Sevim Dagdelen
Geheime Quellen: Der scheidende BND-Chef wähnt Russland in wenigen Jahren vor einem Angriff auf die NATO. Die Geschichte erinnert fatal an „Curveball“, dessen Mär von den Massenvernichtungswaffen im Irak einst den illegalen US-Krieg rechtfertigen sollte.
Das Ende für BND-Präsident kam schnell. Bereits bekannt war, dass Bundeskanzler Friedrich Merz den Chef des Bundesnachrichtendienstes auf einen der wichtigsten deutschen Botschafterposten – im Vatikan – abschieben wollte. Nun aber wurde über die Presse bereits die Nachricht von seinem Nachfolger durchgestochen. Künftig soll der Kriegsfalke Martin Jäger, bisher deutscher Botschafter in der Ukraine, übernehmen. Seine Sporen hatte er sich bereits während des Afghanistan-Feldzugs in Kabul verdient. Er gilt ohne Wenn und Aber als der Mann für deutsche Kriegsbeteiligungen und Stellvertreterkriege.
Der letzte Dienst des scheidenden Präsidenten
Der glücklose Kahl, der am 24. Februar 2022 vom Ukraine-Krieg in Kiew überrascht wurde, war damit endgültig erledigt. Doch fast wie zum Dank dafür, dass man ihn nicht ins Bodenlose fallen ließ, erwies er seinen Arbeitgebern noch einen letzten Liebesdienst. Kurz vor dem Verlassen des BND-Schiffs kam Kapitän Kahl zu der Erkenntnis, dass ein Angriff Russlands auf die NATO in wenigen Jahren zu erwarten sei. „Wir sind sehr sicher und haben dafür auch nachrichtendienstliche Belege, dass die Ukraine nur ein Schritt auf dem Weg nach Westen ist“, postulierte der BND-Chef. Und weiter zu den russischen Angriffsabsichten: „In Moskau gibt es Leute, die glauben nicht mehr, dass Artikel 5 der NATO funktioniert. Und sie würden das gerne testen.“
Geheimnisse statt Beweise
Genau bei diesen angeblichen Belegen für die geplante Aggression beginnt das Problem. Denn es handelt sich um geheimdienstlich gesammelte Informationen, die nicht veröffentlicht werden dürfen – dies würde wiederum die Quellen gefährden, durch die sie gewonnen wurden.
Kahls Prophezeiungen sind für die deutsche Politik nicht unerheblich, da sie die gigantische Aufrüstung Deutschlands rechtfertigen sollen, die auf dem kommenden NATO-Gipfel als gemeinsames Ziel aller Mitglieder des Militärpakts verankert werden soll: 5 Prozent des BIP, 225 Milliarden Euro jährlich fürs deutsche Militär – die Hälfte des deutschen Staatshaushalts. Eine historische Aufrüstung zur größten Armee Europas ist geplant, legitimiert durch die nicht überprüfbaren Erkenntnisse des deutschen Auslandsgeheimdienstes. Aus jahrelanger eigener Erfahrung als Mitglied diverser Bundestagsausschüsse muss ich feststellen, dass dieser neue Alarmismus von Kahl nicht zu seinen bisherigen parlamentarischen Auftritten passt.
Die alte Lüge lebt: Rückkehr von „Curveball“
Unwillkürlich wird man an eine andere nachrichtendienstliche Quelle des BND erinnert, die half, den US-Angriffskrieg gegen den Irak 2003 zu legitimieren: „Curveball“ – so der Tarnname eines irakischen Chemikers, der in Deutschland Asyl suchte und sein Gesuch mit einer erfundenen Geschichte überfahrende irakische Chemiewaffenlabore untermauerte. Der BND nahm diese Lügengeschichte für bare Münze und leitete sie als „nachrichtendienstliche Erkenntnis“ an die Kollegen in den USA weiter. Deren Außenminister Colin Powell trug die Räuberpistole dann eindrucksvoll bebildert im UN-Sicherheitsrat vor. Die USA hatten endlich ihren Kriegsgrund – und der BND hatte dabei wertvolle Hilfe geleistet.
Nur ein kleines Publikum interessierte sich Jahre später für die Enthüllungen, die den BND-Sumpf rund um „Curveball“ offenlegten. Vielleicht kam die Offenlegung den USA sogar gelegen, um Deutschland mit in die Verantwortung nehmen zu können. Kahl wird – wie der BND damals bei „Curveball“ – auch jetzt auf der Geheimhaltung seiner Quellen bestehen. Damit aber ist der Boden bereitet: für Lügen, die nicht nur die NATO-Hochrüstung rechtfertigen, sondern letztlich auch einen Krieg gegen Russland legitimieren könnten. Und auch wenn sich später kaum jemand an den Mann im Vatikan erinnert – seine Kriegslügen werden weiterleben und Deutschland womöglich ein Stück näher an einen Kriegseintritt gegen Russland gebracht haben.
Die Wahrheit – bewusstlos geschlagen
Oft heißt es, die Wahrheit sei das erste Opfer des Krieges. Doch das stimmt so nicht. Die Wahrheit wird lange vor einem Krieg bewusstlos geschlagen, um diesen vorzubereiten. Es liegt an uns allen, dieser Wahrheit wieder auf die Beine zu helfen.
Sevim Dagdelen war von 2005 bis 2025 Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Politikerin ist außenpolitische Sprecherin der Gruppe „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW)
Zuerst erschienen in Overton Magazin am 12. Juni 2025