Von Arnold Schölzel
Die Gründung der UdSSR am 30. Dezember 1922 brachte etwas Neues in die Welt: Den Anfang vom Ende des kolonialen Zeitalters. Der Westen hat noch immer Angst vor dem Sowjetstaat
Der Name »Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken« (UdSSR, russisch Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik, SSSR), deren Gründung der 1. Unionskongress der Sowjets am 30. Dezember 1922 in Moskau beschloss, war Programm. jW-Autor Werner Pirker schrieb vor 20 Jahren an dieser Stelle: »Welthistorisch einzigartig an der Sowjetunion war nicht, dass sie eine Union, sondern dass sie sowjetisch war. Sowjetisch ist keine nationale oder supranationale Kategorie, sondern eine soziale, gesellschaftliche. Erstmals definierte sich ein Staat nach dem Charakter seiner Gesellschaftsordnung.« Pirker notierte: »Die Sowjetunion verkörperte die positive Aufhebung der Nation im bürgerlichen Sinn. Gleichzeitig war sie die Geburtsstätte neuer Nationen. In Mittelasien fanden Kasachen, Turkmenen, Tadschiken, Usbeken und Kirgisen im Prozess der sozialen Emanzipation zum Bewusstsein ihrer Nationalität.« Das lässt sich verallgemeinern: keine koloniale Befreiung ohne die UdSSR.
Das soll so nicht gewesen sein, schon gar nicht im Innern des Landes. Fast täglich schwadroniert hierzulande gegenwärtig irgend jemand vom angeblich genozidalen Charakter russischer Politik seit Jahrhunderten. Zwar ist die Rede vom »Untermenschen« nicht mehr opportun, aber eine Art angeborene Blutrünstigkeit soll es schon sein. Am 25. Juli fragte zum Beispiel der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel in der FAZ: »In welchem Verhältnis steht Russland zur zivilisierten Welt? Die Konzepte, mit denen über Russlands Krieg gesprochen wird, entscheiden über Inklusion oder Exklusion Russlands.« Da hatte sein Kollege Heinrich August Winkler – vor 30 Jahren ein besonders eifriger Abwickler von DDR-Forschern – schon als erster in der Zeit Putin mit Hitler gleichgesetzt. Dem folgte eine Heerschar deutscher Experten.
Umdeutung der Geschichte
Das Problem: Anders als in den USA oder den anderen durch Kolonialismus und Sklaverei geprägten Staaten des Westens gab es selbst im zaristischen Völkergefängnis keine systematische Ausrottung der Ureinwohner – bis 1867 einschließlich Alaskas. Durch Oktoberrevolution und Sowjetunion erhielten gerade sie Zugang zu eigener Schrift, zu Bildung, zum staatlichen Gesundheitswesen und zum Rechtssystem. Die Geschichte der UdSSR ist unter anderem eine Geschichte der Emanzipation indigener Völker.
Von den Nachfolgestaaten der UdSSR zählt allein die heutige Russische Föderation mit 143 Millionen Einwohnern 160 Nationalitäten. Von ihnen erfahren deutsche Jugendliche, die mit den grotesken Hollywood-Abziehbildern nordamerikanischer Indigener früh verbildet werden, nie etwas. 82 Prozent der Einwohner dieses »Russlands« sind Russen, an zweiter Stelle stehen Tataren mit 3,8 Prozent, es geht weiter mit den Awaren (mehr als 900.000 in der Föderationsrepublik Dagestan im Kaukasus) über die Jakuten (knapp 500.000 in der größten Föderationsrepublik Sacha in Sibirien) bis hin zu einigen tausend Tschuwanzen und Yupik, das sind westliche Eskimo im autonomen Kreis Tschukotka an der Beringsee.
