Bei anderen gelesen…
von Dr. Wolfgang Schacht
Dieser Beitrag ist ein Aufschrei, der hoffentlich nicht wie ein Ruf in der Wüste verhallt. Warum? Weil wir am 2. Februar dieses Jahres den 75. Jahrestag des ruhmreichen Sieges der Sowjetarmee über die Nazi-Truppen in Stalingrad gefeiert haben. Die Reaktionen „unserer“ Regierung, Politiker, Parteien und Medien auf diesen gemeinsamen Feiertag sind beklemmend und beschämend.
In einem intensiven Studium des Materials zu diesem Thema bin ich zu der Auffassung gelangt, dass der russische Beitrag von Walerij Timoschenko „Das Stalingrader Evangelium“ am besten geeignet ist, dem deutschen Leser etwas Grundsätzliches zu diesem Thema zu sagen. Da inzwischen nur noch wenige Bürgerinnen und Bürger die russische Sprache beherrschen, habe ich diesen Beitrag wort- und sinngemäß in die deutsche Sprache übersetzt.
Angesicht einer in der Geschichte der Menschheit „neuen“ beispiellosen Russophobie, der ständigen Lügen über die russische Politik, Kunst und Kultur, der Beleidigung und Verunglimpfung ihrer Politiker, Künstler, Sportler, … und einfachen Menschen sehe ich mich dazu verpflichtet.
Haben wir wirklich schon alles vergessen? Warum sät das Establishment in Europa erneut Hass, Neid und Missgunst zu den russischen Menschen? Warum hat sich die NATO bis zur russischen Grenze ausgedehnt? Warum befinden sich seit 1945 erstmals wieder deutsche Truppen an der russischen Grenze? Warum werden in den Ländern Rumänien, Polen und im Baltikum amerikanische Angriffswaffen gegen Russland installiert? Warum gibt es völlig ungerechtfertigte Sanktionen gegen Russland? Warum ist Russland plötzlich wieder unser Feind? Warum tun wir nichts Konkretes dagegen? Fragen über Fragen! Auf alle Fragen erwarten unsere Bürgerinnen und Bürger eine klare Antwort.
Russland war, ist und bleibt unser natürlicher Verbündeter. Deshalb: Es wird die Zeit kommen und Russland wird wieder unser Partner und Verbündeter sein! Dafür leben und kämpfen wir!
Dr. Wolfgang Schacht 17. Februar 2018
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Das Stalingrader Evangelium
Gewidmet dem 75. Jahrestag unseres Sieges in der größten Schlacht des 2. Weltkrieges
von Walerij Timoschenko
übersetzt von Dr. Wolfgang Schacht
Jeder Sieg hat immer etwas Geheimnisvolles. Je größer und bedeutungsvoller er ist, desto rätselhafter erscheint er uns … Warum ist der Sieg in Stalingrad von solch großer Bedeutung? Warum ist er für uns und die gesamte Menschheit der entscheidende Moment der Wahrheit, die heilige Lanze des Schicksals, der entscheidende Wendepunkt des 2. Weltkrieges? Die gesamte Wahrheit über den Großen Vaterländischen Krieg und über Stalingrad werden wir wahrscheinlich erst vor dem Höchsten Gericht erfahren. In der gegenwärtigen Zeit ist es kaum möglich, sich ein Bild über die damaligen Bedingungen in Stalingrad zu machen. Selbst die furchtbaren Bilder über den Krieg im Irak und in Syrien, über die schrecklich zerstörten Städte Mossul oder Aleppo helfen uns in dieser Frage nicht weiter. Klirrende Kälte bei Temperaturen unter – 40° Celsius gab es dort nicht. Auch nicht während der Schlacht am Flughafen in Donezk …
Krieg – das ist kein Schachspiel! Auch wenn die Historiker und Politiker über diese Ereignisse ständig streiten, auch wenn sie uns ständig neue Fakten und Zahlen vorlegen, hinsichtlich der Wahrheit liegen sie in der Regel immer daneben. Wer weiß, vielleicht können kampferfahrene Offiziere, die ganze Kompanien und Bataillone in große Schlachten geführt haben, sich die Kampfepisoden in Stalingrad weit besser vorstellen und daraus wichtige Schlussfolgerungen für ihre eigenen Handlungen ableiten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit können sie deshalb, im Gegensatz zu uns, die detaillierten Aufzeichnungen über die Kampfhandlungen des Winters 1942 – 1943 richtig lesen. Vielleicht können sie auch das für mich völlig Unfassbare verstehen: Warum konnte die beste Armee der deutschen Wehrmacht nicht die Stadt Stalingrad endgültig einnehmen? In unseren Händen befanden sich nur noch 1/10 des gesamten Stadtgebietes und die Entfernung von der deutschen Frontlinie bis zur Wolga betrug 200 m …
Wie konnte es geschehen, dass die eiskalt denkenden und handelnden deutschen Krieger im Kampf um ein einziges Haus im Zentrum der Stadt Stalingrad im Verlaufe eines Tages fünf Infanterie-Bataillone verloren haben?
