Oleg Nesterenko
Für Oleg Nesterenko hat die Sicht des Westens auf den Krieg eine „Schlagseite”, bedingt durch die staatliche und mediale Propaganda mit ihren negativen Auswirkungen auf die Freiheit des Denkens. Die Meinungsfreiheit im Westen ist laut Nesterenko mangels echter Gedankenfreiheit eine Illusion. Zur Dauer des Ukrainekonflikts, zu Vermittlungsbemühungen, westlicher Meinungsfreiheit und den Konturen einer neuen Weltordnung bringen die NachDenkSeiten den dritten und letzten Teil der Interviewreihe über den Krieg in der Ukraine aus der Sicht eines Russen. Übersetzung von Heiner Biewer. Teil eins und zwei sind im Anschluss an diesen Artikel noch einmal verlinkt.
Wer hat weshalb ein Interesse daran, diesen Krieg in die Länge zu ziehen?
Die Ankündigungen, dass Putin den Krieg innerhalb von zwei Wochen beenden wolle, wurden ausschließlich von den Massenmedien und der „atlantischen” Propaganda im Rahmen des Informationskriegs gemacht, den sie gerade gegenüber ihren westlichen Wählern führen. Es ist ein grundlegendes Werkzeug der Manipulation, anderen absurde Handlungen oder Aussagen zuzuschreiben und sie dann mit großem Pomp zu diskreditieren.
Auf russischer Seite wurden solche Dummheiten niemals geäußert. Warum?
Nehmen wir den Krieg in Tschetschenien. Dieser Krieg dauerte zwei Jahre, von 1994 bis 1996. 1999 bis 2000 wurden sieben Monate lang zusätzliche Operationen durchgeführt, um das Problem zu beseitigen. Der Tschetschenienkrieg wurde auf einem winzigen Gebiet und gegen Kräfte geführt, die unvergleichlich kleiner und schwächer bewaffnet waren als die vor dem russischen Gegenschlag im Februar 2022 vom kollektiven Westen über sieben Jahre hin gestärkte ukrainische Armee. Und es gibt immer noch Witzbolde, die vom Plan eines zweiwöchigen Krieges sprechen. Nein, Russland ist nie auf die Idee gekommen, sich mit Israel im Sechstagekrieg zu verwechseln…
Ein paar Worte zum Krieg in Tschetschenien, der im Westen ebenfalls verkannt oder, genauer gesagt, unter den Teppich gekehrt wird. Es handelte sich um eine Anti-Terror-Operation, denn auf der Gegenseite standen islamistische Terroristen, die Ideologien vertraten, die nichts mit dem traditionellen Islam gemein haben und nicht mit ihm verwechselt werden dürfen; Letzterer regelt das Leben in muslimischen Ländern weltweit auf völlig vernünftige Weise, auch in Russland, wo die muslimische Gemeinschaft sehr groß ist. Viele wissen nicht, dass fast ein Drittel der Bürger der Russischen Föderation Muslime sind. Und das sind nicht etwa Muslime, die von anderswo herkommen, sondern Muslime, für die das Land Russland die historische Heimat ist.
Was die tschetschenischen Islamisten der Unabhängigkeitsbewegung betrifft, die sehr stark von radikalen Bewegungen aus dem Ausland beeinflusst wurden, so begannen sie bereits 1991 mit der Gründung des tschetschenischen islamischen Staates Itschkeria: mit der Einführung der Scharia ab 1995, Steinigungen, öffentlichen Enthauptungen und anderen liebenswerten Eigenschaften eines Kalifats, das diesen Namen verdient. Diese radikalen Islamisten wurden erneut direkt und offiziell von der wohlwollenden westlichen Gemeinschaft, darunter Frankreich, unterstützt, parallel zur Anerkennung des tschetschenischen islamischen Staates durch zwei vom Westen gesponserte ehemalige große Freunde: das Afghanistan der Taliban und das Georgien von Swiad Gamsachurdia.
In der Tat war der „atlantische” Westen nicht erst seit gestern, sondern seit 1944 und vor allem in den letzten 30 Jahren bereit, den Teufel persönlich zu unterstützen, wenn er entweder russophob war oder bereit war, Russland zu bekämpfen.[1] Mit dieser Aussage übertreibe ich nur wenig.
