Mit Stolz und Ärger – Rückblick des letzten DDR-Chefaufklärers auf die DDR 1989. TEIL 1

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von Tilo Gräser

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR hat den Untergang des eigenen Landes nicht verhindern können. Auch dessen Kundschafter, heute Spione genannt, haben dabei nur zusehen können. Warum das so war, hat Generaloberst a.D. Werner Großmann, letzter DDR-Chefaufklärer, im Gespräch mit Sputnik versucht zu erklären.

Der Mauerfall vom 9. November 1989, die Öffnung der DDR-Grenze in der Nacht zum 10. November 1989, hat Werner Großmann überrascht. Der letzte Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) erinnerte sich im Gespräch mit Sputnik daran, dass das so nicht vorgesehen war. An dem historischen Tag sei im Zentralkomitee (ZK) der SED das neue Reisegesetz der DDR beraten worden. Das Ergebnis sollte erst am 10. November bekanntgegeben werden und in Kraft treten.

Der letzte DDR-Chefaufklärer bezeichnete die Art und Weise, wie SED-ZK-Mitglied Günter Schabowski am 9. November vor 30 Jahren die neue Reisefreiheit bekannt gab, als „holprig“. Und fügte hinzu: „Ich vermute, dass er nicht unbewusst gestammelt hat, sondern aus welchen Gründen auch immer es so gemacht hat, wie er es gemacht und damit die Öffnung der Grenze veranlasst hat. Das war ja die Folge dessen, was alle überrascht hat. Vorgesehen war das in dieser Form überhaupt nicht.“

„Bewusste Handlung“

Großmann meinte, das spätere Verhalten Schabowskis sei der Grund dafür, dass er selbst Absicht hinter der Geschichte mit dem Zettel vermute. „Das war eine bewusste Handlung“, worauf auch hindeute, was der SED-Funktionär darüber in Büchern schrieb. Das zeige, dass Schabowski etwas Anderes dachte und wollte, „als er in seiner Funktion hätte tun müssen“.

Nachdem er das im DDR-Fernsehen gesehen hatte, habe sein Telefon geklingelt. Das eigene Ministerium habe ihn informiert, dass viele Menschen zu den Grenzübergängen in Berlin kommen würden und nach West-Berlin wollten. „Meine Reaktion war, auch meiner Frau gegenüber: Um Gottes willen, das ist das Ende! Aber hoffentlich wird nicht geschossen!“

Er habe befürchtet, dass einer der Grenzoffiziere der DDR die Nerven verliert und die Schusswaffe einsetzt. „Das wäre ganz schlimm gewesen“, so Großmann. Das sei zum Glück nicht passiert. Aber es sei Chaos entstanden, weil niemand darauf vorbereitet war, die Grenzen so plötzlich zu öffnen. Das habe auch für das MfS und dessen Abwehrdienst-Einheiten gegolten, die die Grenze zu sichern hatten. Selbst Mielke sei überrascht worden von den Ereignissen, obwohl er an der vorherigen ZK-Beratung teilgenommen hatte. Niemand habe gewusst, was zu tun ist.

„Längere Entwicklung“

„Da ist mir eigentlich klargeworden, dass es der Beginn eines Prozesses ist, wie er auch immer ausgehen mag.“ Das Ende, die deutsche Einheit, habe er damals aber nicht so klar vorhergesehen, so der HVA-Chef. „Aber, dass es der Beginn einer neuen Ära sein wird, war mir klar.“

Für den Ex-HVA-Chef ist grundsätzlich klar, dass eine längere Entwicklung der DDR zu diesem historischen Datum führte. Aus seiner Sicht spielten bei der Implosion des eigenen Landes innere und äußere Faktoren eine Rolle. Im Inneren haben aus seiner Sicht die anwachsende Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung sowie die falsche Reaktion der Partei- und Staatsführung dazu beigetragen.

