Spione aus dem Osten: Den alten Gegner im Visier und den Frieden im Blick

Tilo Gräser

Ehemalige Agenten, Aufklärer und Analytiker der DDR-Nachrichtendienste haben sich am Samstag bei Berlin getroffen. Dabei ging es um mehr als nur die Erinnerung an die Zeit als «Kundschafter des Friedens». Die Analyse der gegenwärtigen Verbrechen des westlichen Imperialismus, ihres alten Gegners, beschäftigte sie ebenso.

Sie waren nach eigenem Verständnis «Kundschafter des Friedens», die Agenten oder Spione und Aufklärer der DDR, die auf der anderen Seite zum Teil mit falscher Identität im Einsatz waren, wenn sie aus der DDR kamen. Sie waren entweder für die Hauptverwaltung A (HV A) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) oder für die Verwaltung Aufklärung der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR tätig.

Heute sind sie meist im hohen Alter und werden immer weniger, aber sie bleiben aktiv, soweit es ihnen möglich ist, und setzen sich weiter für die eine grosse Aufgabe ihres Lebens ein: den Frieden. Sie tun das heute unter anderem in der Arbeitsgruppe Kundschafter der «Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Hilfe» (GRH). Und sie treffen sich immer wieder, um sich auszutauschen, ob über die Erinnerungen an die eigene aktive Zeit oder über das aktuelle Geschehen in der Welt.

Am Samstag kamen die ehemaligen Agenten und Aufklärer wieder zusammen, dazu Gäste wie der ehemalige NVA-General Manfred Graetz und der russische Militärattaché Generalmajor Sergej Tschuchrow. Unter ihnen war auch der Militärhistoriker Lothar Schröter, der sein aktuelles Buch über den Krieg in und um die Ukraine vorstellte.

Schröter beschreibt unter dem Titel «Der Ukraine-Krieg» die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO dabei. Er verwies bei dem Treffen der Ex-Kundschafter auf den norwegischen Politikwissenschaftler Glenn Diesen. Der hatte jüngst gegenüber den Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN) erklärt:

«Der Ukraine-Krieg kann nur dann vollständig verstanden werden, wenn er als Ergebnis einer zusammenbrechenden Weltordnung und eines Kampfes um die Definition der nächsten Weltordnung betrachtet wird.»

Um das Geschehen zu verstehen, sei die klare Einschätzung der Abläufe wichtig, erklärte Militärhistoriker Schröter. Dazu gehört für ihn auch der «Fahrplan für eine unipolare Welt», den die führenden Kräfte der USA aufgestellt hätten. Nachzulesen sei das unter anderem in dem Buch «The Grand Chessboard» (1997, auf Deutsch: «Die einzige Weltmacht») des US-Geostrategen Zbigniew Brzezinski.

Der Westen will ein schwaches Russland

Darin habe der Autor den Anspruch der USA auf globale Dominanz beschrieben, was bis heute gültig sei. Brzezinski hat dabei auch auf die wichtige Rolle der Ukraine als «geopolitischen Dreh- und Angelpunkt» bei der Schwächung Russlands hingewiesen: «Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr», schrieb der 2017 verstorbene US-Geostratege.

Dr. Lothar Schröter mit dem Buch von Brzezinski (alle Fotos: Tilo Gräser)

Die Kontrolle über den eurasischen Kontinent zu haben und zu behalten, gehöre seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Zielen der US-Politik, erinnerte Schröter. Deshalb sei dem Westen ein schwaches Russland wie in den 1990er Jahren unter Boris Jelzin lieber als ein selbstbewusstes und gestärktes wie unter Wladimir Putin. Die Ukraine werde benutzt, um Russland als Machtfaktor auszuschalten und so die unipolare Ordnung aufrechterhalten zu können.

