Oleg Nesterenko
Oleg Nesterenko ist russischer Staatsbürger, arbeitet seit vielen Jahren in Frankreich und ist Direktor des „Europäischen Industrie- und Handelszentrums“ in Paris, Partner der russischen Industrie- und Handelskammer in Frankreich. Die Fragestellerin, Patricia Cerinsek, sieht dieses Interview als einen Vorschlag, eine andere Stimme als die des westlichen Mainstreams zu hören, ein anderes „Narrativ“, was dazu beitragen soll und kann, den Ukrainekonflikt besser zu verstehen und zu begreifen. Das Interview ist zunächst im französischen Medium L’Eclaireur des Alpes erschienen. Übersetzung von Heiner Biewer.
Kurze Skizzierung des Inhalts der drei Teile:
Teil 1:
Auslöser und tiefere Ursachen der russischen Intervention / Hat Russland die Ukraine unterschätzt? / Die ukrainischen Flüchtlinge in der EU sind keine homogene Gruppe
Teil 2:
Der Ukrainekonflikt ist der dritte Dollarkrieg / Potentiale der EU, des Euro und Versagen der europäischen Politik / Sanktionen und ihre Auswirkungen auf Russland bzw. die EU
Teil 3:
Zur Dauer des Krieges / Unvermeidbarkeit des Krieges / der kurzsichtige Westen hat keinen längeren Konflikt vorhergesehen / Informationskrieg – echte Redefreiheit setzt wirkliche Freiheit des Denkens voraus / neue Weltordnung?
Was Nesterenko uns hier in drei Teilen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, wie sie sich seiner Meinung nach abzeichnet, erzählt, schöpft er nach eigenen Angaben aus seinen Erfahrungen, Gesprächen und Quellen unter hohen Beamten in Moskau, aber auch in Kiew, Donezk, auf der Krim, in der russischen wie in der ukrainischen Armee. In diesem ersten Teil kehren wir zu den Ursprüngen und tieferen Ursachen des Krieges zurück, um seine Gegenwart besser zu beleuchten.
Jenseits von Wladimir Putins Verantwortung für den Ausbruch des Krieges: Welche Anlässe und welche tieferen Ursachen haben Russland dazu veranlasst, in der Ukraine militärisch einzugreifen?
Tiefere Ursachen und Auslöser werden oft verwechselt, vor allem in der westlichen Presse. Die Auslöser werden als Ursachen angesehen. Die Ursachen werden entweder gar nicht erwähnt, oder man erzählt alles Mögliche. Es ist wichtig, sie zu unterscheiden.
Es gibt zwei miteinander verknüpfte Hauptauslöser. Der Erste ist der Putsch 2014 in Kiew. Ohne diesen verfassungswidrigen Putsch würde die Ukraine heute in Frieden leben. Ohne diesen Putsch, hinter dem nachweislich die Vereinigten Staaten von Amerika mit Hilfe ihrer europäischen Handlanger standen, gäbe es den Krieg, den wir heute erleben, nicht.
Es ist wichtig zu betonen, dass weder die Krim noch die Regionen Donezk oder Lugansk vor diesem Ereignis die geringste Absicht hatten, sich von der Ukraine loszulösen. Auf der Krim habe ich weder unter den einfachen Bewohnern noch unter den hohen Beamten in geschlossenen Zirkeln jemals von der Möglichkeit oder Notwendigkeit sprechen hören, sich von der Ukraine zu trennen und sich Russland anzuschließen. Es gab keinen Grund, dies zu tun.
Auch im Rahmen des Minsker Abkommens war eine Sezession der Regionen Lugansk und Donezk weder vorgesehen, noch wurde sie angesprochen. Gegenstand des Abkommens war die Autonomie gegenüber der Zentralmacht in Kiew, angefangen bei der Sprache: Das Recht der Bewohner der Ostukraine, ihre eigene Sprache zu sprechen und nicht die Sprache, die von der neuen Macht mit einer mehr als fragwürdigen Legitimität aufgezwungen wurde.
Der zweite Auslöser für den Krieg in der Ukraine war das Massaker von Odessa im Jahr 2014, über das in Frankreich nicht viel gesprochen wird. Die hiesige Propaganda versucht, diese wichtige Tatsache zu verschleiern. Sie ist viel zu unbequem.