Zurück zum Krieg in der Ukraine. War dieser Krieg unvermeidlich?
Russland konnte nicht umhin, in den Krieg einzutreten. Wenn es das nicht getan hätte, wäre die Ukraine mittelfristig in die NATO eingetreten. Von den Massakern gegenüber der Bevölkerung im Donbass will ich gar nicht erst reden. Wer sagt, dass die ukrainischen Ultranationalisten keinen Massenmord verübt hätten, der tausendmal größer gewesen wäre als der in Odessa 2014, wenn sie die Kontrolle über die Städte Donezk und Lugansk übernommen hätten, weiß nicht, wovon er redet.
Die totale Säuberung von allem, was russisch oder prorussisch ist, war und ist immer noch Teil von Kiews Plänen. Und wenn Sie drei Viertel der Bevölkerung in diesen Regionen haben, die das Kiewer Regime und alles, wofür es steht, zutiefst verabscheuen (ich weiß, wovon ich spreche), dann stellen Sie sich das Ausmaß der Massaker vor, die stattgefunden hätten, wenn Russland sie ihrem Schicksal überlassen hätte.
Natürlich sind nicht alle Ukrainer Ultranationalisten oder Neonazis, aber ihr Anteil in der Ukraine ist recht groß und vielfach größer als der der extremen Rechten in Frankreich. Außerdem ist es ein großer Unterschied, ob man ein marginaler Extremist oder ein Extremist ist, der die Macht in einem Land erlangt hat.
Die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation ist groß, wenn die Ukraine in die NATO aufgenommen wird. Wenn Kiew einseitig Feindseligkeiten zur Eroberung der Krim beginnen würde, beispielsweise ohne die Zustimmung von Paris – und Kiew hat durchaus die Absicht, dies zu tun –, würde Russland der Ukraine den Krieg erklären. Es würde einem NATO-Land den Krieg erklären. Und im Rahmen von Artikel 5 der NATO wäre Paris, sofern es nicht sofort aus der Organisation austritt, gezwungen, offen Krieg gegen Moskau zu führen und nicht stellvertretend, wie es das heute tut. Wenn dies geschehen würde, wäre es nahezu unmöglich, dass Russland nicht mit einem oder mehreren gezielten Schlägen mit taktischen Nuklearwaffen vorgehen würde. Dies ist eindeutig in der russischen Militärdoktrin verankert, da gibt es nichts zu interpretieren.[2] Und wenn es auf diesen taktischen Nuklearschlag auch nur die geringste Gegenreaktion seitens der NATO gibt, wird die Menschheit die Apokalypse erleben.
Ich bin sehr erstaunt, dass die sogenannten Experten, die die Fernsehstudios bevölkern und von denen viele an einer schweren Form analytischer Kurzsichtigkeit leiden, nicht in der Lage sind, zu verstehen: Indem die Russische Föderation die Ukraine daran hindert, der NATO beizutreten, ist sie dabei, die Welt zu retten. Es wird die Jünger des Atlantizismus empören, aber ich sage: Der laufende Krieg rettet die Welt.[3]
Die Frage ist nicht, ob der Atomschlag stattfinden, sondern wer das erste Ziel sein würde, um damit alle anderen, die sich auf einen russischen Bluff verlassen, „abzukühlen” – der „Bluff”, von dem jeder in Europa noch am Tag vor Russlands Kriegseintritt gesprochen hat und aus dem offenbar immer noch niemand auf Seiten der NATO etwas gelernt hat.
Was den Westen betrifft, so gibt es keine Hinweise darauf, weder wirtschaftliche noch militärische, dass die Beteiligung an diesem Krieg auf Dauer angelegt war. Ursprünglich war geplant, Russland in die Position des Aggressors zu bringen und dann Sanktionen zu verhängen. Damals waren fast alle atlantischen Analysten der Ansicht, dass diese Sanktionen ausreichen würden, um die russische Wirtschaft zusammenbrechen zu lassen und Russland die Fähigkeit zur Fortsetzung der Konfrontation zu nehmen.