Der angestrebten Hegemonie des US-geführten Westens diene auch die NATO-Osterweiterung. Mit dieser seien die nach dem Ende der Systemauseinandersetzung ab 1989 getroffenen Vereinbarungen, um die Trennlinien in Europa zu beseitigen und eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, ad acta gelegt worden.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg zitierte Schröter – wie im Buch auch – Alain Juillet, ehemaliger Chef des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE. Der hatte im Dezember 2022 in einem Interview erklärt, die USA hätten den Krieg «unbestreitbar provoziert und seit 2014 alles getan, um Russland in einen Krieg zu stürzen». Der russische Einmarsch sei ein Fehler, «aber die Amerikaner haben alles dafür getan».

Die NATO sei in der Ukraine so aktiv, «um den Krieg gegen Russland zu führen», so Juillet, der auch sagte:

«Ohne die NATO wäre die Ukraine tot!»

Schröter brachte in seinem Vortrag vor den ehemaligen Agenten und Geheimdienstanalytikern weitere Belege für die Rolle des Westens im Krieg in und um die Ukraine. Im Buch stützt er seine Aussagen und Erklärungen für das Geschehen auf Quellenangaben in über 600 Fussnoten.

Russlands Schwur «Nie wieder!»

Er verwies auf die Informationen zu deutlichen Kriegsvorbereitungen auf ukrainischer Seite und mit westlicher Unterstützung gegenüber den ostukrainischen Volksrepubliken. Aufgrund der Anzeichen für eine Ausweitung des seit 2014 laufenden Krieges Kiews gegen die abtrünnigen Regionen im Donbass – entgegen der Minsker Vereinbarungen – habe Moskau sich im Februar 2022 zum Eingreifen entschlossen. Damit habe die zweite Phase des Krieges in der Ukraine begonnen.

Mit einem Zitat von Niccolò Machiavelli wies er auf die Verantwortung für das Geschehen hin: «Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.» Der französische Philosoph der Aufklärung Charles-Louis de Montesquieu habe festgestellt: Diejenigen, die den Krieg ausgelöst haben, dürften nicht mit denjenigen verwechselt werden, die ihn unvermeidlich gemacht haben.

Die russische Führung sei angesichts der zunehmenden NATO-Aktivitäten in der Ukraine und der dortigen Vorbereitungen auf einen Angriff auf den Donbass und die Krim sicher, dass ein neuer «22. Juni» drohe. Am 22. Juni 1941 hatte das faschistische Deutschland die Sowjetunion vertragsbrüchig überfallen und einen Vernichtungskrieg gestartet, den das Land bis zu seinem Sieg über den Faschismus mit mehr als 25 Millionen Toten bezahlte.

Einen solchen Überfall in der Zukunft um jeden Preis zu verhindern, sei die «Nummer Eins» der russischen Staatsdoktrin, betonte der Militärhistoriker. «Niemals wieder!» sei die Lehre aus dem 22. Juni vor 83 Jahren.

Vor dem damaligen faschistischen Überfall hatte unter anderem Richard Sorge gewarnt, ein deutscher Journalist, der als Kundschafter für die Sowjetunion in Japan arbeitete und 1944 hingerichtet wurde. An ihn werde in Russland in diesem Jahr aus Anlass seines Todes vor 80 Jahren ausführlich erinnert, berichtete der russische Militärattaché Tschurchow den ehemaligen DDR-Kundschaftern. Die überreichten ihm Materialien, die an Sorge erinnern, damit sie in Ausstellungen in Russland gezeigt werden können.

Der russische Militärattaché Generalmajor Sergej Tschuchrow (links) und Karl Rehbaum, Leiter der GRH-AG Kundschafter

Der russische General dankte den früheren Agenten und Aufklärern unter anderem dafür, dass sie ihre Ideale bis heute nicht verraten «und ganz viel für den Frieden gemacht» hätten, auch wenn einige von ihnen nach 1990 lange Haftstrafen verbüssen mussten. Es sei heute «enorm wichtig», die Geschichte zu kennen und für die Wahrheit zu kämpfen, so der Attaché. Russland kämpfe heute wieder gegen Faschismus und «nicht gegen die Ukraine», die nur Werkzeug der NATO als Gegner Russlands sei.