Nach dem Putsch in Kiew und der Machtergreifung der direkt von den USA unterstützten Ultranationalisten erhoben sich die historisch russischsprachigen Regionen der Ukraine – Donbass, Krim, Odessa, Nikolajew, Charkow –, und es kam zu einem Aufstand. Als die Extremisten nach Odessa kamen, um die völlig friedlichen Proteste der Einwohner niederzuschlagen, kamen sie bewaffnet und um zu töten. Offiziell gab es 48 Tote. In Wirklichkeit waren es viel mehr.
Und das waren nicht irgendwelche Toten, Opfer irgendeines Unfalls: Es waren Einwohner von Odessa, die von Ultranationalisten und Neonazis aus den traditionell russophoben westlichen Regionen der Ukraine massakriert wurden. Sie wurden mit enormer Brutalität massakriert (vergewaltigt und anschließend erwürgt, bei lebendigem Leib verbrannt, …), weil sie sich weigerten, die neue Macht zu akzeptieren, die nie von irgendjemandem gewählt worden war. Die Menschen in den prorussischen Gebieten waren von diesem Morden zutiefst traumatisiert, sogar noch mehr als von den Ereignissen in Kiew, da es diesmal in ihrer Heimat geschah und sich jederzeit wiederholen konnte. Ich war 2014 auf der Krim und kann mich noch genau daran erinnern, wie die Einwohner sagten: „Es ist völlig ausgeschlossen, dass diese Degenerierten zu uns kommen.“
Obwohl fast alle Täter des Massakers von Odessa bestens bekannt sind – es gibt eine Vielzahl von Zeugenaussagen, Fotos und Videos mit den unverhüllten Gesichtern der Teilnehmer an dem Massenmord –, wurde kein Einziger von der neuen ukrainischen Führung verhaftet, noch auch nur behelligt. Dies ist der Anfang, das Fundament der neuen ukrainischen „Demokratie“, die von leichtgläubigen und manipulierten Massen im Westen so bewundert wird.
Nach den Unabhängigkeitserklärungen der Krim und des Donbass – die durch die entschiedene Ablehnung der neuen ukrainischen Machthaber durch drei Viertel der betroffenen Bevölkerung sehr erleichtert wurde – bestätigten die Ereignisse von Odessa, dass dieser Wille zur Abspaltung wohl begründet war.
Wie erklärt sich die Einmischung der USA und der Europäischen Union in Angelegenheiten, die alles in allem regional hätten bleiben können?
Weil die wahren Gründe für diesen Konflikt ganz andere sind. Sie sind auf der Seite der USA zu suchen. Man muss sogar die Ukraine vergessen, weil sie in Wirklichkeit nicht viel damit zu tun hat. Es sind nicht die Ukrainer, die irgendetwas entschieden haben oder entscheiden. Sie sind nur Ausführende und Opfer in einem großen Spiel, das sie weit überfordert.
Bevor wir uns den wahren und tieferen Ursachen dieses Konflikts und der tragenden Rolle des kollektiven Westens zuwenden, ist es wichtig, ein paar Worte über die Rolle des russischen Marinestützpunkts auf der Krim, in Sewastopol, im Zusammenhang mit den Ereignissen im März 2014 zu verlieren.
Es wurde viel darüber gesprochen, dass Moskau die Absicht hatte, die russische und prorussische Bevölkerung zu schützen. Das ist auch richtig. Das ist ein humanitärer Grund. Geopolitisch gesehen ist der Schlüsselgrund für die Wiedereinnahme der Krim jedoch der Marinestützpunkt Sewastopol. Dieser ist ein strategisches Element für die Verteidigung der Russischen Föderation. Wer den Marinestützpunkt kontrolliert, kontrolliert das Schwarze Meer. So einfach ist das. Für den Kreml war es daher unvorstellbar, dass die Russen, die sich dort schon immer – und nicht erst seit 1991 – befanden, vertrieben werden und an ihrer Stelle NATO-Schiffe und die USA dort einziehen würden. Denn genau das war das westliche Projekt.
Ist dieser Hafen für die Ukraine von strategischer Bedeutung?