Die Idee war also, Russland untragbare wirtschaftliche Bedingungen aufzuzwingen, seine Bevölkerung gegen die Machthaber aufzuwiegeln und so Russland zum Zusammenbruch zu bringen. Was ist das Ergebnis? Die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union, deren Industrie auch gegenüber den USA durchaus wettbewerbsfähig war – größtenteils aufgrund der billigen und durch langfristige Verträge gesicherten Energielieferungen Russlands –, wurden zerstört; und zwar auf sehr lange Sicht zerstört. Dies ist ein sehr großer Sieg für die USA.
Die Idee war auch, Russland in die Knie zu zwingen, damit es in einem künftigen Krieg, der unweigerlich zwischen den USA und China stattfinden wird, China nicht unterstützen kann, insbesondere was Energie und Nahrungsmittel angeht.
Das hat nicht funktioniert. Russland hat sich wirtschaftlich gesehen als viel widerstandsfähiger erwiesen, was mich persönlich nicht überrascht, da ich das Währungssystem, die regulierenden Maßnahmen der russischen Zentralbank und die Reserven, über die Russland verfügt, ein wenig kenne.
Aus dem geplanten „Blitzkrieg” gegen Moskau ist ein Zermürbungskrieg geworden. Moskau hat die USA und den kollektiven Westen gezwungen, etwas zu tun, das nicht geplant war. All die Probleme, die wir heute in den USA und der EU im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine sehen (Waffenlieferungen, wirtschaftliche Komplikationen usw.), waren nicht geplant. Sie dachten, sie würden den Gürtel für ein paar Monate enger schnallen. Es ist anders gekommen. Und es sind die Bevölkerungen, die die Rechnung bezahlen und noch sehr lange bezahlen werden.
Bleibt nach dem Scheitern Israels und der Türkei noch ein Platz für Vermittlung? China?
Wenn man von Vermittlung – durch China oder wen auch immer – spricht, steht dahinter kein wirkliches Einflusspotenzial. Es wäre nur eine Art Schutzwall zwischen zwei Parteien, zwischen Russland und der Ukraine, der nicht in der Lage ist, irgendjemanden zu beeinflussen. Selbst die Ukraine hätte bei solchen Verhandlungen nichts zu melden. Echte Friedensverhandlungen sind nur zwischen Russland und den USA möglich. Alle anderen Parteien, die die Rolle des Vermittlers oder Teilnehmers spielen wollen, sind nur Statisten.
Wenn Emmanuel Macron, der die Waffen und die Munition liefert, mit denen Russen getötet werden, sich als Vermittler ins Spiel bringt, fällt es mir schwer zu verstehen, was in seinem Kopf vor sich geht – sich vorzustellen, dass Moskau auch nur für einen Moment die verrückte Idee akzeptiert, ihm auch nur die geringste Rolle in künftigen Gesprächen zu gewähren.
Wenn man sagt, dass echte Friedensverhandlungen nur zwischen Russland und den USA möglich sind, muss man betonen, dass die USA in der Vergangenheit, z.B. während der Kubakrise, des Koreakriegs und des Vietnamkriegs, immer gewillt waren, Vereinbarungen oder einen Konsens zu finden, die Regierung in Washington in den letzten Jahren jedoch eine Art der politischen Degenerierung durchgemacht hat. Sie macht nicht einmal im Ansatz den Versuch, eine Einigung zu erreichen. Das ist eine sehr gefährliche Tendenz. Wenn die Leute, die Joe Biden ins Amt gebracht haben und die Fäden ziehen, auch nach November 2024 an der Macht bleiben, sehe ich die mittelfristige Zukunft der Welt sehr schwarz.
Es ist also eine Frage des Willens und nicht der Vermittlung. Moskau hat den Willen, auch wenn es zu Beginn des Konflikts die Absicht hatte, das ukrainische Regime abzulösen. Wenn man aber feststellt, dass ein gewisser Teil der Ukrainer unter dem derzeitigen Regime bleiben will, dann sollen sie eben dort bleiben… Jene Gebiete hingegen, die immer zutiefst prorussisch waren und deren Bewohner mehrheitlich nicht unter dem neuen ultranationalistischen, russophoben Regime in Kiew leben wollen und das nie wollten, werden niemals der Ukraine überlassen werden. Ebenso wenig wird Russland die Militäroperationen beenden, ohne dass sich die Ukraine offiziell verpflichtet, niemals der NATO beizutreten, da dies aus den bereits genannten Gründen einen künftigen Atomkrieg nahezu unvermeidlich machen würde.
