Betrachtung der strategischen Konzepte und Handlungen der NATO
Am 2.und 3. November 1989 trafen sich Bush senior und Gorbatschow auf Malta. Im Ergebnis
dieses Treffens erklärte Gorbatschow den Kalten Krieg zwischen der NATO und dem
Warschauer Vertrag für beendet. Bis heute wird dies auch von anderen Politikern, Wissenschaftlern,
Parteien etc. vertreten – eine völlig falsche Beurteilung der Ereignisse zur damaligen
Zeit, wie auch in der Folgezeit. Beendet war die Blockkonfrontation NATO – Warschauer
Vertrag.
Bush senior zog eine völlig andere Schlussfolgerung, nämlich dass eine neue Weltordnung
unter Führung der USA geschaffen werden soll, mit den Ziel der Globalisierung. Auf dieser
Grundlage entstand die »Wolfowitz-Doktrin«. Daraus ein Zitat:
»Amerikas politische und militärische Mission besteht darin zu gewährleisten, dass sich in
Westeuropa, Asien und auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion keine rivalisierende Supermacht
bilden kann.«
Danach ausgerichtet sind alle NATO-Strategien seit 1991. Die USA waren, sind und bleiben
die NATO-Führungsmacht und nutzen die NATO zur Verwirklichung ihrer Weltherrschaftspläne.
Im Fokus dieser Pläne stehen Russland und die VR China.
1990/91 gab es einen regelrechten Umbruch, notwendigerweise einen Richtungswechsel
in der Politik der NATO. Mit der Annexion der DDR durch die BRD, der Auflösung des Warschauer
Vertrages und den gesellschaftlichen Veränderungen in den ehemaligen Warschauer
Vertrags-Staaten, vor allem aber mit dem Ende der Sowjetunion, hatte die NATO
keinen Gegner mehr.
Die Auflösung des Warschauer Vertrages hätte logischerweise zur Folge haben können und
müssen, dass sich die NATO auch für überflüssig erklärt und demzufolge ihre Auflösung verkündet
hätte. Seitens der NATO erfolgte lediglich der Abzug ihrer Truppen aus Berlin und die
Auflösung der beim Oberkommando Europa (SHAPE) für Westberlin zuständigen »Live Oak«-
Dienststelle. Die NATO hatte nicht nur keinen Gegner, sondern auch keine Aufgaben mehr.
Unter den Politikern und Militärs gab es eine Verunsicherung bis hin zur Panik. Die Suche
nach neuen Betätigungsfeldern wurde intensiv betrieben, und man schuf in drei Etappen
(1991, 1999 und 2010) das heutige Neue Strategische Konzept (NSK). Wie fast immer bei
politisch-militärischen Bündnissen brauchte auch die NATO 1990/91, um Aufgaben festlegen
zu können, eine Bedrohungssituation, mit der man vermeintlich konfrontiert sei.
Im November 1991 beschloss die NATO in Rom auf ihrem Gipfel ein strategisches Konzept
mit dem Titel »Sicherheit durch Dialog, Kooperation und Verteidigung«. Die NATO konstruierte
zuvor ein Bedrohungsszenario, bestehend aus: Piraterie, Computer-Sicherheit, Klimawandel,
Drogenschmuggel, Umweltkatastrophen, Flüchtlingsströme, Wasserknappheit, Le-
bensmittelknappheit, Terrorismus, Waffenschmuggel, Gefährdung der Transportwege und
der Rohstoffquellen.
Dieses strategische Konzept trug den globalen Interessen der USA Rechnung.
EU im Alleingang?
Es gab aber auch gegenläufige Ambitionen der europäischen NATO-Staaten, vor allem in
Frankreich und Deutschland, die mehr auf die Europäische Union (damals noch EG) setzten,
wie es überhaupt bei allen NATO-Gipfeln Widersprüche gab, welche weiterreichende
Absichten und Pläne der USA verhinderten, und den Beschlüssen, für die Öffentlichkeit
kaum erkennbar, Kompromisscharakter verliehen.
In der Folgezeit wollte die EU im Alleingang im vom kriegerischen Separatismus betroffenen
Balkan »Ordnung« schaffen. Dabei stand zeitweilig der globale Machtanspruch der
USA auf dem Spiel. Der Verlauf der Kriege auf dem Balkan stellte aber die »alte Ordnung«
wieder her. Die EU war nicht in der Lage, vor allem den Krieg gegen Serbien allein siegreich
zu beenden. Sie benötigte die Hilfe der USA. Noch während der Kriege nutzte die
USA die Gelegenheit, um eine Überarbeitung des strategischen Konzeptes zu initiieren.
Diese Veränderung erfolgte auf dem Gipfel zum 50. Jahrestag der Gründung der NATO
1999 in Washington. Die Bedrohungsgründe wurden um die organisierte Kriminalität und
den religiösen Fanatismus erweitert. Das strategische Gleichgewicht wurde fallengelassen
und durch Krisenbewältigung ersetzt. Demzufolge wurde auf Offensivmaßnahmen orientiert.
Die Formulierung von 1991 »defensiver Charakter des Bündnisses« wurde gestrichen.