Der Marinestützpunkt Sewastopol hat für die Ukraine keinen strategischen oder gar existenziellen Wert. Die Ukraine war nie eine Seemacht und wird es auch nie sein. Die ukrainischen Seestreitkräfte sind heute schlichtweg nicht existent – ganz zu schweigen davon, dass die russische Präsenz nicht kostenlos war. Russland zahlte jedes Jahr die Miete für den Hafen (acht Millionen Dollar Jahresmiete, die seit 1997 an die Ukraine gezahlt wurden). Für Kiew war es also eher von Vorteil, den Stützpunkt an die Russen zu vermieten. Für die NATO hingegen war es ein mehr als strategischer Punkt. Die Einnahme des Hafens von Sewastopol wäre ein großer geopolitischer Sieg gewesen. Für Moskau war es daher existenziell, ausländischen Kräften niemals Zugang zum Stützpunkt Sewastopol zu gewähren.
Nach dem Beitritt der Türkei zur NATO im Jahr 1952 und der späteren Aufnahme Rumäniens und Bulgariens im Jahr 2004 bestand und besteht die Geostrategie des atlantischen Bündnisses darin, die Ukraine und Georgien aufzunehmen. Damit wären die russischen Seestreitkräfte auf den Hafen von Noworossijsk beschränkt (den einzigen verbliebenen Marinestützpunkt in tiefen Gewässern), und das Schwarze Meer würde solchermaßen zu einem Binnenmeer der NATO.
Trotz der über die Jahre hinweg wiederholten Lügen wurde genau das geplant, und das einzige Ziel war Russland – und das sogar seit den 1990er-Jahren, als sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen auf dem höchsten Stand seit 1944 befanden. Damals war die Macht in Moskau noch sehr offen und zu naiv gegenüber den Absichten des kollektiven, amerikanisch dominierten Westens.
Die Ukraine ist also nur eine Schachfigur und Europa eine Art Schachbrett?
Leider ist das genau der Fall. Und die Verantwortlichen in Kiew sind sich dessen vollkommen bewusst. Ich glaube nicht eine Sekunde lang, dass Selenskyj und sein Umfeld sich ihrer tatsächlichen Rolle nicht bewusst sind.
Um auf die tieferen Gründe für den Krieg in der Ukraine zurückzukommen: Es gibt nicht einen, sondern drei Schlüsselgründe. Es ist zunächst das Bestreben, die globale US-Dominanz vermittels der Rolle des Dollars fortzusetzen. Der Krieg in der Ukraine ist vor allem der Krieg der US-Währung (dazu mehr im zweiten Teil des Interviews).
Der zweite Grund ist die weitestgehende Reduzierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union. Der Hauptkonkurrent der USA auf dem Weltmarkt ist nicht Russland, sondern die Europäische Union. Eines der Hauptziele der US-Außenpolitik ist es, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäer zu verringern, indem ihnen die billige russische Energie als eines der wichtigsten Elemente zur Regulierung der Selbstkosten ihrer Industrieproduktion vorenthalten wird.
Der dritte Grund ist der Wunsch nach einer deutlichen Schwächung Russlands und damit seiner Interventionsmöglichkeiten in Bezug auf den künftigen großen Konflikt, der zwischen den USA und China entstehen könnte, für das Russland die „hintere Basis“ für Energie und Rohstoffe ist. Wenn die aktive Phase der chinesisch-amerikanischen Feindseligkeiten beginnt, wird Chinas Wirtschaft ohne Russland im Rücken dem Untergang geweiht sein.
Wie ist es zu erklären, dass die Amerikaner nicht versucht haben (falls dies zutrifft), Russland intern zu destabilisieren, wie sie es in der Ukraine getan haben?
Diese Vorgehensweise ist Teil ihrer Doktrin. In der Ukraine hatten sie Erfolg, aber man darf nicht vergessen, dass sie zuvor schon genau dasselbe getan hatten. In Georgien hatten sie 2003 einen perfekten Coup gelandet und versuchten, das gleiche Szenario unter anderem in Weißrussland und Kasachstan zu wiederholen. Das hat größtenteils aufgrund der Unterstützung Russlands für die Zielländer nicht funktioniert.
Natürlich haben sie versucht, Russland von innen heraus zu destabilisieren. Und aus ihrer Sicht haben sie damit vollkommen recht, denn die einzige Möglichkeit, Russland zum Zusammenbruch zu bringen, ist von innen heraus. Sie haben es nicht nur versucht, sondern versuchen es auch weiterhin. Nur ist ihre Vorgehensweise vollkommen bekannt, und die Strukturen der inneren Sicherheit des Landes sind gut darauf eingestellt, diese Bedrohung zu bekämpfen.