Um von einer Seite der Straße zur anderen Seite zu gelangen brauchten die Deutschen 28 Tage, für die Eroberung eines ganzen Quartals – 38 Tage. Im Zeitraum von 38 Tagen haben sie ganz Frankreich erobert …
Noch absurder erscheinen Ereignisse, hinter denen sich ein tiefer Sinn verbirgt. Wir konnten sie deshalb zunächst nicht richtig einordnen und verstehen.
Im Jahre 1941 stand uns tatsächlich die stärkste Armee der Welt gegenüber, eine Armee, die in zwei Jahren sehr große und wertvolle Kampferfahrungen gesammelt hatte. Ein militärisches Monster – ein Terminator. Unbesiegt und ungeschlagen! Ja, wir haben die deutsche Wehrmacht vor Moskau zum Stehen gebracht, nach mehr als 2 Jahren. Aber noch nicht besiegt! Vor uns hat sie Frankreich, Polen, Tschechien, die Niederlande, … erobert. Ganz Europa wurde zunächst in viele Stücke zerschlagen, dann jedoch unter der Führung von Adolf Hitler akribisch wieder zusammengefügt. Alle ihre Werke und Fabriken arbeiteten auf Hochtouren für die deutsche Wehrmacht. Mit den Flugzeugen, Panzern, Geschützen, Granaten, … der ganzen Europäischen Union unter der straffen Führung von Adolf Hitler, d.h. der 2. Europäischen Union nach Napoleons Russlandfeldzug im Jahre 1812, wurden wir massiv angegriffen.
Alle Verbündeten des Deutschen Reiches – Italien, Ungarn, Rumänien, Finnland, Slowakei, Kroatien – eilten zur Jagd auf den „russischen Bären“, der zwar angeschlagen, aber noch nicht tot ist. Und plötzlich … eine erste Niederlage vor Moskau. Die Welt hielt den Atem an! Wie ist das möglich? Kann man den Terminator tatsächlich zum Stehen bringen?
Schon vor dem Marsch auf Stalingrad haben sie (die deutschen Faschisten, Anm. d. Übersetzers) mehr als eine halbe Milliarde Europäer auf die Knie gezwungen, sie kämpften in Afrika und im Atlantischen Ozean. Sie hatten nicht den geringsten Zweifel, dass irgendetwas nicht so läuft, wie geplant. Ja, vor der Stadt Moskau ist ihr Angriff abgeprallt. Deshalb wurde vom deutschen Oberkommando die Entscheidung getroffen, von einem 2. Angriff Abstand zu nehmen. „Der Russe erwartet genau das, nämlich weitere Angriffe auf sein Zentrum“. Die Nazis brauchten Moskau nicht, genau genommen, auch nicht das riesige Land. Auf dem Wege zu einer neuen Weltmacht, treffen sie eine brillante, tödliche und unvorhersehbare Entscheidung – sie verlagern das Zentrum des Krieges in den Süden der Sowjetunion, in den Kaukasus, in den Nahen Osten, nach Afghanistan und Indien.
Es besteht nicht der geringste Zweifel: Wenn Hitler Stalingrad besiegt hätte, dann wäre auch die Türkei in den Krieg eingetreten. Die Sowjetunion hätte den Kaukasus und damit ihre Erdölquellen – das Blut des Krieges – verloren. Von diesen Quellen abgeschnitten, bleiben die Panzer stehen und die Flugzeuge im Hangar. Es ist bekannt, dass in dieser Zeit das Erdöl nur im Kaukasus gefördert und über Stalingrad in die Zentren der Sowjetunion verteilt wurde.
