Von Dagmar Henn
Was ist hundert Jahre nach Lenins Tod von seinem Werk geblieben? Manche glauben, dass es mit dem Ende der Sowjetunion untergegangen sei. Aber die Sowjetunion war nur die Spitze des Eisbergs. Der größere Teil dessen, was er bewirkt hat, wird jetzt erst sichtbar.
Vor hundert Jahren stand ein schmächtiger asiatischer Student in der Schlange, die am aufgebahrten Lenin vorbeidefilierte. Sein Name wurde in späteren Jahrzehnten weltbekannt, als er dem französischen Kolonialherrn eine gewaltige Niederlage bereitete. Sein Name war Ho Chi Minh. Dieser Moment fasst zusammen, was den Mann, dem er damals die letzte Ehre erwies, so bedeutend macht.
Man übersieht oft, wie eng unterschiedliche Ereignisse miteinander verknüpft sind. Ohne die Oktoberrevolution, ohne die Sowjetunion hätte es weder den Achtstundentag noch das Frauenwahlrecht gegeben. Hätten die Kämpfe für die Unabhängigkeit der Kolonien stattgefunden? Oder hätten sie schlicht den Besitzer gewechselt?
Die Sowjetunion und Lenin sind nicht voneinander zu trennen. Nicht nur, weil sie nie entstanden wäre, wenn er nicht im zweiten Anlauf am 10. Oktober 1917 im Zentralkomitee seiner Partei den Beschluss zum Aufstand durchgesetzt hätte. Sondern weil er entscheidend dafür verantwortlich war, dass nach diesem Aufstand tatsächlich etwas völlig Neues entstand, eine Art Staat, wie ihn die Welt zuvor noch nie gesehen hatte. Der nur möglich war, weil das Volk ihn nicht nur wollte, sondern aktiv daran mitwirkte, ihn zu schaffen.
Anders geht es nämlich gar nicht, etwas wirklich Neues zu errichten. Da genügt keine Handvoll Verschwörer mit einem großen PR-Apparat und viel Geld, wie bei den Farbrevolutionen, die so gut bekannt sind. Da muss alles, was einen Staat ausmacht, von unten aufgebaut werden; es braucht eine Unzahl lernwilliger, engagierter Menschen, die all die Stellen füllen, die gefüllt werden müssen, damit die Züge fahren, die Bäckereien backen, die Städte versorgt sind, die Straßen sicher… Einen vorhandenen, funktionierenden Apparat mit einer anderen Leitung zu versehen, das ist das eine; aber wenn der alte Apparat nicht mehr funktioniert, einen neuen zu schaffen, das geht nur mit starker Kooperation, das geht nur, wenn die Menschen es wirklich als ihre Sache sehen, diesem Neuen Leben einzuhauchen.
Auch wenn es vielfach so erzählt wird, eine Revolution ist nicht der Akt des Umsturzes, auch wenn sie in der Regel mit einem solchen beginnt. Die Revolution ist das, was vielleicht darauf folgt. Und was an dem Folgenden bedeutend und wirkmächtig ist, erweist sich erst im zeitlichen Abstand.
Das bürgerliche Recht ist eine der großen Errungenschaften der Französischen Revolution, auch wenn es erst unter Napoleon entstand, weil die Voraussetzung eines solchen Rechts die Aufhebung von Ständen und Zünften, von hunderten Sonderrechten war. Die politische Gestalt, die in Paris nach 1789 geschaffen wurde, war das Produkt einer Entwicklung, die Jahrhunderte davor in oberitalienischen Stadtrepubliken begonnen hatte, einer langen Kette von Versuch und Scheitern. Und wirklich etabliert hat sich das, was man heute als bürgerliche Demokratie kennt, was in den letzten Jahrzehnten der Normalzustand kapitalistischer Herrschaft war, mit Parlament, Gewaltenteilung etc., erst Jahrzehnte danach.