„Das war eigentlich abzusehen, dass ein Großteil der Bevölkerung unzufrieden war mit der Entwicklung bis dahin in der DDR. Gerade das Problem, reisen zu können, was immer eingeschränkter möglich war, selbst in die Ostblock-Länder, trug dazu bei.“ Die fehlende Reisefreiheit für DDR-Bürger sieht er als eines der Hauptprobleme des untergegangenen Landes.

„Falscher Umgang“

Das sei eine der Ursachen für viele der Ausreiseanträge in die BRD gewesen, meint Großmann im Rückblick. „Damit wurde wiederum aus meiner Sicht falsch umgegangen, weil sie nicht politisch, sondern strafrechtlich behandelt wurden. Auch das Ministerium für Staatssicherheit hatte ja die Aufgabe, diese Bürger zu überwachen und die Ausreise möglicherweise zu verhindern. Selbst Minister Mielke hat damals bei einer Besprechung, an der ich teilgenommen habe, gesagt, es sei eigentlich überhaupt nicht Aufgabe der Staatssicherheit, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, sondern dass das politisch gelöst werden müsste.“

Das habe Mielke im internen Kreis gesagt, aber „sicher nicht gegenüber Honecker oder anderen verantwortlichen Funktionären, um da etwas zu verändern. Das war eine fehlerhafte Politik, die gemacht wurde.“

Der letzte DDR-Chefaufklärer sagte zudem: „Man hätte wirklich mal mit den Bürgerrechtlern, die kritisiert und Vorschläge gemacht haben, sprechen müssen. So haben wir das damals gesehen.“ Es sei ein „ganz entscheidender Fehler gewesen“, dass das ausblieb. „Der größte Teil dieser Leute, die sehr aktiv waren, wollten die DDR nicht abschaffen“, ist sich Großmann bis heute sicher. „Die wollten eine andere DDR. Eine andere DDR wäre schon noch möglich gewesen, aber nicht allein.“

„Kein Ende in Sicht“

Für Großmann spielen auch die wirtschaftlichen Probleme des Landes eine Rolle. Der ehemalige Chef-Aufklärer der DDR berichtete, dass bis Mitte 1989 alle Informationen der eigenen Agenten bzw. Kundschafter aus der Bundesrepublik zeigten, dass dort die Entwicklung der DDR mit Sorge betrachtet wurde.

Im Westen sei über Probleme und mögliche Aufstände im Osten gesprochen worden, „aber vom Ende der DDR hat man eigentlich nicht gesprochen“. So sei es in den weitergegebenen Informationen der HVA über das bundesdeutsche Meinungsbild darum gegangen, dass es Probleme gäbe, „aber das Ende ist nicht zu befürchten“.

Großmann antwortete auch auf die Frage, warum das MfS mit seinen Informationen aus der DDR selbst anscheinend machtlos war und die Implosion des Systems nicht verhindern konnte. Der frühere Generaloberst erinnerte sich an eine Sitzung des MfS-Kollegiums im Frühjahr 1989. An einer solchen nahmen einmal im Monat alle führenden Offiziere der Staatssicherheit teil.

Kein Putsch

Diese Sitzung sei anders als die vorherigen gründlich vorbereitet worden, mit einer vorab übermittelten Analyse der Situation in der DDR. Darin seien viele Probleme aufgelistet und noch größere Schwierigkeiten befürchtet worden. Ebenso habe es Vorschläge gegeben, was geändert werden müsste. „Das hat es vorher nie gegeben, soweit ich das einschätzen kann.“

In der Sitzung hätten alle Teilnehmer unterstützt, was in dem Material zusammengetragen war. Vor allem die eigenen Erfahrungen hätten dafür gesorgt, dass die vorgeschlagenen politischen Korrekturen begrüßt wurden. Er selbst habe die HVA-Informationen über die Sichten aus der Bundesrepublik wiedergegeben, berichtete Großmann. Er sagte zu der Analyse und der Sitzung: „Wenn man es ganz ernst genommen hätte, hätte man sagen müssen: Jetzt müssen wir wirklich auch was tun und das nicht nur zur Kenntnis nehmen!“

