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Rede von Lühr Henken, Ko-Sprecher Bundesausschuss Friedensratschlag und Aktivist in der Berliner Friedenskoordination auf der Kundgebung der Berliner Friedenskoordination anlässlich des 77. Jahrestages des Überfalls des Hitlerfaschismus auf die Sowjetunion, (Neue Wache, Berlin am 22. Juni 2018).
Liebe Freundinnen und Freunde,
Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion und die Politik der „verbrannten Erde“ von SS und Wehrmacht hinterließen 27 Millionen tote Sowjetbürger und 70.000 zerstörte Städte und Dörfer. Es ist kaum vorstellbar und öffentlich wenig bekannt, dass die USA, bereits ein Vierteljahr nach den verheerenden Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki eine nukleare Aufrüstung begannen, die sich gegen die Sowjetunion richtete. „Atombombenziel Sowjetunion“[1] hieß der Geheimplan vom November 1945. Der erste dieser US-Pläne beinhaltete Atomschläge auf 20 Zentren in der Sowjetunion. elf weitere Pläne folgten. Die USA stellten Atombomben – sie hatte 1956 bereits 15.000 davon – Langstreckenbomber, Interkontinentalraketen usw. quasi am Fließband her. 1959 nahmen die US-Atomwaffen 20.000 sowjetische Ziele ins Visier. Ja, ihr hört richtig: 20.000.
Die Sowjetunion verfügte anfangs über keine Atombomben, hatte 1954, als die USA bereits über 1.000 Langstreckenbomber verfügten, gerade einmal 20 davon. Die US-Begründung war von Anfang an – und sie wurde ständig wiederholt: Der Schutz vor einem bevorstehenden sowjetischen Angriff.
Diese Behauptung war allerdings eine Erfindung. Denn schon im Januar 1945 hatte der “Vereinigte Geheimdienststab“ der USA festgestellt, dass die sowjetische Führung durchaus wusste, dass das Land wegen der großen Kriegsverluste in der Nachkriegszeit militärisch sehr schwach sein und alles daran setzen werde, „um“ – so wörtlich – „internationale Nachkriegskonflikte zu vermeiden.“ Würde doch jede „Fortsetzung der Hochrüstung über das Kriegsende hinaus“ den sozialen und ökonomischen Wiederaufbauprozess enorm beeinträchtigen.[2]
Dass es sowjetische Angriffsabsichten nicht gab, belegen auch Aussagen von vier US-amerikanischen Kennern sowjetischer Politik. Diese US-Experten waren Ex-Verteidigungsminister Robert McNamara, der ehemalige Botschafter in Moskau George F. Kennan und die beiden Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats der USA McGeorge Bundy und Gerard Smith. In den 80er Jahren machten sie klar, „dass in der Führung der UdSSR niemand eine Neigung gehabt hätte, eine militärische Überlegenheit zu erreichen, um einen Angriffskrieg zu führen oder eine Weltrevolution zu inszenieren, noch habe es sowjetische Invasions- oder atomare Erstschlagspläne gegeben. Vielmehr habe die sowjetische Rüstung defensiven und abschreckenden Charakter gehabt.“[3]
Mit immer neuen Lügen über angebliche Rückstände (zum Beispiel: Lücken bei Raketen, Bomberflugzeugen und bei den Verteidigungsausgaben) trieb der militärisch-industrielle Komplex der USA ihre atomare Aufrüstung voran. Die US-Nuklearstrategien wurden alle auch zu NATO-Strategien. Sie trugen täuschende Titel:
Zuerst die „Vorneverteidigung“, dann die „Massive Vergeltung“ dann die „Flexible Response“.
Alle diese Doktrinen waren mehr oder weniger verdeckte Atomangriffspläne, die in immer verfeinerten Taktiken den Ersteinsatz von Atomwaffen beinhalteten, sich aber als Verteidigung tarnten. Seit 1955 ist Westdeutschland NATO-Mitglied und trägt Mitverantwortung für diese Entwicklung.