Das ist der Punkt, an dem die Sowjetunion heraussticht. Denn die Entwicklung dieses neuen Modells von einem Staat, der vor allem auf gemeinsamem Eigentum an den Produktionsmitteln basiert statt auf privatem, der eine Herrschaft des Volkes sein soll statt der wirtschaftlich Mächtigen, hatte nur ein einziges konkretes Vorbild: die 72 Tage der Pariser Kommune. Und auch die umfangreichen Werke von Marx und Engels enthalten, mit Ausnahme von wenigen Sätzen von Marx über eben diese Kommune, nicht wirklich eine Blaupause für diese neue Gesellschaft. Wie sollte das Recht beschaffen sein? Wie das Bildungssystem? Wie erreicht man die nötige wirtschaftliche Entwicklung?
Im dritten Buch, das der US-Historiker Alexander Rabinowitsch über die Russische Revolution geschrieben hat (“Die Sowjetmacht: Das erste Jahr”), benutzt er den ersten Jahrestag der Oktoberrevolution als roten Faden seiner Darstellung. Er beschreibt ausführlich, wie überrascht die Bolschewiki waren, diesen Jahrestag überhaupt begehen zu können. Die ursprüngliche Erwartung der Handelnden in der Oktoberrevolution war, sich mit Glück ein paar Tage länger zu halten als die Pariser Kommune. Niemand, wirklich niemand dachte im Oktober 1917 an siebzig Jahre.
Je tiefer man ins Detail geht, desto überraschender wird es, das dieses ungeheure Experiment so lange erfolgreich sein konnte. Erfolgreich genug, um den Überfall der zu dieser Zeit modernsten Armee zurückzuschlagen, die auf Industrie und Ressourcen ganz Westeuropas zurückgreifen konnte, und sechzehn Jahre danach Menschen ins All zu schießen.
Man muss nur eine halbe Stunde über die Frage nachdenken, was alles nötig wäre, um aus dem krümelnden Deutschland wieder auch nur einen funktionierenden bürgerlichen Staat zu machen, um zu erkennen, wie ungeheuerlich diese Leistung war. Natürlich geschehen, selbst bei bestem Wissen und Gewissen, Fehler. Aber Rudolf Benz macht auch niemand Vorhaltungen, weil sein Wagen keine 160 Stundenkilometer fuhr oder heutige Abgasvorschriften nicht einhalten könnte.
Die russische Debatte um Lenin kreist vielfach um die Nationalitätenpolitik, und insbesondere, dass die russischen Industriegebiete des Donbass der Ukraine zugeschlagen wurden, wird ihm zum Vorwurf gemacht. Aber mit der zeitlichen Wirkung von Entscheidungen ist es so eine Sache, die Folgen können sich sehr von den Absichten unterscheiden. Was heute richtig ist, muss es morgen noch lange nicht sein, und in der Geschichte finden sich oft unerwartete Nebenwirkungen.
Die kleine Karibikinsel Haiti wird noch heute für den erfolgreichen Sklavenaufstand abgestraft, der vor über zweihundert Jahren stattfand; hätte er deshalb nicht stattfinden sollen? Die Schweiz verjagte die Habsburger und bewegte sich danach jahrhundertelang auf Zehenspitzen durch die Geschichte, um ja die Aufmerksamkeit der ehemaligen Herren nicht auf sich zu lenken, weshalb sie den deutschen Bauernaufstand 1525 nicht unterstützte, was letztlich die Idee der Schweizer Neutralität gebar; und das fürchterliche deutsche Leid im Dreißigjährigen Krieg endete mit dem Westfälischen Frieden, der seinerseits – durch die einmalige Art der konfessionellen Konkurrenz – dafür sorgte, dass das deutsche Geistesleben sich vor allem durch genaue Begriffe auszeichnete, was dann in den Naturwissenschaften Jahrhunderte später zum Vorteil wurde. Nichts ist frei von Widersprüchen.
