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von Tilo Gräser
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR hat den Untergang des eigenen Landes nicht verhindern können. Ihr letzter Chefaufklärer, Generaloberst a.D. Werner Großmann, hat im Gespräch mit Sputnik versucht, das zu erklären. Im 2. Teil geht er auch auf die Rolle der Sowjetunion damals ein.
Werner Großmann war der letzte Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Er erinnerte sich im Gespräch mit Sputnik daran, was in der DDR im Jahr 1989 geschah und wie es zum „Mauerfall“ kam“. Im ersten Teil ist er insbesondere auf die innere Entwicklung des Landes eingegangen, die zum 9. November 1989 geführt hat.
Im 40. Jahr der DDR gab es anscheinend kaum jemanden, der die Lage und die daraus entstandenen inneren Gefahren klar eingeschätzt hat. Niemand hatte sich für notwendige Veränderungen eingesetzt, notfalls gegen die eigene Führung. „Es ist von Einzelnen nichts unternommen worden“, bestätigte Großmann. Die Lage sei zur Kenntnis genommen worden, und viele hätten sich über die ausbleibende Reaktion der Führung geärgert.
Er selbst habe Mitte 1989 mit leitenden Mitarbeitern des SED-Apparates, so mit Günter Sieber und Bruno Mahlow, darüber gesprochen, die für internationale Fragen zuständig waren. Diese hätten die Lage des eigenen Landes „sehr, sehr kritisch“ eingeschätzt, so Großmann. Sie hätten vorgeschlagen, in Moskau auf die Entwicklungen in der DDR hinzuweisen. Doch entsprechende Versuche hätten nichts bewirkt.
Keine Hilfe aus Moskau
Der frühere MfS-Generaloberst erinnerte sich an einen Besuch des KGB-Verbindungsoffiziers Gennadi Titow Mitte 1989. Dabei habe der sowjetische General erklärt: „Wenn es wieder zu Unruhen in der DDR kommen sollte, nimm´ zur Kenntnis: Unsere Truppen bleiben in der Kaserne und rücken nicht mehr aus.“ Das sei eines der Zeichen aus Moskau gewesen, dass der „Große Bruder“ nicht mehr zu Hilfe kommt. Solche Hinweise seien später abgestritten worden, erklärte Großmann und fügte hinzu: „Aber das war so.“
Im eigenen Apparat seien die Lage der DDR diskutiert und mögliche Reaktionen vorbereitet worden. „Aber mehr ist auch nicht geschehen“, so der Ex-HVA-Chef. Er widersprach Legenden, wonach sein Vorgänger Markus Wolf nach seinem Ausscheiden aus dem MfS 1986 sich auf eine mögliche Machtübernahme vorbereitet habe. Es habe von dessen Gesprächspartnern in der DDR immer wieder den Wunsch gegeben, dass Wolf sich als „Reformer“ politisch einmischt.
Sein Vorgänger habe zwar immer wieder Gespräche mit der DDR-Spitze geführt, aber Wolf habe sich nach seinem Ausstieg aus dem MfS nicht um eine politische Funktion bemüht. „Er hat immer zu mir gesagt: Wenn ich irgendwo helfen kann, werde ich es tun. Aber selbst bin ich nicht interessiert, irgendein Amt zu übernehmen.“
Gorbatschow auf West-Kurs
Die Rolle der Sowjetunion in den letzten Jahren der DDR sieht der ehemalige DDR-Chefaufklärer kritisch. Mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow 1985 habe sich Moskau auf politische Veränderungen im eigenen Lager vorbereitet. Dazu habe das Zugehen auf den bisherigen Gegner im Westen gehört. Kundschafter des MfS in der Bundesrepublik hätten damals eine wachsende Zahl von Gesprächen sowjetischer Funktionäre mit bundesdeutschen Politikern gemeldet.
So sei der SPD-Politiker Egon Bahr ein beliebter Gesprächspartner für Vertreter der KPdSU gewesen. Er habe gemeinsam mit Wolf einmal bei den Genossen vom KGB nachgefragt, ob sie ständig bei Bahr auftauchten, erzählte Großmann. Das sei verneint worden, was aber „sicher nicht stimmte“. Die sowjetischen Kontakte in die Bundesrepublik seien nach Gorbatschows Machtantritt deutlich ausgebaut worden.
Der Ex-HVA-Chef brachte seine Meinung dazu auf diesen Punkt: „Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse (damaliger sowjetischer Außenminister – Anm. d. Red.) haben die DDR verkauft.“ Beide hätten ganz enge Beziehungen zu Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher aufgebaut. „Sie sind dafür auch entsprechend bezahlt worden.“ Von Moskau sei keine Hilfe mehr zu erwarten gewesen, blickte Großmann auf das Jahr 1989 zurück.