Russland ist nicht Georgien und schon gar nicht die Ukraine, wenn man seine Macht und seine politischen Strukturen bedenkt, die von der Bevölkerung weitgehend unterstützt werden. Russland ist viel stabiler.
Hat Russland nicht dennoch die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer unterschätzt?
Rufen Sie sich die seriösen Expertisen über die Fähigkeit der Ukraine, den Widerstand gegen Russland aufrechtzuerhalten, in Erinnerung. Damals, kurz vor Beginn der militärischen Sonderoperation, wurde davon ausgegangen, dass die Ukraine nur sehr begrenzte Zeit gegen Russland bestehen könnte.
Im Gegensatz zu von westlichen Massenmedien verbreiteten Informationen und trotz der Ereignisse, die seit über einem Jahr vor Ort zu beobachten sind, möchte ich betonen, dass diese Experten keineswegs falsch lagen. Sie haben sich in ihren Prognosen keineswegs geirrt.
Meine Worte mögen angesichts dessen, was wir seit über einem Jahr beobachten, erstaunlich klingen. Es gibt jedoch keinen Grund, sich darüber zu wundern. Man darf nie vergessen, dass die aktive Phase der Feindseligkeiten Ende Februar 2022 begann und dass bereits Ende März 2022 Gespräche zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul stattfanden. Aus welchen Gründen sollte sich eine Partei, die sich stark fühlt und weiß, dass sie noch über beträchtliche Widerstandskräfte verfügt, an einen Verhandlungstisch setzen, um eine Art von Kapitulation zu vereinbaren? Die Ukrainer haben sich an einen Verhandlungstisch gesetzt, da sie sich bewusst waren, dass ihre Widerstandskräfte sehr begrenzt waren.
In Istanbul, als beide Seiten einen Konsens gefunden hatten und kurz vor der Unterzeichnung eines Friedensabkommens standen, gab es auf ukrainischer Seite eine 180-Grad-Wende. Was war der Grund dafür? Wenn eine der beiden Seiten von einem Tag auf den anderen eine Kehrtwende macht, kann das nur eines bedeuten, nämlich, dass sie ein alternatives Angebot von den Konkurrenten der Gegenseite erhalten hat. So läuft es in der Geschäftswelt ab. In der Politik ist es genauso.
Der Grund, warum die Ukraine sich den Luxus leisten konnte, das Friedensabkommen abzuschreiben, war ganz einfach, dass sie von der westlichen Seite einen Gegenvorschlag erhalten hatte. Die Ereignisse, die darauf folgten, enthüllten die Elemente dieses Vorschlags: Der Ukraine wurde eine gigantische Kreditlinie eröffnet, die teilweise in Form von Waffen geliefert wurde[1]. Im Gegenzug musste sich die Ukraine verpflichten, keinen Waffenstillstand mit Russland einzugehen und Kanonenfutter zu liefern. Das war die Vereinbarung.
Die ukrainische Grenze wurde geschlossen. In Frankreich wird nicht viel darüber gesprochen – weil es eine zu unbequeme Wahrheit ist –, aber zu Beginn des Krieges gab es einen gigantischen Exodus insbesondere der männlichen Bevölkerung aus der Ukraine. Die Männer wussten, dass sie in den Tod geschickt würden, wenn sie nicht gingen. Wenn im westlichen Fernsehen vom ukrainischen Heldentum die Rede ist, muss ich schmunzeln, da ich genau weiß, dass sich das Land in Rekordzeit von zukünftigen Kämpfern entleert hätte, wenn die Grenzen offen geblieben wären.
Seit der Schließung der Grenzen muss man, wenn man die Ukraine verlassen will, den ukrainischen Zollbeamten ein Bestechungsgeld in Höhe von 7.000 bis 10.000 US-Dollar zahlen. Daher kämpft praktisch kein reicher Ukrainer in der Ukraine. Heute in der Ukraine zu sterben, ist das Schicksal der Armen. Diese Information erhalte ich von vielen Menschen, die dafür bezahlt haben, das Land zu verlassen und die ich persönlich kenne.
Ukrainische Flüchtlinge genießen in Europa einen sehr geschützten Status, insbesondere im Vergleich zu Syrern oder Afghanen. Wird dieser Status Ihrer Meinung nach missbraucht?