Dieser Krieg ist auch ein Informationskrieg, was von staatlicher Seite normal ist, nicht aber für die Medien, deren Aufgabe es wäre, die Dinge zu trennen und beide Seiten zu präsentieren… Nun sieht man aber, dass die Informationen, wenn sie nicht falsch sind, in den Massenmedien in Frankreich sehr selektiert werden… Ist das in Russland auch so?
Hier wird viel über die Redefreiheit gesprochen. Ich beobachte das seit 25 Jahren und kann Ihnen sagen, dass es in Frankreich keine Redefreiheit gibt. Jeder hat die Möglichkeit, wirklich alles und jedes zu sagen. Aber das ist keine wahre Redefreiheit. Wahre Meinungsfreiheit gibt es nur, wenn sie auf wahrer Gedankenfreiheit beruht.
Der Unterschied zwischen Russland und Frankreich besteht darin, dass die „Opfer” in Frankreich nicht wissen, dass sie Opfer sind. Sie denken, dass sie Redefreiheit genießen, dass sie über alles Bescheid wissen, da jeder ziemlich frei über alles spricht. Das ist jedoch völlig falsch. Die existenzielle Gefahr für die Gedankenfreiheit und die daraus resultierende Redefreiheit liegt gerade in dem Glauben des Subjekts an seine Freiheit.
Das westliche Regierungssystem ist ein Meister darin, auf chirurgische Weise, gewissermaßen durch eine Schönheitsoperation, am Geist der Massen zu operieren, ohne auch nur die geringste Narbe zu hinterlassen, die diese mühsame Arbeit der Informationskonditionierung verraten könnte, die tagtäglich in den Gehirnen der Opfer geleistet wird. Die daraus resultierende „freie” Meinungsäußerung der operierten Subjekte ist nichts anderes als eine vorformatierte und vorkonditionierte Erzählung, wobei das individuelle und kollektive Verhalten auf die Bedürfnisse der Herrschenden ausgerichtet wird.[4]
Man darf nicht vergessen, dass die französischen Medien in hohem Maße vom Staatsapparat finanziert werden. Ich habe mich mit Medienmanagern persönlich getroffen, die mir sagten, dass sie es sich unter keinen Umständen leisten können, alles zu sagen, was sie wollen, insbesondere in Bezug auf die Außenpolitik der Regierung, ohne zu riskieren, dass sie die Subventionen, die sie vom Staat erhalten, verlieren. So einfach ist das.
Ganz zu schweigen davon, dass die überwältigende Mehrheit der Medien, die über internationale Themen berichten, keine wirkliche Ahnung hat, worüber sie berichten, da sie keine Korrespondenten vor Ort haben. Und jene, die vor Ort sind, wissen bereits, worüber sie berichten werden, bevor sie überhaupt dort sind.
Um ihre Seiten zu füllen, kaufen die anderen die Informationen lediglich von Institutionen wie der Agence France Presse (AFP), einer vom Staat mit über 100 Millionen Euro pro Jahr – einem Drittel ihrer Einnahmen – finanzierten Organisation. AFP, die nur ein Relaiszentrum für die staatliche Propaganda ist. Wie hoch werden die staatlichen Zuwendungen für die AFP sein, wenn sie es eines Tages wagt, den Willen des Elysée-Palastes bei außenpolitischen Themen zu ignorieren?
Ich habe meinen Schülern in der Vergangenheit immer wieder gesagt: Um auch nur ansatzweise einen Blick auf die Wahrheit zu erhaschen, müssen Sie mindestens drei „freundliche”, drei „feindliche” und drei neutrale Informationsquellen konsultieren.
