt, sie sei Krankenschwester. Sie und die Flugbegleiter konzentrieren sich nun darauf, Nawalny bei Bewusstsein zu halten, der auf einer Decke am Boden quer zum Gang im hinteren Teil des Flugzeugs liegt, der für das Flugpersonal reserviert ist. Die Krankenschwester fordert: “Alexei, trink, trink, Alexei, atme!” Jarmisch und Pachomow stehen nervös daneben. Auf die Frage der Helfer, was passiert sei, sagt Jarmisch: “Ich weiß nicht, er ist wahrscheinlich vergiftet.” Nawalny spricht nicht, gibt jedoch monotone Schreie und Stöhnlaute in längeren Sequenzen von sich.

Zwischenergebnis: Vier Flugbegleiter und eine Krankenschwester sowie Jarmisch und Pachomow haben auf engstem Raum Kontakt zu Herrn Nawalny.

Der Pilot meldet über Lautsprecher: “Da es einer Person an Bord schlecht geht, treffe ich eine Entscheidung. Wir landen am Flughafen in Omsk.” Während des halbstündigen Landeanfluges steht ein männlicher Helfer neben Herrn Nawalny und hält offenbar einen Tropf. Um 09.01 Uhr Ortszeit Zeit landet das Flugzeug auf dem Flughafen Omsk. An der Flugzeugnase warteten bereits zwei Krankenwagen. Fünf Mediziner vom Medizinischen Gesundheitszentrum des Flughafens, Erdgeschoss Terminal B, eilen an Bord, untersuchen Herrn Nawalny und sagen: “Das ist kein Fall für uns – er braucht intensive Pflege.”

Ein Sanitäter ruft die Schnelle Medizinische Hilfe, bittet, direkt zum Landeplatz zu fahren, da sich der Patient in einem ernsthaften Zustand befinde. Der Sanitäter erklärt am Telefon, welche Farbe das Flugzeug hat, fordert den Fahrer auf, nahe der Gangway zu halten. Die Ärzte messen Nawalnys Blutdruck, legten ihm intravenös einen Tropf. Nach zehn bis fünfzehn Minuten trifft der Krankenwagen ein. Drei medizinische Kräfte laufen durch den Gang zu Nawalny, legen ihn auf eine Trage und transportieren ihn durch den hinteren Notausgang. Das war gegen 09.37 Uhr Omsker Zeit.

Zwischenergebnis: Mindestens acht medizinische Helfer haben auf engstem Raum Kontakt zu Herrn Nawalny.

Der bewusstlose Nawalny wird von vier Rettungskräften aus dem Flugzeug gebracht, auf einer Trage zum Krankenwagen Nr. 484 der Schnellen Medizinischen gerollt und eingeladen. Dabei stehen weitere fünf Personen in gelben Warnwesten. Nawalnys Projektmanager Pachomow nimmt im Flieger sein Gepäck und Nawalnys Trolley-Koffer auf. Zuerst begibt er sich damit zur Nase des Flugzeuges, steht und redet, doch als beschlossen wird, Nawalny durch das Heck hinauszutragen, begibt er sich mit Jarmisch ebenfalls dorthin und verlässt das Flugzeug. Auf dem Flugfeld diskutiert Pachomow noch kurz mit den Medizinern, versucht offenbar, Herrn Nawalnys Trolley-Koffer noch im Krankenwagen unterzubringen, doch das scheitert.

Eine Rettungskraft schließt die Hecktür, der Transport fährt direkt ins Omsker Notfallkrankenhaus Nr. 1, Intensivstation, Perelyota Street 9, Uliza Pereljota 9.

Zwischenergebnis: Die Zahl der Kontaktpersonen potenziert sich in der Folge.