Und außerdem ist Stalingrad der einzige noch funktionierende strategische Rückzugspunkt, die letzte Hoffnung der vielen unglücklichen Flüchtlinge aus den besetzten und noch unbesetzten Gebieten. Über dieses Gebiet werden mit verzweifelt großen Anstrengungen auch die evakuierten Maschinen und Ausrüstungen für die Versorgung der Front geführt. Bevor die Werke hinter dem Ural mit voller Leistung arbeiten, schlägt das Herz des heiligen Krieges auf dem Mamajew-Hügel. Mehr als die Hälfte unserer Panzer T-34 wurden nördlich von Stalingrad produziert. Munition, Minen, Bomben und … Panzer T-60. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1942 verließen 1.500 Panzer das Werk.
Wir – das ist sicher verständlich – glaubten fest daran, dass Stalingrad gehalten wird. Die Deutschen – dass sie diese Stadt sehr schnell einnehmen werden. Deshalb wurden Bewohner von Stalingrad kaum evakuiert (nur 100.000). Ein sehr großer Teil der Bevölkerung blieb vor Ort, baute Befestigungsanlagen und arbeitete in den Fabriken.
Im Sommer 1942 tobte nicht nur an der Wolga der Krieg, sondern im ganzen Land. Deshalb gab es viele „Stalingrade“ über die wir nichts wissen.
Z. B.: In Noworossijsk hat ein Bataillon von Marinesoldaten mit einer Stärke von 500 Mann in einer schicksalhaften Zeit die ganze 18. Armee von General Ewald von Kleist aufgehalten. Die Matrosen blockierten den scheinbar unaufhaltbaren Marsch der Wehrmacht in den Süden. Wie die 300 Spartaner in der Antike. Meint Ihr, dass die Griechen damals alle gestorben sind? Von den 500 tapferen Marinesoldaten haben 50 überlebt.
Aber die Deutschen marschierten nicht entlang des Meeres in Richtung Sotschi und weiter nach Baku. Noworossijsk wurde niemals vollständig besetzt. Mehr als ein Jahr dauerten die Kämpfe – immer auf der gleichen Linie.
Wahrscheinlich liegt darin der zum Himmel schreiende Anachronismus des Jahres 1942. Irgendwo verhindern 500 unbekannte Marinesoldaten heldenhaft den Vormarsch einer ganzen Armee, und irgendwo werden zur gleichen Zeit 240.000 junge Menschen auf kriminelle Art sinnlos geopfert.
Am 2. Mai 1942 begann unsere Angriff auf Charkow. Der Ausgang dieses Befreiungsschlages war lebenswichtig für Stalingrad. Wie bekannt ist, ging die Initiative für diese Offensive von Nikita Chruschtschow, Mitglied des Militärrates der Front, aus. Stalin vertraute dem Marschall Timoschenko und Chruschtschow. Die Generäle Schukow, Wassilewski und der Vorsitzende des Generalstabes, Schaposchnikow, habe klar erkannt, dass die Aufklärung schlecht durchgeführt worden war und dass der Angriff auf den Frontvorsprung bei Barwenkowo deshalb sehr riskant ist. Sie haben die Angriffsbereitschaft von hundert Divisionen des Feindes vorausgesehen, konnten aber den Oberkommandierenden nicht mit ihren Argumenten überzeugen. Sie erhoben zwar Einspruch, jedoch sehr schüchtern. Letztendlich, wer waren sie? Einfach nur ehemalige Offiziere des Zaren. Schukow – Unteroffizier und zweimal Georgievsky Kavalier, Wassilewski – Stabskapitän mit gewaltiger Kampferfahrung, Boris Schaposchnikow – Oberst, Ritter des Ordens von St. Vladimir und Kommandierender der Don-Kosaken-Division. Chruschtschow war ein professioneller Berufsrevolutionär und Erster Sekretär des ZK der VKP (b) Ukraine. Außerdem stand er dem Genossen Stalin parteilich sehr nah. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat er als äußerst skrupelloser Kämpfer gegen die Feinde des Volkes in den 30-iger Jahren des vorigen Jahrhunderts mehr als 150.000 Parteigenossen vernichtet. Im Jahre 1942 wagte sich schon niemand mehr, ihm zu widersprechen.
Der Kampf um Charkow – eine tragische Aventiure im Frühjahr 1942 – wurde verloren, weil die Vorbereitung und Aufklärung äußerst schlampig war. Am 29. Mai teilte Stalin dem Marschall Timoschenko und Chruschtschow telegraphisch mit, dass im Verlaufe von drei Wochen die Süd-West-Front dank seiner Leichtgläubigkeit nicht nur die Hälfte des gewonnenen Territoriums im Raum Charkow wieder verloren hat, sondern auch noch 18 bis 20 Divisionen. Außerdem schrieb er ihnen in diesem Zusammenhang, dass im Falle einer offiziellen Mitteilung im Land über den vollständigen Umfang dieser Katastrophe, welche die Front erlitten hat und weiter erleidet, man mit ihnen sehr hart abrechnen würde.