Ja. Einerseits ist der „atlantische“ Block direkt für die Flucht der Menschen aus Syrien und Afghanistan verantwortlich – es wäre ein eigener Artikel nötig, um die „wohltätigen“ Aktionen dieses Blocks gegen diese Länder und ihre katastrophalen Folgen aufzuzählen. Und damit meine ich nicht nur beispielsweise den Angriffsakt auf Syrien, der rechtlich als Verbrechen der Aggression gemäß Artikel 8b, Absatz 2, Buchstaben a, b, c und d des Römischen Statuts des IStGH gilt (welcher in letzter Zeit von seinen Geldgebern so hochgehalten und in den Vordergrund gestellt wurde).
Man muss viel weiter zurückgehen, insbesondere zu den Ursprüngen der Entstehung verschiedener Strömungen und Strukturen, darunter der Islamische Staat. Wenn wir der Logik folgen, Flüchtlinge aus aller Herren Länder aufzunehmen, dann haben diese beiden Bevölkerungsgruppen die größte Berechtigung, davon zu profitieren, ganz zu schweigen von den Libyern, deren Zukunft von den Subunternehmern der USA vernichtet wurde.
In Bezug auf die ukrainischen Flüchtlinge, insbesondere in Frankreich, gibt es das, was die Massenmedien verlautbaren, und es gibt die Realität, die sich stark von der Propaganda unterscheidet. Die westlichen Medien stellen die Ukrainer als eine einzige Gruppe von Menschen dar, die vor dem Krieg geflohen sind. Das ist das Narrativ, das wir kennen. Dies entspricht überhaupt nicht der Realität.
Die ukrainischen Flüchtlinge sind sehr weit davon entfernt, ein homogener Block zu sein. Es gibt eine klare Trennung zwischen den Flüchtlingen aus dem Osten und denen aus dem Westen des Landes. Die Menschen aus den traditionell nationalistischen Regionen im Westen sind aus der Ukraine geflohen, während ihre Region keiner wirklichen Bedrohung ausgesetzt war. Sie waren weder zu Beginn des Krieges noch heute in Gefahr. Bereits im zweiten Monat des Konflikts war klar, dass Russland keinerlei Interesse an diesem Gebiet hatte. Der Westen der Ukraine ist weder Syrien noch der Irak. Der wahre Grund für die Abwanderung von Menschen aus diesem Gebiet nach Europa ist nicht humanitärer, sondern wirtschaftlicher Natur.
Man muss wissen, dass die westlichen Regionen der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion immer sehr arm waren und am Rande des Elends gelebt haben: Praktisch der gesamte Reichtum des Landes ist in Kiew und der Ostukraine konzentriert. Von 1991 bis 2022 sind Millionen von Ukrainern, mehrheitlich aus den genannten Regionen, ins Ausland gegangen, um dort zu arbeiten. Es gibt zwei Ziele für diese Arbeitnehmer: Russland und die Europäische Union. Es ist Ihnen sicherlich nicht bekannt, aber selbst heute gibt es mehr als eine Million ukrainische Arbeitnehmer auf russischem Boden. Und ich spreche hier nur von der offiziellen Zahl, von denen, die über eine offizielle Arbeitserlaubnis verfügen. Zusammen mit der Schwarzarbeit arbeiten schätzungsweise mehr als drei Millionen ukrainische Staatsbürger in Russland. Die traditionell sehr hohe Zahl illegaler ukrainischer Arbeitnehmer ist auf die in Russland seit jeher übliche Politik der Toleranz gegenüber diesen Personen zurückzuführen: Sie riskieren nicht viel, wenn sie verhaftet werden.
Andere sind in die Europäische Union gegangen, um dort schwarzzuarbeiten. Wenn jemand zum Arbeiten nach Europa geht, folgt auf lange Sicht manchmal die Mehrheit der Dorfbevölkerung im arbeitsfähigen Alter diesem Weg. In ihrer überwältigenden Mehrheit arbeiten die Männer im Baugewerbe und die Frauen, die ihre Männer begleiten, als Putzfrauen. Die Männer „rotieren“ vor allem, da ihre Familien meist zu Hause bleiben. Und so sprechen wir von Millionen von Menschen. Wenn es unter Ihren Lesern viele gibt, die noch nie davon gehört haben, sollten Sie wissen, dass es in der Ukraine im ganzen Land keinen einzigen erwachsenen Menschen gibt, für den meine Ausführungen nicht eine Banalität sind.[2]
Mit dem Ausbruch des Krieges folgten viele Familien den Männern, die in der Europäischen Union schwarzarbeiteten. Viele andere sahen eine Gelegenheit, wegzugehen und ihr Leben zu ändern. Als sie gingen, ließen viele ihre Immobilien an Flüchtlinge aus dem Osten des Landes vermieten. Letztere werden traditionell nicht vom Reichtum Europas angezogen und bleiben lieber in der Ukraine.
