Von Arnold Schölzel
“junge Welt” vom 26.09.2013:
Johanna Olbrich lebte von 1926 bis 2004. Ab dem 14. Lebensjahr besuchte sie eine Lehrerbildungsanstalt in Oberschlesien und hatte bei Kriegsende ein Erlebnis, »das für ihr ganzes weiteres Leben zum Schlüsselereignis werden sollte«. So formulierte es Markus Wolf, der langjährige Chef der DDR-Auslandsaufklärung, an ihrem Grab. Beim Versuch, im Januar 1945 in ihren Heimatort Lauban (heute Luban) zurückzukommen, begegneten sie und ihre Mitschülerinnen einer langen Marschkolonne, in der KZ-Häftlinge aus Auschwitz von SS-Mannschaften unter unmenschlichen Bedingungen vorangetrieben wurden. Die jungen Frauen sahen fassungslos die vielen erstarrten Toten am Straßenrand.
In ihren Erinnerungen, die nun unter dem Titel »Die Topagentin. Johanna Olbrich alias Sonja Lüneburg« von Günter Ebert ergänzt (z.B. durch Wolfs Grabrede) und herausgegeben wurden, nennt die spätere »Neulehrerin« in der Sowjetischen Besatzungszone dieses Geschehen als stärkstes Motiv für ihre Entscheidung, sich für die DDR zu engagieren und 1964 Ja zu sagen, als sie gefragt wurde, ob sie in geheimem Auftrag ins westliche Ausland gehen könne. Seit 1967 war sie in der Bundesrepublik unter dem Namen Sonja Lüneburg gemeldet, arbeitete zunächst in kleinen Büros der Versicherung DAS, seit 1969 an zentraler Stelle bei der FDP in Bonn und schließlich vor allem für den damaligen FDP-Abgeordneten und Generalsekretär der Partei, Martin Bangemann. Er wurde 1984 Bundeswirtschaftsminister, ein Jahr danach kehrte Johanna Olbrich überstürzt in die DDR zurück: Sie hatte falsche Papiere in Rom verloren und das Risiko einer Enttarnung erschien zu hoch. An ihrem neuen Wohnort Bernau bei Berlin wurde sie nach dem Anschluß der DDR – also bereits als Strafrentnerin – am 11. Juni 1991 verhaftet, kam gegen (geliehene) Kaution frei und wurde im Februar 1994 zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb zu ihrem Fall von einem »fundamentalistisch anmutenden Zusammenwirken von Bundesanwaltschaft, Bundesgerichtshof und Oberlandesgericht Düsseldorf«. Zu ergänzen wäre: Begleitet war das von der üblichen selbstgerechten Medienkampagne. Erst das Bundesverfassungsgericht stoppte den Justizskandal zweimal durch einstweilige Anordnungen und erklärte später einen Teil der Verfassungsbeschwerde Johanna Olbrichs für »offensichtlich begründet«. Martin Bangemann verhielt sich übrigens im Verfahren und danach weiterhin freundschaftlich zu ihr.
Herausgeber Günter Ebert stellt das Buch am 29.09.2013 um 19 Uhr in der jW-Ladengalerie (Torstr. 6, Berlin) vor