Der Nahe Osten im Visier des Westens

Wie der Westen überall auf der Welt seine Interessen bis heute durchzusetzen versucht, zeigte in einem weiteren Vortrag bei dem Treffen die Journalistin Karin Leukefeld. Die Nahost-Korrespondentin beschrieb die geopolitischen Interessen im mehr als ein Jahrhundert andauernden Konflikt um Palästina, welcher die Region, das Land und seine Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt.

Leukefeld erinnerte daran, dass es dabei um einen Teil des sogenannten «fruchtbaren Halbmondes» mit seinen jahrtausendealten Kulturen geht. Er habe als Wiege der europäischen Zivilisation eine wichtige Rolle in den vergangenen Jahrhunderten gespielt, betonte sie.

«Das wird heute komplett vergessen, wenn man über die Region spricht. Das hört sich so an, als ob die da alle auf den Bäumen sitzen würden beziehungsweise im Sand sich nur gegenseitig umbringen. Wie es dazu gekommen ist, hat ja eine Geschichte.»

Die Region habe einst eine Brückenfunktion zwischen den Kontinenten und Ländern gehabt und sei mit der alten Seidenstrasse über Jahrhunderte wichtig für den Handel gewesen. Leukefeld ging in ihrem Vortrag auch auf die zerstörerische Rolle der westlichen Kolonialmächte, vor allem Grossbritanniens nach dem Ende des Osmanischen Reiches in Folge des Ersten Weltkriegs ein.

Sie erinnerte dabei an das britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen, mit dem London und Paris 1916 den Nahen Osten aufteilten, ebenso wie an US-amerikanische Untersuchungen der King-Crane-Commission 1919. Deren Bericht nach Studien vor Ort habe Regelungen für die Region vorgeschlagen, die dieser ein anderes Gesicht als das heutige verliehen hätten: mit einem kurdischen Staat, einem syrisch-palästinensischen-jüdischen Staat, einem Staat Mesopotamien, einem armenischen Staat, einer Rumpf-Türkei – und ohne einen eigenständigen jüdischen Staat.

«A peace to end all peace»

Doch Paris und London hätten die US-Kommission nicht nur mit medialer Hetze begleitet und sie zu verhindern versucht. Der King-Crane-Report sei für die Pariser Friedensverhandlungen 1919 bestimmt gewesen, aber dort ignoriert worden, so Leukefeld. Damit habe sich die französisch-britische Teilung der Region, einschliesslich eines eigenständigen jüdischen Staates, durchgesetzt.

Ein zeitgenössischer britischer Beobachter habe das Pariser Friedensabkommen als «A peace to end all peace» («Ein Frieden, der jeden Frieden beendet») bezeichnet. «Das errichtete Haus ist auf Sand aufgebaut», habe damals die italienische Zeitung Tempo geschrieben und gewarnt, dass es den Anstürmen der missachteten Interessen der Einheimischen nicht standhalten werde.

«Teile und herrsche» – dieses Prinzip der Aufteilung eigentlich zusammenhängender Gebiete sei nach dem Ersten Weltkrieg von den westlichen Mächten im Nahen Osten bis heute fortgesetzt worden, machte die Journalistin deutlich. Dies gilt ebenso für die Vorgänge auf dem Gebiet der einstigen Sowjetunion, wie der Ukraine-Krieg zeigt.

Leukefeld beschrieb den Gang der Ereignisse bis heute, einschliesslich des Auftritts des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vor der UN-Vollversammlung im September 2023. Dabei zeigte dieser eine Karte des «Neuen Nahen Ostens», auf der es kein Palästina mehr geben würde. Ebenso erinnerte sie daran, dass der Gaza-Streifen seit 2007 komplett von Israel blockiert wurde.