Im Westen gibt es keine Gedankenfreiheit, da die gleichen Informationen, als Echo wiederholt, für die Wahrheit gehalten werden. Während die Unterdrückung in Diktaturen sich der Gewalt bedient und damit offensichtlich ist, erfolgt sie im Westen „mit dem Skalpell”, denn es ist wichtig, den Wählern die Illusion zu vermitteln, dass ihre Meinungsfreiheit auf der Freiheit des Denkens beruht. Die westlichen Medien leisten hervorragende Arbeit als Illusionisten. Als Liebhaber des Zirkus kann ich ihnen nur applaudieren.
Wenn sich in einigen Monaten oder Jahren herausstellt, dass die von den Medien verbreiteten Informationen reine Lügen waren, spielt das keine Rolle mehr: Das Projekt ist dann bereits durchgeführt und zu den Akten gelegt worden.
Da in Russland zu Zeiten der Sowjetunion ein einziges Organ darüber entschied, wer was sagt, sind die Russen von Natur aus misstrauisch. Sie wissen sehr genau, dass das, was sie im Fernsehen hören oder in den staatlich subventionierten Zeitungen lesen, nur die offizielle Version ist und immer nuanciert betrachtet werden muss. Was noch wichtiger ist: Die Russen haben eine echte Alternative in ihren Quellen. Was den Krieg in der Ukraine betrifft, so haben die Russen die völlige Freiheit und Möglichkeit, ukrainische Nachrichten zu konsultieren, da ein relativ großer Teil ihrer Medien in russischer Sprache verfasst ist. Die Russen haben also Zugang zu Informationen von beiden Seiten der Barrikaden.
Wegen der Sprachbarriere lesen in Russland nur wenige Menschen die westliche Presse, aber die Auswahl zwischen staatlichen Medien, alternativen Medien, Oppositionsmedien und ukrainischen Medien ist sehr groß. So hat der durchschnittliche Russe eine größere Auswahl an Informationen als der durchschnittliche Franzose. Und wenn die Russen entschiedene Positionen einnehmen, dann geschieht dies in voller Kenntnis der Sachlage.
Weil es angeblich in Russland keine Gehirnwäsche gibt?
Ganz zu schweigen von der in Frankreich institutionalisierten Gehirnwäsche: Die einzige Information, die von den Massenmedien weitergegeben wird, ist die vom „macronistischen” Lager aufgezwungene. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus der Ukraine. Als ich von den Flüchtlingen aus der Ostukraine sprach, die über 45 Jahre alt und größtenteils prorussisch sind, muss man sagen, dass es bei den unter 30-Jährigen ganz anders aussieht.[5]
Seit der Auflösung der Sowjetunion findet eine gigantische institutionalisierte Gehirnwäsche durch den ukrainischen Staat statt. Und diese Gehirnwäsche hat sich ab 2014 exponentiell beschleunigt. In der ukrainischen Schule sind alle Lehrbücher nicht nur patriotisch, sondern ultranationalistisch. Wie Romain Gary treffend sagte: „Patriotismus ist die Liebe zu den Seinen; Nationalismus ist der Hass auf die anderen.”
Wenn Sie ein Lehrbuch über die ukrainische Geschichte zur Hand nehmen, werden Ihnen die Haare zu Berge stehen, denn Sie werden dort zum Beispiel finden, dass die Legionen der Waffen-SS Helden sind und dass die Franzosen eigentlich von den Ukrainern abstammen. Dass die Franzosen in der Antike Gallier hießen, weil sie aus der Region im Westen der Ukraine stammten, die Galizien heißt. Das ist nicht die Wahnvorstellung eines aus der Psychiatrie entflohenen Geisteskranken, sondern der Auszug aus einem offiziellen Lehrbuch über die Geschichte der Ukraine, das vom ukrainischen Bildungsministerium gedruckt wurde. Das ist die ukrainische Nationalbildung, insbesondere seit 2014.