Neuer US-Botschafter von der CIA
Für das MfS sei klar gewesen, dass CIA-General Vernon Walters 1989 ganz gezielt in der Bundesrepublik als US-Botschafter eingesetzt wurde, so der Ex-HVA-Chef. Staatsstreiche seien das Spezialgebiet des damals reaktivierten CIA-Veteranen gewesen, schrieb Klaus Eichner, bei der HVA für US-Geheimdienste zuständig, 2010 in der Tageszeitung „junge Welt“: „Er war Operativchef der CIA und in dieser Funktion verantwortlich für die CIA-Operation ‚Centauro‘ zur umfassenden Unterstützung des Militärputsches in Chile (1973) und bei Aktivitäten zum Abwürgen der Nelkenrevolution in Portugal (1974)“.
Walters Erscheinen sei als Zeichen der USA verstanden worden, sich stärker in die Umbrüche im Osten einmischen zu wollen, so Großmann. Er konnte nicht bestätigen, ob sich das in verstärkten US-Aktivitäten zeigte. So nahe sei das MfS nicht an Walters und dessen Umfeld herangekommen.
Für ihn sei immer klar gewesen, dass der zweite deutsche Staat nie allein existieren konnte, nicht ohne die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten. Der Zerfall des realen Staatssozialismus innerhalb des „Warschauer Vertrages“ habe zum Ende der DDR beigetragen. Es wäre eine andere Entwicklung möglich gewesen, wenn im gesamten damaligen Ostblock früher eine andere Politik eingeleitet worden wäre, ist sich der ehemalige Geheimdienstmann sicher.
Äußerer Einfluss nicht allein entscheidend
Die Versuche des Westens, auf die Entwicklung in der DDR aktiv Einfluss zu nehmen, hätten ab Mitte 1989 zugenommen, so Großmann. Die HVA sei in den Vorjahren gut über politische Einflussversuche aus der BRD informiert gewesen. „Es konnte Einiges abgewehrt werden“, so ihr letzter Chef im Rückblick, „aber in der letzten Zeit nicht mehr“. Er ist sich aber sicher: „Der äußere Einfluss allein ist nicht ausschlaggebend gewesen.“
Für den früheren MfS-General ist es angesichts des Rummels um den Mauerfall 1989 wichtig, daran zu erinnern, dass die DDR nicht im luftleeren Raum existierte und entstand. Ohne den deutschen faschistischen Überfall auf die Sowjetunion 1941 und den von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieg hätte es die DDR nie gegeben.
Dieser historische Fakt wird meist weggelassen, wenn Politik und Medien an die Ereignisse vor 30 Jahre erinnern. Dazu gehört für Großmann auch, dass die DDR am stärksten herangezogen wurde, um die von den Deutschen in der Sowjetunion bis 1945 angerichteten Zerstörungen durch Reparationen wiedergutzumachen.
Stolz, Ärger und Traurigkeit
Dagegen hätten die USA als westliche Besatzungsmacht und Schirmherr der BRD alle Ressourcen und keine Kriegsschäden gehabt. Die Schwierigkeiten der DDR hätten viel mit der Geschichte zu tun gehabt, „wie der Krieg abgelaufen und wer vor allem die Opfer gewesen sind. Die US-Amerikaner waren keine Opfer im Vergleich.“ Die Verluste der USA hätten nicht im Ansatz den Umfang der Opfer und Schäden der Sowjetunion gehabt.
„Im Westen gab es zu essen, im Osten nicht. Hier musste alles neu geschaffen werden, eine neue Industrie aufgebaut werden. Vieles musste neu geschaffen werden, bis hin zur erdölverarbeitenden Industrie.“
Er blicke zum einen mit Stolz auf die DDR und seinen Beitrag zu ihrer Existenz zurück, antwortete der letzte Leiter der DDR-Aufklärung auf die entsprechende Frage. „Darauf bin ich nach wie vor stolz, ebenso auf die vielen Mitarbeiter und Kundschafter, die uns dabei geholfen und unterstützt haben. Ich glaube, das dürfen wir auch sein.“
Zum anderen empfinde er „großen Ärger, dass es uns nicht gelungen ist, das zu erhalten, was wir geschaffen haben, und aufgeben mussten“. Dazu gehöre auch Traurigkeit, „möglicherweise nicht genug auf unsere Führung Einfluss genommen zu haben, um das zu verhindern“.
Werner Großmann, geboren 1929, leitete in der Nachfolge von Markus Wolf ab 1986 den Auslandsnachrichtendienst der DDR. Er gehörte dem Dienst seit dessen Gründung 1952 an. Der Generaloberst war zugleich auch stellvertretender Minister für Staatssicherheit der DDR. Von ihm erschien im Verlag „edition ost“ das Buch „Der Überzeugungstäter“, in dem seine Gespräche mit dem Journalisten Peter Böhm über seine jahrzehntelange Tätigkeit für das MfS und dessen Auslandsaufklärung wiedergegeben werden.
Erschienen in Sputnik 19.05.2019