Es lohnt sich kaum zu sagen, dass weder eine derartige Mitteilung im Lande noch eine harte Bestrafung der Parteigenossen jemals erfolgte. Und das angesichts von hunderttausend Gefangenen und zweihunderttausend gefallenen Soldaten.
Sogar in diesen hoffnungslosen Schlachten kämpften viele Soldaten tapfer bis zum bitteren Ende.
Nur wenige wissen, dass der bei Charkow tapfer kämpfende Kommandeur eines Zuges, Sergej Iswekow, der künftige Patriarch der Russischen Kirche, Pimen, wurde. Nach dem Einschlag einer deutschen Granate, lag er mehr als 24 Stunden mit seinen Soldaten vollständig verschüttet unter der Erde. Praktisch lag er schon im Grab, aus dem ihn seine Genossen rechtzeitig heraushoben. Noch nicht vor langer Zeit, im Jahre 1936, entsagte er nicht seinem Glauben, saß viele Jahre im GULAG (sowjetisches Gefangenenlager), baute den Moskau – Wolga – Kanal und ist wie durch ein Wunder aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Er gehörte zu denjenigen, die alles verstanden: über Chruschtschow, über Stalin und über das „rote Experiment“ in Russland. Trotz alledem ging der künftige Monarch an die Front, mitten in die heißeste Schlacht. Sergej kam in ein Hospital. Vier Monate lag er dort zwischen Leben und Tod. Eine ideale Zeit zum Beten. Doch offensichtlich wurde er noch auf der Erde gebraucht. Im Hinterland – er arbeitete für die Reorganisation – ging er wieder in den Kampf. Ja, es gab bei uns einen derartigen Patriarchen. Vielleicht liegt auch in seinem Schicksal das Geheimnis von Stalingrad, das Geheimnis des Sieges.
Die Tragödie von Charkow war wahrscheinlich der letzte Triumpf der Wehrmacht. Leider müssen wir sagen, Chruschtschow hat ihr dabei sehr geholfen. Nikita Chruschtschow – bei Charkow, Lev Mekhlis (einer der Organisatoren der Säuberungsaktionen in der Roten Armee) – an der Krimfront, Kliment Woroschilow – in Leningrad. Das Resultat ist überall gleich – eine einzige Katastrophe. Überall dort, wo professionelle Revolutionäre versuchten zu kommandieren, gab es hunderttausende Opfer und einen vollständigen Verlust der strategischen Initiative. Mit so viel Mühe und mit so viel Blut wurde auch Moskau den Händen der Feinde entrissen.
Es ist bezeichnend, dass niemand von den Initiatoren der Tragödie besonders gelitten hat. Sie wurden nur leicht ausgeschimpft … Vielleicht lag es auch daran, dass sich die Doktrin vom revolutionären Krieg als leeres Geschwätz und Worthülse erwies. Solche Verluste, solche Niederlagen wie im Sommer 1941 hat die russische Armee in ihrer ganzen Geschichte nicht erlebt. Offensichtlich liegt es nicht im Interesse des russischen Menschen, für die 3. Internationale und für die Weltrevolution zu kämpfen und … zu sterben.
Seit dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges bis zur Schlacht in Stalingrad ist nur etwas mehr als ein Jahr vergangen. Aber wir müssen verstehen, dass dort schon eine andere Armee kämpfte – eine neue und junge Armee. Jene, die in den Jahren 1939 – 1940 vorbereitet wurden und das Lied sangen „Wenn es zum Krieg kommt, dann sind wir darauf vorbereitet …“ (sinngemäß, Anm. d. Übersetzers) waren schon in der Zeit vom Juni bis September 1941 gefallen oder in deutsche Gefangenschaft geraten. Sie bleiben ewig in unserer Erinnerung! Stalingrad war der Umbruch, der Übergang vom revolutionären Krieg zum Großen Vaterländischen Krieg. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit hat das auch Stalin verstanden.
Während der Verhandlungen mit den Briten und Amerikanern am 14. August 1942 in Moskau sagte er dem Botschafter der USA, William Harriman: „Wir haben keinerlei Illusionen, dass sie für uns, für die Bolschewiken kämpfen. Sie kämpfen für ihre Heimat, für Mütterchen – Russland“.