Ich gebe Ihnen auch das Beispiel einer Flüchtlingsfamilie aus Odessa, die Mutter, unter 50, ist eine Freundin von mir. Während sie und ihr Mann, der in der Ukraine gestrandet ist, grundsätzlich prorussisch eingestellt sind und das kriminelle Regime in Kiew hassen, sind ihre beiden Kinder im Alter von 18 und 23 Jahren russophob und Bewunderer der ukrainischen ultranationalistischen Bewegungen. Und sie leben im selben Zimmer. Obwohl sie innerhalb ihrer Familie ein gutes Verhältnis zueinander haben, stehen die Kinder dennoch in völliger politischer Opposition zu ihren Eltern. Die Eltern sagen mir, dass sie nichts dagegen tun können: Die ukro-nationalistische Schule hat die Gehirne ihrer Kinder während ihrer zehnjährigen Schulzeit von morgens bis abends gewaschen. Das ist zu einer unheilbaren Krankheit geworden.
Stehen wir vor einer Neugestaltung der Weltordnung, die bislang von den USA dominiert wurde? Entstehen neue Gleichgewichte?
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs liefen die Versuche, größere Konflikte zu lösen, immer über die Vereinten Nationen, über den Sicherheitsrat. Bisher hat das eher funktioniert. Aber heute gibt es eine sehr weit gehende neue Anordnung auf dem internationalen politischen Schachbrett, und die internationalen Institutionen, die einst lebensfähig und zuverlässig waren, sind es nicht mehr.
Es ist unwahrscheinlich, dass diese Institutionen in den kommenden Jahren ein entscheidendes Mitspracherecht haben werden.[6] Was die Neubildung von Blöcken angeht, so sehe ich das eher relativ. Der westliche Block wird der westliche Block bleiben. Niemand wird ihm beitreten, und ich sehe zumindest mittelfristig nicht, dass jemand ihn verlassen wird. Die nicht-westlichen Länder, die heute vom kollektiven Westen aufgefordert werden, feindliche Positionen gegen Russland und auch gegen China einzunehmen, verstehen sehr wohl, dass sie nicht Teil des westlichen Lagers sind und nur als Werkzeuge dienen.
Als der pakistanische Präsident zu Beginn des Konflikts erheblichem Druck ausgesetzt war, antwortete er mehr als deutlich: „Wir sind nicht Eure Sklaven!” Er sagte laut, was andere nur denken.
Die nicht-westlichen Länder, die hinter dem amerikanischen Projekt stehen, tun dies nur unter Druck, denn dahinter stehen immer Interessen. Dazu gehören die Kredite der vom Westen kontrollierten internationalen Finanzinstitutionen. Viele Entwicklungsländer können sich den Luxus nicht leisten, gegen den Willen der Westmächte zu handeln.
Seit Februar 2022, als die wichtigsten Akteure auf der internationalen politischen Bühne ihre Masken lüfteten, beschleunigt sich der Prozess der Neugestaltung der Weltordnung. Dieser Prozess ist nicht neu. Aber es gibt eine deutliche Beschleunigung, weniger kultureller oder religiöser, sondern eher ideologischer Art, der westlichen Welt gegenüber der nicht-westlichen Welt.
Russland hat den Vertretern der nicht-westlichen Welt eine echte Alternative angeboten, und diese Alternative basiert nicht auf dem Beitritt zu einem neuen Block, sondern auf bilateralen und multilateralen Beziehungen und dem Prinzip der Nichteinmischung. Wenn westliche Experten Lust haben, mir zu widersprechen, fordere ich sie zunächst auf, ihren Mund zu schließen und ihre Ohren zu öffnen – was ihnen oft schwerfällt – und aufmerksam den Reaktionen der nicht-westlichen Welt zuzuhören – zuhören, auch wenn sie traditionell die Bewohner dessen, was sie verächtlich als „Dritte Welt” bezeichnen, für dümmer als sich selbst halten. Auf diese Weise werden sie viel über das Thema lernen.
Ist Russlands Engagement im Sudan Teil dieser Strategie zur Konsolidierung des nicht-westlichen Lagers?
Der Sudan ist ein Thema für sich. Dort plant Russland einen neuen russischen Marinestützpunkt, der erste außerhalb Russlands seit dem Ende der Sowjetunion.
Die Verhandlungen zwischen Moskau und Khartum laufen nicht erst seit gestern. 2017 hatte der ehemalige sudanesische Präsident Omar el-Bechir Russland um Schutz vor den USA und zudem um eine militärische Partnerschaft gebeten, die auch die Einrichtung eines Marinestützpunkts vorsah.