Die Dialektik von Zentralstaat und autonomer Entwicklung, in der sich die UdSSR bewegte, die in der Nationalitätenpolitik möglicherweise die schwerwiegendsten Fehler machte, wurde durch die Konterrevolution im wesentlichen zerstört. Der Markt regelt aber nichts für Minderheiten, er ist für sie oft tödlich. Das gefährdet inzwischen den Föderationsstaat. Das Ende der UdSSR, das am 26. Dezember 1991 mit dem Einholen der roten Fahne auf dem Moskauer Kreml besiegelt wurde, beseitigte nicht nur die relative soziale Gleichheit der Individuen, sondern auch die zwischen den Völkern. In den baltischen Republiken, in der Ukraine und im Kaukasus griffen die an die Macht gekommenen Nationalisten und Fundamentalisten auf russophobe Stereotype zurück, die zuletzt vom deutschen Faschismus genutzt worden waren. Nach mehr als 30 Jahren dieser vom Westen und insbesondere von den USA geschürten und gelenkten Entwicklung werden nun diese rassistischen Muster Teil der in Westeuropa herrschenden Ideologie. In den genannten postsowjetischen Staaten sind sie durch Bildungswesen, Medien, durch staatliche Diskriminierung russischsprachiger Minderheiten oder durch Unterdrückung jeder Opposition wie im Kiewer Herrschaftsbereich Teil der jeweiligen Staatsdoktrin.
Wichtigstes Vorhaben scheint dabei die Verfälschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu sein, das heißt die Verfälschung des Anteils der UdSSR, ihrer Völker und ihrer Armee beim Sieg über den Faschismus. 2015 wurde es noch als absurd empfunden, als der damalige polnische Außenminister Grzegorz Schetyna phantasierte, nicht russische, sondern »ukrainische Soldaten« hätten Auschwitz befreit. Wenig später erklärte der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk im Interview mit den ARD-»Tagesthemen«: »Wir können uns alle sehr gut an die sowjetische Invasion sowohl der Ukraine als auch unter anderem Deutschlands erinnern.« Bundeskanzlerin Angela Merkel schwieg dazu. Die deutsche Staatsräson wird nur bei Relativierung des Holocaust aktiviert, nicht bei Leugnung der Massenvernichtung durch den Krieg des deutschen Faschismus gegen die UdSSR oder gar Verunglimpfung des Widerstands der Roten Armee. Der Krieg kostete 27 Millionen Menschen das Leben.
Sieben Jahre nach Jazenjuks unwidersprochener Bemerkung wurde am 8. und 9. Mai 2022 in Berlin in großem Maßstab Polizei aufgeboten, um das Gedenken an die Rote Armee und die Opfer der Sowjetunion soweit wie möglich zu unterbinden. Dafür gibt es seit dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 2021 in Berlin das von Merkel eröffnete Dokumentationszentrum der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung«. Die Deutschen sind Opfer – der UdSSR. Im wissenschaftlichen Beirat der Stiftung sitzt kein Vertreter einer früheren Sowjetrepublik. Der polnische Historiker Tomasz Szarota trat aus ihm schon 2009 aus und erklärte dazu: »Deutschland soll endlich seine Gesellschaft darüber aufklären, dass nicht Flucht und Vertreibung vieler Menschen aus ihren angestammten Gebieten das größte Unglück des Zweiten Weltkriegs darstellen. Eine viel größere Tragödie war die Vertreibung aus dem Leben.«
Tödliche Gefahren
Die Frage, warum es der Sowjetunion gelang, den faschistischen Angriff abzuwehren und trotz enormer materieller und menschlicher Verluste im Gegenstoß bis in die Hauptstadt des Feindes zu gelangen, wird unter solchen Vorzeichen nicht gestellt. Die Antwort auf sie kann auf die Abkürzung UdSSR reduziert werden. Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und Intervention der Westmächte hatten den zaristischen Staat zerstückelt. Die Bolschewiki gingen davon aus, dass der nächste Krieg des Westens gegen die Sowjetunion ein Kolonial- und Ausrottungskrieg sein würde. Ihn hinauszuzögern bestimmte Innen- und Außenpolitik – vom Vertrag von Rapallo 1922 über den Nichtangriffspakt mit dem faschistischen Deutschland 1939 bis zum Zwei-plus-vier-Vertrag zur deutschen Einheit 1990. Den betrachtet die BRD-Regierung seit dem Ende der UdSSR im Grunde als erledigt.