Ermittlungsergebnis: Ungelöst bleibt das Rätsel um Herrn Nawalnys Trinkflasche. Wie aber sind die Spuren von Nowitschok dorthin gekommen, wenn er die Flasche an jenem Morgen überhaupt nicht in der Hand hatte oder zum Trinken benutzte? Jarmisch und Muchametschin sagten doch, er habe an dem Morgen weder getrunken noch gegessen – ausgenommen den Tee am Flughafen. Florian Rötzer schrieb dazu auf Telepolis:

Weiter heißt es beim Spiegel, wobei unklar ist, wer diese Schlussfolgerung zog: ‘Vermutlich hatte Nawalny aus der Flasche getrunken, als er bereits vergiftet war, und so die Spuren des Giftes dort hinterlassen.’ Dann müsste Nawalny eine Bedrohung für alle Anwesenden gewesen sein und auch für ‘Angehörige’, die die Flasche berührten, sofern sie keine Schutzhandschuhe getragen haben. Aus der Formulierung muss man schließen, dass die Spuren auf den Händen und außen auf der Flasche gefunden wurden.

Trotz allem bleibt: Falls Herr Nawalny tatsächlich mit dem tödlichen Nervengift kontaminiert und dieses auf seiner Haut nachweisbar war, dürfte er das Teufelszeug auch auf den Griff seines Trolley-Koffers übertragen haben, den er ja nach dem Genuss des Tees bis zum Sitzplatz in der 10. Reihe des Flugzeuges selbst transportierte. Und jenen Koffer trug sein Assistent Pachomow nachher aus dem Flugzeug, versuchte erfolglos, ihn in den Krankentransport zu hieven, um ihn anschließend in seine Obhut zu nehmen und mit sich herumzutragen.

Pachomow hat sich nicht am Nervengift Nowitschok vergiftet. Ich habe ihn angeschrieben, so auch Jarmisch. Beide antworteten zwar nicht, doch es geht ihnen gut: Sie twittern seit dem 20. August bis zum heutigen Tag. Ich habe auch das Medizinische Gesundheitszentrum des Flughafens Omsk und das Omsker Notfallkrankenhaus Nr.1 angeschrieben; sie meldeten keine Opfer. Auch die Personen, die sich mit Herrn Nawalny im Flughafen und im Zubringerbus ablichten ließen, sind lebenslustig und gut drauf: Davon zeugen ihre Twitter- und Instagram-Kanäle.

Ich habe auch im Bereich Forschung für Massenspektrometrie & Bioanalytik in der Berliner Charité angefragt, um die Dinge besser verstehen zu können. Frage: Wieso waren die Spezialisten der Charité nicht in der Lage, Acetonitril bzw. organische Phosphatverbindungen – daraus bestehen Nowitschok-Gifte – in Blut und Urin von Herrn Nawalny nachzuweisen? Mein Stand der Dinge – ich weiß nicht, ob ich richtig liege – ist, dass die Charité doch Zugang zu modernsten Untersuchungsgeräten und Techniken hat, die eben das möglich machen sollten: Quadrupole-Orbitrap-Massenspektrometer, Linear -Ion-Trap-Massenspektrometer, Triple-Quadrupole-Massenspektrometer, Quadrupole-Time of Flight Massenspektrometer.

Die Antwort kam prompt: Zum Fall Nawalny können man keine Auskunft geben, aber “danke Ihrer Nachfrage. Spannende Themen, an denen sie arbeiten”. Und: “Die Charité Universitätsmedizin Berlin verfügt über modernste Analytische Technologien, und über qualifizierte Mitarbeiter, die diese einzusetzen wissen.” Das spricht für sich.

Was ich jedoch nicht weiß, ist, wie viele Male das mit dem extrem tödlichen Nervengift kontaminierte Flugzeug bisher wieder abgehoben ist, wie viele russische Passagiere die kontaminierte Flugzeugtoilette, in der Herr Nawalny kollabierte, benutzt haben, ohne tot umzufallen.

Bleibt nur noch abzuwarten, was das NATO-Propaganda-Outfit “Bellingcat”, Der Spiegel und The Insider auftragsgemäß “ermitteln” werden. Ich nehme an, sie werden der Welt demnächst die Namen von ein oder zwei GRU-Agenten verkünden: Der eine hat den Tee gekocht, der andere den Zucker beigemischt. Bleiben auch Sie bis dahin auf der “russischen Spur“!

Zuerst erschienen bei RT-Deutsch am 10.09.2020