Es wird viel über die Kriegstreiberei des Kremls gesprochen, dem „Bösen” im Gegensatz zu den „Guten”. Ich möchte die von der atlantischen Propaganda Indoktrinierten ein wenig mit Fakten konfrontieren, auch wenn ich sehr skeptisch bin, was das Ergebnis angeht, denn ich muss gestehen, dass die Gehirnwäsche durch die westlichen Massenmedien sehr effektiv ist.
Vor dem Ausbruch der aktiven Phase der US-amerikanischen Feindseligkeiten gegen Russland, die seit über zehn Jahren andauert, verfolgte Moskau eine mehr als pazifistische Politik. 2002 schloss Russland seine Militärbasis auf Kuba und seinen Marinestützpunkt in Vietnam. Auch die russischen Militärstützpunkte in Georgien wurden geschlossen. Die Militärpräsenz im Kosovo und in Aserbaidschan wurde beendet. Bis zum Ausbruch der Feindseligkeiten des Westens gegen Syrien war die russische Präsenz auf dem syrischen Marinestützpunkt Tartus, der seit den 1970er Jahren besteht, wirklich nur symbolisch.
Der 1990 in Paris unterzeichnete Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) wurde von Russland trotz der schweren Verstöße durch die NATO eingehalten. Und erst 2007, als es nicht mehr möglich war, die illegalen Machenschaften der NATO zu ignorieren, fror Russland seine Teilnahme ein, ohne den Vertrag jedoch zu verlassen. Eine seltsame Strategie für jemanden, der nur davon träumt, andere zu überfallen.
Hervorzuheben ist, dass es nicht ein beliebiges Russland war, das all diese militärische Präsenz außerhalb seiner Grenzen abgebaut hat, sondern Sie wissen schon wer? Das Russland des großen bösen Putin höchstpersönlich.
Die sogenannten Experten des „atlantischen” Lagers können ihrem naiven und leichtgläubigen Publikum so viel Unsinn erzählen, wie sie wollen, die Fakten sind störrisch. Putin war gegenüber dem Westen sehr offen und mehr als freundlich, bis zu dem Zeitpunkt, als er begriff, dass der US-dominierte Westen gegenüber Russland keine andere Absicht hat, als es so weit wie möglich zu schwächen.
Putin überdachte seine Haltung erst, als er feststellte, dass der Westen trotz seiner eigenen jahrelangen Bemühungen, gute Beziehungen aufzubauen, immer aggressiver wurde.
Der Marinestützpunkt in Vietnam wurde wiedereröffnet. Der marode Marinestützpunkt in Syrien wurde mit Investitionen von über 500 Millionen US-Dollar erweitert, verstärkt und modernisiert. Erst kürzlich, am 10. Mai, verließ Russland das KSE, dessen Mitgliedschaft es seit 2007 eingefroren hatte. Diesmal verlässt es das KSE endgültig, da es keinen Zweifel mehr über die seit 20 Jahren andauernde Verletzung des KSE durch die NATO geben kann.
Und schließlich wurde das Projekt für den neuen Stützpunkt der russischen Seestreitkräfte in Khartum im Sudan ins Leben gerufen.
Ist der der Marinestützpunkt im Sudan ähnlich Sewastopol von strategischer Bedeutung?
Man darf nicht vergessen, dass das Rote Meer vom Westen kontrolliert wird. Es gibt die USA, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Deutschland und Italien. Japan und China haben seit 2017 einen militärischen Marinestützpunkt in Dschibuti. Die westliche Präsenz ist angesichts der dortigen Handels- und Militärströme logisch, im Hinblick auf die Sicherung der Zone des Roten Meeres, des Golfs von Aden und die Kontrolle des Zugangs zum Indischen Ozean.
Die wirtschaftlichen Interessen Russlands in der Region sind groß. Die Russen vergessen auch nicht, dass die Amerikaner ebenfalls einen Militärstützpunkt in Diego Garcia im Indischen Ozean haben. Das strategische Interesse an ihrer Militärpräsenz im Sudan ist also vollkommen legitim.
Das Projekt im Sudan ist Teil der neuen Militärdoktrin, die seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine die weltweite russische Marinepräsenz ausweitet.