Die aggressive US-Atomkriegsplanung erfuhr ihren Höhepunkt unter Präsident Reagan. 1980 veröffentlichte Colin S. Gray seine Kriegsführungsdoktrin „Victory is possible“, die nun nicht mehr eine Entwaffnungsstrategie, sondern eine Enthauptungsstrategie war. Ich zitiere „Die sowjetischen Führer werden weniger von dem amerikanischen Willen, einen begrenzten Atomkrieg gegen sie zu führen, beeindruckt sein, als vielmehr durch eine umfassende und plausible amerikanische Siegesstrategie. Eine solche Strategie muss die Zerstörung der sowjetischen Staats-, Partei- und Führungsorgane durch chirurgische Einzelschläge einschließen. Die Vereinigten Staaten müssen also planen, die Sowjetunion in einem begrenzten Atomkrieg zu besiegen, und zwar zu einem Preis, der das Überleben der USA gewährleistet.“[4]
Diese Strategie wurde in die offizielle US-Verteidigungsrichtline für 1984 bis 1988 aufgenommen. Sie sah den Enthauptungsschlag vor, eine erste offizielle Kriegsführungsstrategie, die im Ernstfall „einen sechs Monate dauernden Atomkrieg“ gegen die UdSSR plante.[5] Eventuelle sowjetische Restgegenschläge sollten durch ein zu entwickelndes weltraumgestütztes SDI-System abgefangen werden.
Das war ein unverantwortlicher Wahnsinn. Aber die US-Verantwortlichen waren nicht etwa verrückt, sondern planten das mit Vorsatz. Realisiert werden sollte das mit strategischen Enthauptungsschlagwaffen Pershing II und Cruise-Missiles, die vor allem in Westdeutschland stationiert werden sollten.
Die NATO trieb die Spannungen immer näher an den atomaren Abgrund. Umfangreiche Militärübungen in Grenznähe provozierten die Warschauer-Pakt-Staaten zusehends und hätten zu sowjetischen Präventivhandlungen verleiten können, die dann die Begründung für den NATO-Angriff geliefert hätten.
Zu all dem kam es nicht. Die Sowjetunion brach – nicht zuletzt unter der Last der Kosten für die Rüstung – zusammen. Sie war tot gerüstet worden.
Ich schildere die NATO zu Zeiten des Kalten Krieges so ausführlich, um aufzuzeigen, dass sie vom ersten Tage ihres Bestehens an ein aggressives Bündnis ist – kein Verteidigungsbündnis, so wie es in ihren Mitgliedsländern ihr vorherrschendes Image ist. Aggressivität ist ihr Kontinuum von 1949 bis heute.
Auch heute gilt: Anknüpfend an die Zeit des Kalten Krieges wird den Russen eine Angriffsabsicht auf NATO-Gebiet unterstellt, gegen die wir uns zu verteidigen hätten. Das ist ein Standardargument, das kaum noch jemand hinterfragt. Das ist insofern eigenartig, weil Fakten auf dem Tisch liegen, die diese Behauptung als geradezu absurd entlarven.
Die Kräfteverhältnisse: Russland ist zwar riesig an Fläche, aber die Einwohnerzahl ist gemessen daran, klein. In den NATO-Staaten leben über 900 Millionen Menschen, in Russland weniger als 150 Millionen. Und bei der Wirtschaftleistung ist der Unterschied noch viel gravierender. Er beträgt 20 zu 1 zu Gunsten der NATO-Staaten. Der Westen ist ein wirtschaftlicher Riese, Russland ein Zwerg.