So hat er es gesagt: sie und wir.
Besonders traurig ist die Tatsache, dass der Gegner uns die Niederlage bei Charkow nicht mit den Kräften erbrachte, die er für den entscheidenden Angriff auf Stalingrad vorgesehen hatte. Die 6. Armee wurde vom General Paulus kommandiert, ohne Zweifel von einem militärischen Genie des 3. Reiches, einem Mitautor des Planes „Barbarossa“, einem teuflisch klugen Gegner. Es kam die Zeit, dass er seine eigenen Ideen selbst umsetzen musste, in Stalingrad, in scharfen und erbarmungslosen Attacken. Für den Sturm auf die Stadt brauchte Paulus keine zahlenmäßige Überlegenheit an militärischen Kräften. Unsere Kräfte waren gleich. Entscheidend war nicht die Anzahl der Panzer und Soldaten. Die größte Gefahr bestand in ihrem militärischen Intellekt, ihrer Präzision, ihren eiskalten Berechnungen, ihrer Fähigkeit, blitzartig die erforderlichen Kräfte an den richtigen Ort zu platzieren. Damit konnten sie an jedem Punkt, in jeder Minute einen erdrückend operativen Vorteil erreichen. Darin besteht die Fähigkeit zu kämpfen.
Der Terminator, eine ideale Maschine zum Morden, bewegte sich auf uns zu.
In Stalingrad lebten zu dieser Zeit fast 500.000 Menschen. Paulus wusste alles. Er besaß genaue Luftaufnahmen von der Stadt und seiner Umgebung. Wie immer baute er auf seine moderne Technik, auf massierte Angriffe mit seinen Flugzeugen.
Am 23. August 1942 entflammte der ganze Himmel über Stalingrad. Zuerst wurden die leicht entflammbaren Phosphorbomben abgeworfen. Milliarden von folienartigen Teilchen explodierten und verbrannten bei gewaltiger Hitze. Anschließend erfolgte der Luftangriff mit hochexplosiven Bomben. Zum Einsatz kamen standardgemäß die „Junkers-88“ mit drei Tonnen Bomben an Bord. Im Verlaufe von drei Tagen wurden auf die Stadt mehr als 20 Kilotonnen (Maß für die bei einer Explosion freiwerdende Energie, Anm. d. Übersetzers) abgeworfen, mehr als beim Abwurf der Atombombe in Hiroshima. Ein sehr bekanntes Foto des Krieges, das den Titel trägt „Ein Faschist kommt geflogen“, zeigt Kinder, die es gerade noch geschafft haben, in den Schützengraben zu springen und mit Entsetzen in den Himmel blicken. Es wurde im August 1942 in Stalingrad aufgenommen.
Alles brannte. Das brennende Erdöl aus vielen Speicherbehältern floss in die Wolga. Die Wolga brannte. Alle Wasserleitungen wurden zerstört. Die vielen kleinen Holzhäuser der Stadt brannten lichterloh. Die Brände konnten nicht gelöscht werden. Die Temperatur in der Stadt stieg auf über 40° Celsius. Augenzeugen berichten, dass die vielen Brände in der Stadt feurige Wirbelstürme ausgelöst haben. Die wahre Hölle, wie drei Jahre später in der deutschen Stadt Dresden nach den englisch-amerikanischen Bombenangriffen.
Vor den Augen der Soldaten verbrannten im August 1942 die Menschen bei lebendigem Leibe, wie Papierfiguren. Schon am ersten Tag mehr als 5.000, vorrangig Frauen und Kinder.
Falls irgendjemand von den Kämpfern bestimmte Einwände gegen die sowjetische Macht hatte – die gab es ohne Zweifel bei vielen -, dann stellten sie diese angesichts solcher Verbrechen vorerst zurück. Es reicht, Tod dem Feind! Das wie eine Fackel brennende Kind bleibt für immer in unserem Gedächtnis, ist auf der Netzhaut unserer Augen eingebrannt. Ihr werdet teuer dafür bezahlen! Hinter der Wolga gibt es für Euch kein Land mehr!