Die Wiederherstellung von Staatlichkeit war ein erster Schritt – Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit nach innen und außen. Heute vor 100 Jahren schlossen sich die Russische, die Ukrainische, die Belarussische und die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik zur UdSSR zusammen.
Der zweite Schritt waren die Konsolidierung der Wirtschaft und die Industrialisierung. Bis Mitte der 1920er Jahre gab es keinen Traktor, kein Auto und kein Flugzeug aus sowjetischer Produktion. In vielen Teilen des Landes und in der Armee war die Rückständigkeit 1941 zu Beginn des deutschen Überfalls trotz verzweifelter Anstrengungen während der Atempause, die der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt gewährte, nicht überwunden. Mit einer logistischen Meisterleistung gelang es aber, die wichtigsten Industriebetriebe an den Ural und noch weiter östlich zu verlagern und dem deutschen Zugriff zu entziehen. Die Wehrmacht hatte sich bald mit Panzern und anderen Waffen auseinanderzusetzen, die heute legendär sind.
Kaum war der Sieg am 9. Mai errungen, mit Verlusten, die letztlich nie aufgeholt werden konnten, trat eine noch größere Bedrohung auf die Weltbühne. Der Abwurf der US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 war auch eine Drohung gegen die UdSSR. Vier Jahre später war zwar das Atombombenmonopol gebrochen, 1957 folgte der »Sputnik«-Schock, und die Sowjetunion war eine anerkannte Weltmacht in Wissenschaft und Technik. Auf einem anderen Blatt steht aber, dass die militärische Parität bei strategischen Waffen mit den USA in den 1960er Jahren erreicht wurde, als fast gleichzeitig eine Stagnation in der Produktivkraftentwicklung begann. Das war nicht mehr zu kompensieren. Durch das Zurückbleiben bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht zuletzt in der Landwirtschaft scheiterte die UdSSR letztlich – von allen subjektiven und objektiven Faktoren, die außerdem eine Rolle spielten, abgesehen.
Nach dem Ende des Sowjetstaates stellte sich heraus, dass der Kalte Krieg sich nicht nur gegen den Sozialismus gerichtet hatte, sondern auch gegen den größten Nachfolgestaat, die Russische Föderation. Die bloße Existenz des Riesenstaates mit seinen unermesslichen Rohstoffvorkommen wird wie schon im 19. Jahrhundert insbesondere von den Hauptmächten des Westens als Gefahr betrachtet.
Etappensieg der Reaktion
Der Sozialismus galt nach dem Ende der UdSSR auch in weiten Teilen der internationalen Linken als erledigt. Die Formel vom »Ende der Geschichte« ist keine Erfindung des US-Politologen Francis Fukuyama, sie war schon Inhalt der Marx-Revision und -Kritik Eduard Bernsteins um 1900, später der Programmatik der Sozialdemokratie insgesamt und des Eurokommunismus der 1970er Jahre. Wo angeblich die Widersprüche einer Gesellschaft, die objektiven und subjektiven Voraussetzungen für eine Revolution, für einen Wechsel der Gesellschaftsformation schwinden, wird Dialektik, die methodische Bearbeitung von Widersprüchen, wird Theorie überhaupt für überflüssig oder für utopistisch-sektiererisch erklärt.