Am Ende der Sitzung hätten die MfS-Offiziere ihren Minister Mielke gebeten, das Material der DDR-Partei- und Staatsführung zu übergeben und Veränderungen einzuleiten. Doch Mielke habe darauf gesagt, die Gesamtanalyse müsse nach Themen aufgeteilt und das Wirtschaftsteil an das zuständige Politbüro-Mitglied Günter Mittag und das andere Teil an Honecker weitergegeben werden. Das war aus Großmanns Sicht „wieder ein ganz entscheidender Fehler“.

Ignoranz der SED-Spitze

Es stimme auch, dass viele Informationen der Abwehr-Abteilung des MfS, zuständig für das Inland, über die Lage in der DDR von der Partei- und Staatsführung ignoriert wurden. Darüber habe sich selbst Mielke empört. Dieses Vorgehen nach dem Prinzip „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“, sei ein ganz entscheidender Fehler gewesen, hob der letzte HVA-Chef hervor. Selbst der Honecker-Nachfolger und letzte SED-Generalsekretär Egon Krenz habe ihm vor kurzem, als er ihn danach gefragt habe, nicht erklären können, warum die DDR-Spitze so ignorant war.

„Die Parteiführung hatte sich so weit vom Volk entfernt und glaubte das nicht, was ihr gemeldet wurde. Sie hat selbst auch nicht begriffen, dass etwas geschehen muss. Es war eine schlimme Situation, dass alles, was sorgfältig geprüft und vorgeschlagen wurde, nicht ernst genommen wurde.“

Er habe von der eigenen Partei- und Staatsführung nie erfahren, wie dort mit den entsprechenden Informationen umgegangen wurde. Das sei aber nicht überraschend, sondern so üblich gewesen. Zwar habe das MfS jeweils angegeben, an wen innerhalb der SED-Spitze und der DDR-Regierung die Informationen gehen sollten. Er wisse nicht, ob und in welcher Form sie durch Mielke tatsächlich weitergegeben wurden, gestand Großmann ein.

Bestätigung aus dem BND

Ihm sei bekannt, dass Geheimdienste aller Herren Länder mit dem Problem zu tun haben, dass ihre politischen Auftraggeber nur auf das reagieren, was ihnen passt. Er habe in den 1990er Jahren ein Gespräch mit dem leitenden Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) Volker Foertsch gehabt, der ihm das bestätigt habe.

Allerdings habe es unter den DDR-Partei- und Staatsfunktionären Ausnahmen gegeben, wo es so war, „wie es in der Spitze hätte sein müssen“, und die auf die Informationen aus dem MfS reagiert hätten. Die Ignoranz der SED-Spitze gegenüber den Informationen der MfS-Aufklärer habe sich erst nach dem Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 herausgebildet, erklärte Großmann.

Werner Großmann, geboren 1929, leitete in der Nachfolge von Markus Wolf ab 1986 den Auslandsnachrichtendienst der DDR. Er gehörte dem Dienst seit dessen Gründung 1952 an. Der Generaloberst war zugleich auch stellvertretender Minister für Staatssicherheit der DDR. Von ihm erschien im Verlag „edition ost“ das Buch „Der Überzeugungstäter“, in dem seine Gespräche mit dem Journalisten Peter Böhm über seine jahrzehntelange Tätigkeit für das MfS und dessen Auslandsaufklärung wiedergegeben werden.

Teil 2 des Gespräches mit Großmann erscheint am Sonntag, dem 19. Mai 2019. Der letzte DDR-Chefaufklärer geht darin auf die Rolle der Sowjetunion bei den Ereignissen 1989 ebenso ein wie auf die Rahmenbedingungen für die Existenz der DDR international.

Erschienen in Sputnik 18.05.2019