Fast gleichzeitig mit den Bombenangriffen ging der Feind an der ganzen Front zum Angriff über. In der Nähe des Zentrums die 4. Panzerarmee unter der Führung von Hermann Hoth, an der Nordflanke die Stoßtruppen der 6. Armee. In diesem engen Raum hatten sie eine mehrfache Überlegenheit. Trotz eines kompetenten Widerstandes der Verteidigungskräfte in der Stadt, gelang es den Nazis die Front zu durchbrechen und sich mehr oder weniger im Gebiet des Stadtmarktes festzusetzen. Die Wolga war bereits in Sichtweite. Aber die Stadt hielt dem Angriff stand. Paulus hatte mehr erwartet. Der Panzerangriff von dieser Stärke in diesem winzigen Bereich der Front hätte die russische Verteidigung völlig zerschlagen müssen. Dennoch erkennt Paulus die Situation klar und deutlich: Der Fall von Stalingrad ist für ihn nur eine Frage von wenigen Tagen. Wir erinnern uns noch gut, dass die Deutschen im Verlaufe einer Woche die großen Städte Krasnodar und Rostow eingenommen haben. Ihre Gewissheit und Euphorie sind deshalb verständlich.
Vor einem Jahr haben die Hitlertruppen in nur 38 Tagen Frankreich besetzt. Niemand hat darüber nachgedacht, dass sie bis Stalingrad nicht eine einzige Stadt richtig gestürmt haben. An der Festung in Brest haben sie sich nicht lange aufgehalten. Sie ließen sie im Hinterland und rollten weiter. Dann wurden sie an der nicht besonders großen Stadt Smolensk fast einen Monat aufgehalten. Möglich, dass die Deutschen deshalb nicht rechtzeitig in Moskau ankamen. Aber es hat sich gezeigt, dass sie daraus keine ernsthaften Lehren gezogen haben. Stalingrad war eine ungewöhnliche Stadt, die sich längs der Wolga ausdehnte. Die Deutschen haben an der breiten Front gut gekämpft. Sie nutzten ihre enorme Mobilität und ihre zerstörerischen Panzerkeile. Doch an der Wolga erwartete sie eine völlig neue Disposition. Sie konnten nicht bis zum Ende abschätzen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden.
Für uns war die Situation unheimlich und tödlich. Wie durch ein unverständliches Wunder brachten die Matrosen der Wolgaflotte, die vorderen Bataillone der 62. Armee, die Reserveabteilungen der 13. Gardedivision den Feind zum Stehen. In einem entscheidenden Moment rettete die Division des Generalmajors Rodimzew unmittelbar nach der Überquerung der Wolga die Stadt vor einer drohenden Besetzung.
Die Soldaten, welche die Feuerbrunst am 23. August und die lebend brennenden Kinder noch gut vor den Augen hatten, kämpften gegen die Deutschen schon völlig anders. Nicht so, wie im Raum Charkow. Ihre Hartnäckigkeit und konstante Wut veränderte den Verlauf des Kampfes radikal.
Aber Paulus ist vorläufig gelassen, denn er hat die absolute Übermacht an Flugzeugen, an Panzern und radiotechnischen Ausrüstungen. Die Deutschen peilten sofort jeden beliebigen Stab von uns an, der mit seinen Truppen in telegraphische Verbindung trat und zerstörten ihn mit vielen Bomben.
Mit so einer Bombe wurde auch der Stab des Generals Sholudew zerstört. Der General war unter den Trümmern verschüttet. Ein Soldat wusste genau, wo er sich befand. Über ein Rohr versorgte man ihn mit Luft. Es war deutlich zu hören, wie er zusammen mit seinen verschütteten Offizieren unter dem Schutt Kosaken-Lieder sang. Nachdem sie ausgegraben waren, setzten sie ihren Kampf fort.
Die berühmte 62. Armee … Als Kommandierender wurde der General Wasili Iwanowitsch Tschuikow ernannt. Noch vor kurzer Zeit war er Militärdiplomat in China, ein kluger, feinfühliger, aber vorerst noch unbekannter Kommandeur. Unerwartet verlegt er seinen Stab unmittelbar an die Front des Feindes. Die Deutschen trauten ihren Augen nicht. Denn wenn der Stab vernichtet wird, dann ist eine Armee ohne Führung zum Untergang verdammt. In 200 – 300 Meter von der Front befand sich nun der Stab der Armee und neben ihm der Kommandopunkt des Regiments. Mit unbewaffneten Augen beobachteten sie den Kampf und trafen blitzartig wichtige Entscheidungen.
„Näher an die Schützengräben, Jungs, näher an den Gegner! Das ist der Weg zum Sieg, zu unserer Rettung!“.