Man vereinbarte eine weitere atomare Abrüstung. Die NATO wurde nun endgültig ein globales
Interventionsinstrument.
Auch hier zeigten sich Widersprüche, weil es z.B. eine erhebliche »Aufweichung« des Völkerrechts
gab, unter anderem durch die Selbstmandatierung für Nicht-Artikel-V-Operationen
(Angriffskriege). Die normative Kraft des Jugoslawien-Krieges hat die Diskussion um
das strategische Konzept beendet, Ostern 1999 wurde dieses unter dem Titel »Sicherheit
durch Stabilität und Transformation« beschlossen.
Der Begriff der Verteidigung wurde erweitert (Out of Area). Nicht territoriale Grenzen, sondern
weitgefasste nationale Sicherheitsinteressen sollten mit Waffengewalt »verteidigt«
werden. Diese NATO-Doktrin wurde hierbei auch mit dem Ersteinsatz von Kernwaffen verknüpft.
Danach sollten Kernwaffen nicht nur gegen atomwaffenbesitzende Staaten eingesetzt
werden, sondern auch gegen solche mit chemischen und/oder biologischen Waffen.
Die Einsatzschwelle für Atomwaffen wurde heruntergesetzt. Mit der erklärten Absicht des
Ersteinsatzes von Kernwaffen hat die NATO erneut das Völkerrecht negiert. Denn die Androhung
des Ersteinsatzes von Kernwaffen steht im Widerspruch zum Atomwaffensperrvertrag
(Artikel V). Außerdem hatte der Internationale Gerichtshof bereits 1996 die Drohung
mit Atomwaffen für völkerrechtswidrig erklärt.
Vorbeugende Kriege ohne geografische Einschränkung
Trotz deutlicher Erhöhung der Aggressivität drängten die USA schon bald auf eine weitere
Verschärfung des strategischen Konzeptes. In einem »NATO-Brief« (Monatspublikation der
NATO) in Vorbereitung auf den Gipfel in Bukarest (2008) war zu lesen, dass es nicht ange-
hen könne, dass die EU 2003 in ihrer Sicherheitsstrategie formuliere »Europa war noch nie
so wohlhabend, so sicher und so frei«, während die US-Sicherheitsstrategie von 2006 mit
der Feststellung beginnt: »Amerika befindet sich im Krieg.«
Dies führe zu einem ungesunden und unhaltbaren Zustand und mache kollektive Aktionen
problematisch. Folgerichtig wurde die neue derzeit aktuelle Strategie 2010 auf dem Gipfel
in Lissabon beschlossen. Sie hat die Bezeichnung »Sicherheit durch präventives Engagement
und vernetzte Aktionen«. Dies bedeutet »vorbeugende Kriege« und Einbeziehung von
Nichtregierungsorganisationen (NGO) und andere zivile Einrichtungen.
Die NATO hat natürlich nicht nur an strategischen Konzepten und deren Umsetzung gearbeitet,
sondern war auch anderweitig aktiv. So wurde beispielsweise auf dem Gipfel in
Prag (2002) eine grundlegende Veränderung der militärischen Struktur beschlossen und in
der Folge umgesetzt. Damit wurde die Kriegsführungsfähigkeit wesentlich verbessert. Es
vollzog sich ein Wandel zu einer offensiv operierenden Interventionsallianz. In den Strategiepapieren
heißt die aggressive und expansive Politik »Verteidigung gemeinsamer Werte
ohne geografische Einschränkung«. Hierzu ein Zitat aus dem Bukarester Gipfel-Kommunique
(2008). Dort ist im Punkt 44 zu lesen:
»… Unsere Operationen unterstreichen, dass es notwendig ist, moderne, interoperable, flexible
und durchhaltefähige Streitkräfte zu entwickeln und zu stationieren. Diese Kräfte müssen
in der Lage sein, auf Entscheidungen des Rates kollektive Verteidigungsoperationen und Krisenreaktionseinsätze
im Bündnisgebiet und darüber hinaus, an seiner Peripherie, in strategischer
Entfernung und mit nur geringer oder gar keiner Unterstützung durch den Gastgeberstaat
durchzuführen.«
Die Schwerpunkte der gegenwärtigen NATO-Politik sind:
– Osterweiterung
– Embargopolitik
– Doppelstrategie Verhandlungen und Aufrüstung
– Hochrüstung und Waffenexport
– Veränderung der Nuklearstrategie (sogenannte Modernisierung) bei Negierung des Völkerrechts
– Installierung eines Raketenschirms in Osteuropa
– Truppenstationierung in Osteuropa
– Versuche, Stellvertreterkriege anzuzetteln
– Hybride Kriegführung und Cyber-Krieg
– Zielstellung 2 Prozent des BIP für Rüstungsausgaben
Dies alles war, unterschiedlich gewichtet, Gegenstand des NATO-Gipfels in Warschau vom
Juli 2016. Zu einzelnen ausgewählten Schwerpunkten der NATO-Politik folgen kurze Einschätzungen:
Osterweiterung
Die NATO hat sich seit 1991 um 12 Mitgliedsstaaten (vor allem ehemalige Warschauer Vertragsstaaten)
erweitert, und Montenegro ist das nächste Mitglied. Mit dieser Osterweite-
rung wurde Russland weiter eingekreist, Zusagen der führenden Politiker der USA, auch
der BRD, wurden nicht eingehalten und die Bedrohung Russlands wesentlich erhöht. Die
geplante Aufnahme der Ukraine, Georgiens, Moldawiens und Mazedoniens ist derzeit aus
verschiedenen Gründen kein Thema. Aber die sich ohnehin einer neutralen Politik nicht
mehr verpflichtet fühlenden Länder Schweden und Finnland zeigen durchaus Interesse an
einer NATO-Mitgliedschaft, beteiligen sich schon jetzt an Manövern der NATO und haben
bilaterale Militärabkommen mit den USA.