Schauen wir die Kräfteverhältnisse auf dem militärischen Gebiet an. Auch dort herrscht ein immenses Ungleichgewicht zugunsten der NATO. Erfreulicherweise hat die Deutsche Welle im Februar einen militärischen Kräftevergleich veröffentlicht. Demnach verfügt die NATO mit knapp 3,5 Mio. Soldaten über das 4,4 fache Russlands, die NATO hat 25 Prozent mehr Kampfpanzer, sie hat das 2,8 fache an Kampfhubschraubern, das Vierfache an Kampfflugzeugen. Die NATO hat das 2,7 fache an Zerstörern, Fregatten und Korvetten und das 2,6 fache an U-Booten. Während die NATO-Staaten 27 Flugzeugträger nutzen, hat Russland nur einen. Bei den Militärausgaben ist die NATO-Übermacht am deutlichsten: mit 881 Mrd. US-Dollar gibt sie das 13 fache aus wie Russland. Nur in einem einzigen Rüstungsbereich hat Russland mehr als die NATO: Es hat 8 Prozent mehr Artilleriesysteme.[6]
Also auch im konventionellen militärischen Vergleich gilt: Die NATO ist der Riese, Russland der Zwerg.
Angesichts dieser massiven westlichen Überlegenheit im konventionellen Bereich ist Russland nicht bereit, seine taktischen Nuklearwaffen abzurüsten. Allerdings senkt Russland seine Militärausgaben seit 2016. In 2017 sogar um 20 Prozent. Für dieses und nächstes Jahr sind weitere Senkungen angekündigt.
Russland ist im konventionellen Bereich gegenüber der NATO uneinholbar unterlegen. Russland bleibt als Abwehrmaßnahme nur die Fähigkeit eines atomaren Zweitschlags. Die russische Doktrin sagt: Atomwaffen kommen erst dann zum Einsatz, wenn es atomar angegriffen wird oder durch einen konventionellen Angriff in seiner Existenz bedroht ist. Ein Angriff auf Russland bedeutet also in letzter Konsequenz Atomkrieg und den Untergang des Lebens schlechthin. Das sollte die NATO niemals austesten wollen.
Liebe Freundinnen und Freunde, können wir sicher sein, dass sie es nicht tut? Die Indizien deuten auf etwas anderes hin. Aus Zeitgründen nenne ich nur wenige: Immer mehr NATO-Großmanöver und Soldatenstationierungen an den russischen Westgrenzen, die Verdreifachung der Schnellen Eingreiftruppe der NATO, die Aufstellung eines Raketenabwehrsystems, das, wenn es einmal entwickelt ist, die russische nukleare Zweitschlagskapazität unbrauchbar machen könnte, die Politik der Offenen Tür für immer neue NATO-Mitglieder und die Aufforderung an die NATO-Staaten, ihre Militärhaushalte auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts hochzufahren.
Liebe Freundinnen und Freunde: Wir befinden uns in einer immer gefährlicher werdenden Spirale der Aufrüstung und der Eskalation. Damit steigt auch die Gefahr eines Krieges aus Versehen. Wir sind aufgerufen, unseren Widerstand dagegen zu setzen! Die Probleme in Europa können nicht durch Säbelrasseln und Kriegsgeheul gelöst werden. Vielmehr liegt in der Kooperation die Lösung, die für alle Seiten von Vorteil ist. Die Gegensätze und Ungleichgewichte zwischen NATO und Russland müssen abgebaut werden. Die Abrüstung von Bundeswehr, NATO und EU ist das Gebot der Stunde. Danke für die Aufmerksamkeit.
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[1] Jürgen Bruhn, Der kalte Krieg oder: Die Totrüstung der Sowjetunion, Gießen 1995, 263 Seiten.
[2] Memorandum of the Joint Intelligence Staff, Capabilities an Intensions of the USSR in the Post-War Period, JIS 80/2, January 6, 1945, National Archives, Washington D.C., zit. n. Bruhn S. 20
[3] Bruhn S. 223
[4] Bruhn S. 197
[5] Bruhn S. 206
[6] Welt am Abgrund? Der Münchner Sicherheitsbericht, Deutsche Welle, 8.2.18,