Das war nach den großen Revolutionen des Bürgertums nicht anders. Die Idee des historischen Stillstands, der ewigen »Natürlichkeit« kapitalistischer Verhältnisse oder der Wiederkehr des Gleichen mythisiert Geschichte. Sie ist Ausdruck von Anpassung ans Bestehende – in Deutschland von Novalis bis zur Frankfurter Schule oder Arnold Gehlen. Marx hielt 1847 über diese Art der Ideologieproduktion fest: »Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. Wenn die Ökonomen sagen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse – die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion – natürliche sind, so geben sie damit zu verstehen, dass es Verhältnisse sind, in denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind diese Verhältnisse selbst von dem Einfluss der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr; es hat eine Geschichte gegeben, weil feudale Einrichtungen bestanden haben und weil man in diesen feudalen Einrichtungen Produktionsverhältnisse findet, vollständig verschieden von denen der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Ökonomen als natürliche und demgemäß ewige angesehen wissen wollen.« (Marx-Engels-Werke Bd. 4, S 139f.)
Sozialismus und ein sozialistischer Staat können, wo das Ende der Geschichte wieder einmal entdeckt wurde, nur als Gipfel der »Unnatürlichkeit« begriffen werden. Voraussetzung für diese Betrachtungsweise ist, die Klassenkämpfe weltweit, insbesondere die das 20. Jahrhundert bestimmenden antikolonialen Befreiungsbewegungen, auszublenden. Sie werden von den Ideologen des Imperialismus zu Barbarei, Terror oder totalitärem Angriff auf die Zivilisation erklärt. Das war nach dem Ende der UdSSR und der Entfesselung endloser Kolonialkriege durch den Westen nicht anders – auch auf zuvor progressiver Seite: Domenico Losurdo sprach von einer »imperialen Linken«, die seit 1991 die neokolonialen Kriege weitgehend unterstützt habe. Das Modell lieferte unter anderem der kürzlich verstorbene Hans Magnus Enzensberger, der zum Irak-Krieg 1991 in Saddam Hussein den »Wiedergänger Hitlers« erkannte und so den Angriffskrieg der USA zum antifaschistischen Feldzug adelte. Bis zum Hofhistoriker Winkler und den heute weitgehend in den Konservatismus inkorporierten »Antideutschen« hat sich intellektuell auf diesem Gebiet nichts weiter getan.
Wird nicht das »Ende der Geschichte« akzeptiert, dann aber – auch oft von Marxisten – die Behauptung, dass die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus an ihr Ende gelangt sei. Die These von der allgemeinen Krise des Kapitalismus sei falsch. Dem ist entgegenzuhalten: Die allgemeine Krise bezeichnet eine Situation, in der sich der Weltkapitalismus in das Kräfteverhältnis zum Sozialismus und zu den nationalen Befreiungsbewegungen stellen muss, das heißt nicht mehr auf eigener Basis handeln kann. Das galt, solange die UdSSR existierte, für die Sozialpolitik und die Tolerierung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie im Innern. Es galt aber auch für die Versuche des Westens, die Sowjetunion militärisch zu beseitigen – von den Interventionskriegen und der Unterstützung bewaffneter Gruppen in der Sowjetunion bis weit in die 1920er Jahre hinein über die Duldung und Förderung des deutschen Faschismus bis zur atomaren Bedrohung seit 1945. Den Griff des Faschismus zur Weltmacht nahmen auch die Westmächte nicht mehr hin und schlossen die Antihitlerkoalition mit der UdSSR. Die USA traten faktisch an dem Tag bei, als die Rote Armee vor Moskau im Dezember 1941 die Wehrmacht zurückdrängte und erstmals die Blitzkriegsstrategie scheitern ließ. Das festzuhalten, ändert nichts an der Achtung vor dem antifaschistischen Kampf aller alliierten Soldaten.