In der Ukraine gibt es einen echten Skandal, von dem Sie natürlich nie etwas hören werden, über Kriegsgewinnler, die nie in Gefahr waren und in Europa Sozialleistungen beziehen, während sie ihre Immobilien zu überhöhten Preisen an echte Flüchtlinge vermieten, da die Nachfrage explodiert ist und die Mietpreise um ein Vielfaches gestiegen sind. Dies sind keineswegs Einzelfälle, es wird in allen westlichen Regionen des Landes praktiziert. Das geht so weit, dass es heute unmöglich ist, dort auch nur ein einziges Mietobjekt zu finden. Die Preise sind um das Doppelte, manchmal sogar um das Fünffache gestiegen.
Diejenigen, die aus der Westukraine stammen und aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Europäischen Union sind, sind jedenfalls schon seit einiger Zeit wieder nach Hause gegangen. Das sage ich mit Bestimmtheit.
Diejenigen, die aus dem traditionell prorussischen Osten des Landes stammen, sind hingegen vor einer Gefahr geflohen, die realer nicht sein könnte. Von ihnen sind diejenigen nach Europa gegangen, die nicht die finanziellen Mittel hatten, um im Westen der Ukraine zu bleiben, der ein absolut sicheres Gebiet ist, wo sie jedoch von Einheimischen ausgeraubt werden, die sie im Übrigen fast genauso hassen wie die Russen. Und was die Europäer nicht wissen, ist, dass unter diesen echten Flüchtlingen viele von Grund auf prorussisch sind und das Kiewer Regime und alles, wofür es steht, hassen. Der einzige Grund, warum sie nicht nach Russland gegangen sind, ist die Tatsache, dass es nicht möglich war, die Frontlinie zu überqueren. Sie hatten nur eine Möglichkeit zu fliehen: nach Westen.
In Frankreich haben Sie einen relativ großen Anteil an ukrainischen Flüchtlingen, die absolut prorussisch sind, aber schweigen, weil sie wissen, dass der von seiner Propaganda vergiftete Gastgeber auf keinen Fall die Wahrheit über sie erfahren darf. Es sind vor allem Menschen über 45 Jahre, die noch unter der UdSSR eine Ausbildung genossen haben. Sie sind keineswegs Nostalgiker der sowjetischen Vergangenheit, bei Weitem nicht. Es sind einfach diejenigen, die genau wissen, was Russland und die russische Welt sind, weil sie dort gelebt haben.
Haben wir eine Vorstellung davon, wie viele Ukrainer aus der Ukraine geflohen sind?
Ich habe keine genauen Zahlen, aber man spricht von Millionen, die nach Europa gegangen sind, darunter mehr als 100.000 nach Frankreich. Man darf nicht vergessen, dass die Grenzen bereits im März 2022 geschlossen wurden, da sonst fast die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 18 bis 60 Jahren aus dem Land geflohen und niemand mehr übriggeblieben wäre, den man zum Schlachten schicken könnte. Das Land, das die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, ist jedoch Russland. Es sind mehr als 3,2 Millionen Menschen. Und davon zu sprechen, dass die ukrainischen Einwohner auf erzwungene Weise nach Russland abwandern, ist nur ein Zeichen von Dummheit und völliger Realitätsferne.
Oleg Nesterenko ist Direktor des „Europäischen Industrie- und Handelszentrums“ in Paris (CICE, Centre de Commerce & d’Industrie Européen), das 2002 u.a. mit der Unterstützung der Industrie- und Handelskammer der Russischen Föderation in Frankreich und der „Ecole Supérieure de Gestion et de Commerce International de Paris“ gegründet wurde. Das CICE unterstützt französische Unternehmen, die auf den Märkten Russlands und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Fuß fassen wollen. Nesterenko war zuvor geschäftsführender Direktor eines wissenschaftlichen Forschungsinstituts im äußersten Westen der Ukraine, einer nicht gerade russophilen Region, und hat in Frankreich mehr als zehn Jahre an einer Wirtschaftsschule unterrichtet.
Zuerst erschienen auf den NachDenkSeiten am 6. Juli 2023