Wie ich bereits sagte, stammen die ersten russisch-sudanesischen Vereinbarungen aus dem Jahr 2017. Danach bestand die Gefahr, dass sie mit dem Sturz von Omar al-Baschir im Jahr 2019 mit der wohlwollenden Unterstützung unserer amerikanischen Freunde aufgehoben werden würden. Seitdem wurde eine neue Regierung ernannt, und trotz des sehr starken Drucks der USA wurde das russisch-sudanesische Abkommen erneut bestätigt. Diese Übergangsregierung wurde ihrerseits wieder gestürzt. Dies änderte jedoch nicht viel. Das Abkommen wurde nicht nur nicht annulliert, sondern nach einer Neuverhandlung endgültig bestätigt und offiziell gemacht.
Im Sudan hat Russland immer den Grundsatz verfolgt, einerseits positive und konstruktive Beziehungen zu allen wichtigen Akteuren der sudanesischen Politik aufzubauen – und nicht nur zur Person des Staatsoberhaupts – und sich andererseits nicht in die Innenpolitik des Landes einzumischen. Heute haben wir zwei Hauptakteure der sudanesischen Politik, die sich gegenüberstehen: General Fattah al-Burhan und General Hamdan Dogolo. Doch trotz all dessen, was vor Ort geschieht, sehe ich den geplanten russischen Marinestützpunkt nicht in großer Gefahr. Denn es ist zu vorteilhaft für den Sudan, egal wer morgen das Sagen im Land haben wird.
Ein solches Vorhaben könnte nur durch einen besseren und ernsthaften Gegenvorschlag rückgängig gemacht werden. Die Amerikaner haben Khartum jedoch außer ihren traditionellen Drohungen, das Land für seine Partnerschaft mit den Russen zu bestrafen, noch nie etwas angeboten.
Nach internationalem Recht muss ein Abkommen in jedem Fall ratifiziert werden, um in Kraft treten zu können. Zwar wurde das Abkommen über den Marinestützpunkt nach jahrelangen Verhandlungen im Januar 2023 offiziell bestätigt, doch kann die Ratifizierung erst erfolgen, wenn eine zivile Regierung und ein gesetzgebendes Organ eingesetzt sind, was kurzfristig nicht zu erwarten ist. Dennoch ist das Projekt nach den mir vorliegenden Informationen keineswegs hinfällig und wird das Licht der Welt erblicken, sobald sich die politische Lage im Sudan stabilisiert hat.
Oleg Nesterenko ist Direktor des „Europäischen Industrie- und Handelszentrums” in Paris (CICE, Centre de Commerce & d’Industrie Européen), das 2002 u.a. mit der Unterstützung der Industrie- und Handelskammer der Russischen Föderation in Frankreich und der „Ecole Supérieure de Gestion et de Commerce International de Paris”gegründet wurde. Das CICE unterstützt französische Unternehmen, die auf den Märkten Russlands und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Fuß fassen wollen. Nesterenko war zuvor geschäftsführender Direktor eines wissenschaftlichen Forschungsinstituts im äußersten Westen der Ukraine, einer nicht gerade russophilen Region, und hat in Frankreich mehr als zehn Jahre an einer Wirtschaftsschule unterrichtet.
Zu Teil 1, Teil 2,
Oleg Nesterenko ist Direktor des „Europäischen Industrie- und Handelszentrums“ in Paris (CICE, Centre de Commerce & d’Industrie Européen), das 2002 u.a. mit der Unterstützung der Industrie- und Handelskammer der Russischen Föderation in Frankreich und der „Ecole Supérieure de Gestion et de Commerce International de Paris“ gegründet wurde. Das CICE unterstützt französische Unternehmen, die auf den Märkten Russlands und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Fuß fassen wollen. Nesterenko war zuvor geschäftsführender Direktor eines wissenschaftlichen Forschungsinstituts im äußersten Westen der Ukraine, einer nicht gerade russophilen Region, und hat in Frankreich mehr als zehn Jahre an einer Wirtschaftsschule unterrichtet.
Zuerst erschienen auf den NachDenkSeiten am 8.7.2023