Der Feind erhöhte die Anzahl seiner Bombenabwürfe auf bis auf zweitausend pro Tag. Während eines derartigen Fluges bombardierte die Luftwaffe auf Grund eines Fehlers den eigenen Stab des 339. Infanterie-Regiments. Praktisch alle leitenden Offiziere wurden getötet. Die Kundschafter der 13. Division hatten mit erbeuteten Signalraketen den deutschen Piloten falsche Zielanweisungen gegeben.
Wir wissen nicht, wer als erster zu dem folgenden verblüffenden Einfall gekommen ist: Wenn der Feind weniger als 50 Meter von dir entfernt ist, dann bis du praktisch unverwundbar. Seine starke Feuerkraft, seine Luftwaffe und Artillerie verlieren an Bedeutung, weil er Gefahr läuft, seine eigenen Kräfte zu vernichten. In diesem Fall ist nur der Nahkampf mit dem Gewehr, Bajonett und mit Handgranaten entscheidend.
Es gab viel Streit darüber, wer sich diese Taktik der Sturmgruppen ausgedacht hat. General Tschuikow oder irgendein anderer General? Erfahrene moderne Kampfoffiziere wissen, dass die Idee von den Soldaten kam. Die Generäle haben diese Taktik zum Glück rechtzeitig gesehen und die große Bedeutung für die Stärkung ihrer Kampfkraft erkannt.
Eine Sturmgruppe besteht maximal aus 8 – 10 Personen. Jeder Angriff, jeder Kampf hat seine eigene Spezifik. Und verlassen kann sich jeder – das ist klar – nur auf sich selbst. In einem derartigen Krieg kann nur ein wirklich freier Mensch kämpfen, denn nur dann ist jeder Soldat sein eigener General. Nur ein Mensch, der nicht aus Angst kämpft, sondern wegen seines Gewissens, der sich nicht selbst verletzt, sondern hartnäckig, schöpferisch und verzweifelt kämpft, der nicht heldenhaft sterben will, hat die Chance zu überleben und zu siegen.
Ende September 1942 verlagerte sich der Krieg in die Stadt. Um jede Straße, um jedes Haus wird verzweifelt gekämpft. Dem Gegner gelang es durch den massenhaften Einsatz von Panzern seine Truppen in der Hauptrichtung zu konzentrieren. Aufgrund der wesentlich geringeren und schwächeren Feuerkraft waren Teile der 62. Armee gezwungen zurückzuweichen. Die Deutschen dringen in das Zentrum der Stadt ein, gelangen bis an die Wolga und treiben ihre Keile in unsere Front. Unsere Verteidigungsfront besteht jetzt aus drei völlig voneinander isolierten Inseln.
Wahrscheinlich war das der schrecklichste und kritischste Moment in der Schlacht um Stalingrad, vielleicht sogar im ganzen 2. Weltkrieg. Selbst auf die Gefahr größter Verluste an Panzern und motorisierter Infanterie dringt der Feind vom Norden in unser Hinterland ein, um uns zu umzingeln. Aber entgegen aller Logik kämpft die Armee von General Tschuikow in dem Kessel weiter. In diesem Moment waren nur noch 1/10 des Stadtgebietes in unserer Hand. Auf den kleinen „Inseln“ wurde jedes Haus zu einer Legende. Das „Pawlow-Haus“ – ein berühmter Verteidigungspunkt und eine wahrhaftige Festung ist ein anschauliches Beispiel dafür.
Auf einem Frontabschnitt von 4 km Länge konzentrierten die Deutschen zwei Panzer- und zwei Infanterie-Divisionen. Verzweifelt versuchten sie die „Inseln“ zu zerschlagen. Es ist ihnen nicht gelungen. Warum? In Stalingrad wurde ein neuer taktischer Begriff geschaffen: Nicht die Einkreisung ist entscheidend, sondern die Verteidigung. Für die heutigen Fallschirmjäger ist das nichts anderes als die logische Art des Kampfes im Hinterland des Feindes. Nachdem sie dort abgesetzt und ihre Aufgabe erfüllt haben, ziehen sie sich zurück, wohl wissend, dass sie sofort verfolgt und de facto zwischen der Front und ihren Verfolgern ständig eingekreist sind.