Krise des Kapitalismus
Hans Heinz Holz hat 1991 Gültiges zu dieser Problematik notiert: »Die Beschreibung der inneren Widersprüche und Verfallserscheinungen im kapitalistischen System mündete in die richtige Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus.« Sie verlaufe seit dem Ersten Weltkrieg in Wellenbewegungen und meine mehr als Börsenkräche und Konkurse. Falsch sei indessen die Schlussfolgerung gewesen, »die allgemeine Krise des Kapitalismus bedeute auch dessen zunehmende Schwäche und Niedergang, und der aufsteigende Sozialismus werde – könne er sich nur gegen Aggression schützen – in der Systemkonkurrenz notwendig und in nicht allzulanger Frist obsiegen.« Aus Holz’ Sicht wurden dabei die Ressourcen und der Reichtum, über den der Kapitalismus verfügte, »weit unterschätzt«. Zudem sei verkannt worden, »dass die Krise die Bewegungsform des Kapitalismus ist«. Drittens sei unbeachtet geblieben, dass dieser die Produktivkraftentwicklung im Rahmen seiner Produktionsverhältnisse steuern könne, »wenn auch mit immer weniger Aussicht auf langfristige Stabilität«.
Holz wies zugleich darauf hin, dass die Folgerung, die Epoche als die des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu bezeichnen, zwar nicht falsch sei und nur beim nicht auszuschließenden Untergang der Menschheit widerlegt sei. In der Auffassung aber, »der Sozialismus seit weltweit das Ziel der Geschichte unseres Zeitalters«, seien »die inneren Schwierigkeiten und Widersprüche dieser sozialistischen Gesellschaften bei weitem unterschätzt worden«. Dem ist wenig hinzuzufügen.
Nur zwei Dinge. Objektiv: Seit dem Jahr, als Holz das schrieb, vollzog sich der Aufstieg der Volksrepublik China zu einer Weltmacht – eine Entwicklung in historisch kurzer Frist, die nur mit jener der UdSSR bis 1941 verglichen werden kann. Der Imperialismus kann diese Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt nur um den Preis eines atomaren Krieges rückgängig machen. Gedanklich hören in Washington einige Leute damit nicht auf und spielen damit – in der Ukraine, aber auch gegenüber China.
Subjektiv: Zu den Ideen, die seit 1917 nicht mehr aus der Welt zu bringen sind, gehört die einer unmittelbar von den Volksmassen getragenen Staatsmacht. Die Anstrengung, im Imperialismus den Schein allgemeiner Mitbestimmung aufrechtzuerhalten, absorbiert Medien und Parlamentarismus. Gleichzeitig nehmen der Umfang präventiver Aufstandsbekämpfung und der Ausbau des Repressionsapparates stetig zu – die Wiederbelebung von Nationalismus und Faschismus inbegriffen. Nach der historischen Niederlage von 1991 fehlt es jedoch an machtvollen linken Formationen, aber auch an Massenerfahrungen mit radikalem Demokratismus.
Aber zur Analyse gehört auch: Die Existenz der sozialistischen Länder über mehrere Jahrzehnte mit alternativen sozialpolitischen Einrichtungen – wie gut oder schlecht sie auch verwirklicht waren – ist bei vielen Menschen in den betreffenden Ländern, aber auch weltweit nicht vergessen. Hans Heinz Holz fasste das in die Wendung, die Oktoberrevolution und die Existenz der UdSSR und der sozialistischen Länder seien »normsetzend für soziale und geschichtliche Wertvorstellungen« gewesen. Im jW-Gespräch (siehe jW-Wochenendbeilage vom 10.12.2022) verwies der russische Historiker und frühere Diplomat Nikolai Platoschkin, der auch Gast der Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2023 sein wird, kürzlich auf die breite positive Resonanz, die er für seine Forderung nach Sozialismus in der Russischen Föderation erhielt: »Die Leute erwarten, dass der Sozialismus auf legalem Weg in unserem Land zurückkommt. Selbst das Wort Sozialismus war bis dahin verpönt – und nun trat einer für dessen Wiederaufbau auf.«
Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) spricht sogar davon, dass die Massenstimmung in der Bevölkerung des Landes laut Umfragen zunehmend prosowjetisch werde. Das sei, so der stellvertretende Parteivorsitzende Juri Afonin, »nicht nur und nicht so sehr Nostalgie als Ergebnis eines direkten Vergleichs der sowjetischen und postsowjetischen sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Erfahrungen.« Das Urteil vieler Menschen falle dabei eindeutig aus.