Modernisierung der Atomwaffen
In Europa und der Türkei haben die USA noch insgesamt 240 taktische Atomwaffen, Bomben
vom Typ B 61 in den Modellen 3 und 4. Entstehen soll das Modell 12, dann eine Neutronenbombe,
lenkbar, gegen befestigte Anlagen einsetzbar, mit größerer Genauigkeit und
auch in Erweiterung der jetzigen Möglichkeiten, mit strategischen Bombern einsetzbar. Damit
haben sie die duale Verwendungsmöglichkeit taktisch und strategisch. Die Bundeswehr
soll im Kriegsfall mit dem Taktischen Luftwaffengeschwader 33 (Büchel) diese Bomben
einsetzen. Diese Teilhabe eines Unterzeichnerstaates des Atomwaffensperrvertrages
(der BRD), ist eine grobe Verletzung des Völkerrechts. Die Bundesregierung hat primitive
Argumente, mit denen sie eine Teilhabe nicht ablehnt und weshalb sie auch nicht den Abzug
der Waffen fordert.
Stationierung von Streitkräften
Ein drittes Problem, worauf hier eingegangen werden soll, ist die massive Stationierung
von Streitkräften der USA in Deutschland. Es ist die größte Garnison außerhalb der USA. In
Deutschland sind mit EUCOM und AFRICOM zwei von insgesamt 6 Regionalkommandos
der US-Streitkräfte stationiert, außerdem AIRCOM in Ramstein und andere Einheiten. Niemand
thematisiert dieses Problem vom Grundsatz her. Niemand stellt zwingend die Frage,
was diese Stationierung für einen Sinn und Zweck hat, und fordert den sofortigen Abzug.
Bei Kündigung des Stationierungsvertrages müssten diese Streitkräfte innerhalb von zwei
Jahren abziehen. Das wichtigste Ergebnis des Abzuges wäre, dass die USA eine ihrer bedeutendsten
Voraussetzungen für Kriege im Nahen und Mittleren Osten und künftig in Osteuropa
verlieren würden. Ohne die Basis Deutschland wären die aggressiven Möglichkeiten
der USA stark eingeschränkt.
Zu gemeinsamen Verhandlungen war auch eine hochrangige EU-Delegation angereist. Mit
ihr fand eine Abstimmung der Aktivitäten und Ziele der Politik statt. Die Aktivitäten der EU,
politisch und militärisch, sind nahezu deckungsgleich mit denen der NATO.
Eine bereits vor 1990 geübte Praxis wird erneuert und eine Art Vorwärtsstrategie wiederbelebt.
So durch die Vorstationierung von schweren Waffen und Gerät in Polen und im Baltikum.
Gemeinsame Übungen werden ausgeweitet und intensiviert, z.B. finden 2016 insgesamt
240 größere und kleinere Übungen statt.
Zweifelsfrei hat der Warschauer Gipfel zur Verschärfung der Beziehungen zwischen der
NATO und Russland beigetragen. Die gefassten Beschlüsse sind ein Beitrag zu Kriegsvorbereitungen,
zur Verschärfung einer gefährlichen Krise in Osteuropa. Dabei tun sich Polen
und die baltischen Staaten als lernfähige Partner der USA hervor.
Mit dem Ende des Sozialismus in Europa wurde der Weg zur Globalisierung des entfesselten
Kapitalismus frei. Was während der Blockkonfrontation für das Kapital nicht realisierbar
war, wurde nun möglich. Nach dem 11. September 2001 erklärten die USA einen langandauernden
Weltkrieg gegen den Terrorismus. Neueste Waffen und Strategien werden
erprobt, der atomare Ersteinsatz, die Selbstmandatierung und die Präventivkriegführung
sind Gegenstand der aggressiven Politik. Es finden Ressourcenkriege statt. Die Hochrüstung
wird vorangetrieben.
Notwendig ist und bleibt eine Politik der Reduzierung der Spannungen, der friedlichen Lösung
der Probleme. Längerfristig sollte eine neue Sicherheitsstruktur in Europa entwickelt
werden. Aber dazu bedarf es eines anderen Umgangs mit Russland. Ohne Russland ist die
entstandene gefährliche Situation nicht friedlich zu bewältigen.
Karl Rehbaum
Erstveröffentlichung in den Mittelungen der KPF Nr. 11/2016