Aber neben dem Problem, zu dem diese Zuordnung russischer Gebiete nach 1992 wurde, schuf diese Nationalitätenpolitik noch etwas ganz anderes: ein Modell für den Umgang der Völker miteinander, sprich, die Vorlage auch für die Außenpolitik und insbesondere, die Vorlage für den Umgang mit all jenen Völkern, die damals noch unter kolonialer Herrschaft standen. Ein Ende dieser kolonialen Herrschaft war Teil des sowjetischen Programms, eine Konsequenz aus Lenins Analyse des Imperialismus und seinem Geschick, Bündnispartner zu finden. Ho Chi Minh, der 1920 die Kommunistische Partei Frankreichs mitgegründet hatte, war im Januar 1924 als Student in Moskau.
Es bedarf heute einiger Anstrengung, um zu begreifen, wie enorm der Schritt war, den die Sowjetunion damals gegangen war; schließlich wird selbst in den Kernstaaten des Westens heute die meiste Zeit über zumindest so getan, als hielte man die Bewohner des globalen Südens für gleichwertig, auch wenn die eigentliche Gesinnung derzeit immer wieder hervorbricht. Damals, zu Beginn der 1920er, wurde völlig unverhüllt geäußert, dass man sich selbst für das Licht der Welt und die Menschen in den Kolonien für eine Art Nutzvieh hielt.
Und dann gibt es diesen alten sowjetischen Film, Zirkus. Ja, er ist von 1936, entstand also zwölf Jahre nach Lenins Tod, aber man muss ihn nur sehen, um zu erkennen, dass diese Jahre nicht entscheidend sind. Entscheidend ist etwas ganz anderes: Noch dreißig Jahre später wäre im Süden der Vereinigten Staaten jedes Kino niedergebrannt worden, das ihn gezeigt hätte. Die Hauptfigur ist nämlich eine weiße amerikanische Zirkusartistin mit einem unehelichen schwarzen Kind auf einer Tournee in der Sowjetunion, die von ihrem Zirkusdirektor damit erpresst wird, er werde ihre “Schande” bekanntmachen.
Das ist ein Unterhaltungsfilm, ganz im damals populären Stil einer halben Revue mit Gesang und Tanz, wie bei Fred Astaire und Ginger Rogers. Ein Film, für den die Zuschauer ganz normal Eintritt bezahlten, ohne großen künstlerischen oder gar politischen Anspruch. Aber genau dieses Detail besagt etwas: Dass die Zuschauer sich nicht irritiert fühlten, als am Ende des Films das Zirkuspublikum erklärt, ihm wären alle Kinder lieb, ob schwarz, weiß oder blau. Zu dieser Zeit beschäftigten sich die Länder des Westens – beileibe nicht nur Nazideutschland – mit Rassenlehre und Eugenik. In der Sowjetunion wurde das Musikstück, mit dem der Film endet, so populär, dass der Anfang der Melodie jahrzehntelang die Erkennungsmelodie von Radio Moskau war.
An der Welle der Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion nicht nur durch ihren Sieg über Nazideutschland einen Anteil, sondern mindestens ebenso sehr durch die Unterstützung und Ausbildung, die sie Unabhängigkeitskämpfern aus diesen Ländern zukommen ließ. Das Verhältnis zwischen Indien und Russland heute fußt auf der Hilfe beim Aufbau der Industrie, die die Sowjetunion dem jungen indischen Staat nach der Unabhängigkeit leistete. Und all das beruhte auf Lenins Einschätzung, die unterdrückten Völker in den Kolonien seien die natürlichen Bündnispartner der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern, und deren Kampf um die Befreiung aus kolonialer Unterdrückung trage entscheidend dazu bei, auch die Arbeiter der Kernländer zu befreien.
Das heutige China würde ohne Lenin nicht existieren. Das heutige Indien wäre nicht industrialisiert. Lenin ist auch eine Gestalt der russischen Geschichte, aber nicht nur. Dieser neue Staat, der damals unter seiner Führung geschaffen wurde, legte die Grundlagen auch für jene Möglichkeit der Befreiung, die heute durch BRICS geboten wird. Die siebzig Jahre der Sowjetunion sind nur ein Bruchteil seines Erbes. Der größere Teil wird jetzt erst sichtbar, selbst wenn er nicht so bezeichnet wird.
Zuerst erschienen bei RT Deutsch am 22.1.2024