Erdumspannendes Erbe
Erst recht nicht vergessen ist die internationalistische Hilfe der UdSSR, die bis hin zur Unterstützung des bewaffneten Befreiungskampf der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas reichte. Die Behauptung, bei der russischen Militäraktion in der Ukraine 2022 handele es sich um Imperialismus, fand bei jenen Ländern, die jahrhundertelang Erfahrung mit Kolonialismus gemacht haben, wenig Zustimmung. Der in der Bundesrepublik vom Bundeskanzleramt gelenkte, immer noch mit großem Aufwand geführte Kampf gegen die DDR 32 Jahre nach deren Ende belegt das auf seine Weise: DDR-Bekämpfung ist Chefsache.
Die Sowjetunion leitete die Zerschlagung der Kolonialreiche ein. Ohne sie gäbe es keinen Aufstieg Chinas, keine Kubanische Revolution, kein befreites Südafrika. Das war die wirkliche Dialektik ihrer Existenz. Ihr Erbe ist wahrhaft erdumspannend. Es bestimmt noch immer in so großem Maß den Gang der Dinge auf dem Globus, dass selbst die heutige Aggression des Westens gegen Russland nur als Teil der Auseinandersetzung erscheint.
Aber selbst dabei stieß der Imperialismus unerwartet an Grenzen, weil auf ernsthaften Widerstand wie seit 1991 nicht mehr. Nach dem Putsch von Nationalisten und Faschisten in Kiew 2014 erhoben sich die Arbeiter im Donbass und bewaffneten sich. Sie verhinderten den Durchmarsch der Reaktion und damit des Westens bis an die russische Grenze. Seither führt Kiew gegen die Bewohner des Donbass Krieg, den der Westen finanziert, lässt seit acht Jahren Nazibataillone in Wohngebiete, auf Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser schießen und kann darauf vertrauen, dass das in westlichen Medien ignoriert wird. Der längste Krieg in Europa nach 1945, der nach Kiewer Angaben etwa 15.000 Tote gekostet hat, ist im Bewusstsein der Westeuropäer nicht vorhanden. Klar ist dort nur, dass diese Niederlage etwas mit der sowjetischen Vergangenheit zu tun hat. Gleiches gilt für den Ursprung der Auseinandersetzung. Sie hat, so Platoschkin plausibel, ihre Wurzel in der Furcht des Westens vor einem Wiedererstehen der UdSSR: Friedliche, kooperative Beziehungen allein zwischen Belarus, Ukraine und der Russischen Föderation sind ein Alptraum westlicher Strategen.
Gäbe es solche Beziehungen, kehrte nicht die UdSSR zurück. Aber das »kolumbianische Zeitalter«, wie es auch Losurdo nannte, die Ära des Kolonialismus, der den Kapitalismus groß machte und immer noch nährt, die Ära der hemmungslosen Durchsetzung des Rechts der Stärkeren, nicht der Stärke des Rechts, könnte nach mehr als 500 Jahren den Anfang vom Ende erleben. Losurdo formulierte als Ziel: »Tatsache ist, dass die Sache des Friedens nicht von der Sache der Demokratisierung der internationalen Beziehungen trennbar ist.« Oktoberrevolution und UdSSR repräsentierten den ersten Schritt dahin. Sie mussten deswegen rückgängig gemacht werden und verschwinden. Richtig gelungen ist das nicht.
Zuerst erschienen in der jungen Welt am 30.12.2022