«Die tiefe Wunde im Mittleren Osten ist Palästina.»

Deshalb sei es für Kenner der Lage keine Überraschung gewesen, was am 7. Oktober 2023 geschah, als die palästinensische Organisation Hamas Israel angegriffen hat. Nur die westliche Welt sie «komplett schockiert» gewesen und die westlichen Medien hätten «ausserordentlich deutlich einseitig» berichtet.

Im Netz der Geopolitik gefangen

Die Bevölkerung der Region, ob als Akteur, ob als Flüchtling oder als Stellvertreter-Regierung, sei «gefangen im Netz der Geopolitik». Dieses werde zum einen vom westlichen Block der alten Kolonialmächte bestimmt und zum anderen vom Block des Ostens und Südens mit Russland China und den einstigen Kolonien. Die USA hätten rund um die arabische Halbinsel Militärstützpunkte platziert, um die Seewege und Handelsrouten, vor allem den Öltransport kontrollieren zu können.

Heute gehe es zunehmend auch um Erdgas, erklärte Leukefeld mit Hinweis auf die Erdgasfelder im Mittelmeer, die von der Europäischen Union (EU) ins Visier genommen worden seien. Während regionale Akteure wie Jordanien und Ägypten von den USA abhängig seien, würden andere wie die Golfstaaten zunehmend die Zusammenarbeit mit China und Russland suchen.

Der «grosse Fehler des Westens» sei, dass dessen Regierungen die eigene Politik und deren Folgen in der Region nicht reflektierten:

«Das ist auch nicht ihr Interesse. Sie haben Interesse, zu kontrollieren und auszubeuten.»

Die gegenwärtige Debatte um den Konflikt zwischen Israel und Iran zeige, dass es immer nur um Konfrontation gehe, um die eigenen westlichen Interessen durchzusetzen. Die Region sei durch den mehr als zwanzigjährigen US-geführten «Krieg gegen den Terror» zerstört und habe in der Folge viele Probleme.

Eine klare Aussage

Dabei wollten die Länder im Nahen Osten und ihre Menschen nichts anderes, «als dass sie mit einander dort kooperieren und Handel treiben können und wieder aufbauen können». Die Chance dafür würden sie bei China und Russland sehen.

«Und alle diese Länder wenden sich nach Osten. Das ist eine ganz klare Aussage.»

Die westliche Politik im Nahen Osten habe die Lebensgrundlagen und -perspektiven der Menschen zerstört. Leukefeld forderte «viel mehr Kritik daran» auch in Deutschland ein, insbesondere von den Medien. Das jüngste G7-Treffen habe erneut gezeigt:

«Sie reden über die Region, als wäre das ihr Gebiet.»

Die G7-Staaten hätten einen Katalog von Vorschriften für die Länder der Region aufgestellt – «über ein Gebiet, das Ihnen überhaupt nicht gehört». Sie erinnerte am Ende an Julian Assange, der unter anderem die gegenwärtigen westlichen Verbrechen in der arabischen Welt aufdeckte und dafür im Gefängnis sitzt.

Die ehemaligen Kundschafter, Aufklärer und Analytiker dankten Leukefeld mit Beifall und interessierten Fragen. Einer der Gäste stellte fest:

«Es ist der alte Imperialismus, wie er sich geschichtlich zeigte und auch heute zeigt.»

Leukefeld forderte in der Debatte dazu auf, die westliche Politik, auch die Deutschlands, klar zu analysieren. Und sie verwies darauf, dass im heutigen globalen Süden zunehmend versucht werde, der «zerstörerischen Macht» des Westens entgegenzutreten und miteinander zu kooperieren.

Buchtipp:
Lothar Schröter:
«Der Ukraine-Krieg – Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO», edition ost 2024, 348 Seiten, ISBN 978-3-360-02815-0, 32 Euro.

Zuerst erschienen bei Transition News am 23. April 2024