Ein Veteran des Großen Vaterländischen Krieges, der in Stalingrad gekämpft hat, erzählte mir, dass sie in den schwersten Tagen dreimal täglich mit warmen Speisen versorgt wurden. Sie haben verstanden, dass sie nicht im Stich gelassen worden sind. Die Verteidigung basierte nicht nur auf der Tapferkeit und den Heldenmut unserer Soldaten, sondern auch auf den effektiven Einsatz beeindruckend genauer und abgestimmter Systeme zur Vernichtung des Feindes in mehreren Ebenen und Etappen. Detaillierte Kenntnisse über alle Ein- und Ausgänge in ein Gebäude, ausgezeichnete Arbeiten mit Pionier-Spengmitteln und wahre Meisterschaft bei der Korrektur von Artillerie-Geschossen und der Scharfschützen gehörten selbstverständlich dazu.
Mit anderen Worten, in Stalingrad kam der russische Charakter zum Tragen, der uns die Möglichkeit gab zu siegen. Ein Charakter, der mit der genauen Berechnung der Situation und einer nie dagewesenen Interaktion aller Teilstreitkräfte multipliziert werden muss.
In den einsamen Häusern, die vollständig eingekesselt waren, wurde bis zu 60 Tage gekämpft. Im „Pawlow-Haus“ ist das ein unwiderlegbarer Fakt der russischen Geschichte. Auf seinen Stufen starben mehr Faschisten, als bei der Einnahme von Paris.
Ein derartiges Haus verteidigte ein Leutnant mit dem einfachen Namen Iwan – ein künftiger Held der Sowjetunion und der künftige Archimandrit Kirill (Vorsteher – hochgeachtete Persönlichkeit und Autorität der russischen orthodoxen Kirche). Er war der Beichtvater von drei Patriarchen. Einer von ihnen war der Patriarch Pimen, d.h. Sergej Iswekow, der als Kommandeur eines Zuges bei Charkow gekämpft hat. Vater Kirill (Leutnant Pawlow) hat erzählt, dass er in den Trümmern eines Hauses in Stalingrad ein durch Explosionen zerrissenes Evangelium gefunden hat. Er sammelte seine Blätter und las es zwischen den Angriffen des Feindes. Seine Kräfte kehrten zurück, es beruhigte seine Seele. Er trug das Evangelium während des Krieges in seinem Rucksack, auch bei der Einnahme von Budapest und Prag. Der sowjetische Prosaschriftsteller, Wassili Grossman, schrieb: „Im Krieg zieht der russische Mensch ein weißes Hemd über seine Seele. Er lebt in Sünde, aber stirbt wie ein Heiliger“. An der Front sind die Gedanken und Gefühle der Menschen sauber, sie besitzen sogar eine klösterliche Bescheidenheit … Wir haben uns wieder vereint, versammelt, wie im Stalingrader Evangelium, und irgendetwas Geheimnisvolles, Bedrohendes, Rettendes wurde im Winter 1942 in den Ruinen geboren.
Die Scharfschützen waren immer eine starke Waffe der deutschen Wehrmacht. Wir haben dem Feind unsere eigene Taktik entgegengestellt, die in keiner Weise schlechter und weniger raffiniert war. Sowjetische Scharfschützen verbreiteten Angst und Schrecken unter den deutschen Soldaten. Einer der bedeutendsten unter ihnen war Wassili Saizew (in der deutschen Übersetzung: Wassili Hase) – ein Jäger aus dem Ural, der seine eigene Schule für Scharfschützen schuf. Seine Schüler hießen deshalb auch „Häschen“. Eine solche hartnäckige und grausame Konfrontation zweier starken Schulen für Scharfschützen gab es mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Geschichte der beiden Weltkriege nicht. In Stalingrad gab es praktisch keine „toten“, ungefährlichen Zonen. Überall wurde geschossen. Ein grusliger und tödlicher Raum. Duelle zwischen den Scharfschützen auf beiden Seiten der Front gehörten zur Tagesordnung. Aus Deutschland reisten nach Stalingrad erfahrene Scharfschützen, oft leitende Offiziere und Ordensträger. Sie kamen mit dem Ziel, die sowjetischen Scharfschützen (Saizew, Iljin, Passar, Tschechow, …) zu töten. Alexander Tschechow schrieb:
„Der Fritz fühlte sich anfangs sehr frei und sehr wohl. Sie tauschten die Soldaten in den vorderen Linien regelmäßig aus und schickten sie zur Erholung. In der Mittagszeit stellten sie den Beschuss völlig ein und riefen uns zu ‘Russe, schieß nicht, wir gehen zum Mittagessen! ’. Eine Woche habe ich gewartet, ich habe ihre Ordnung und Bewegung verstanden und sie an einem Tag alle erschossen“.
Seit diesem Tag haben die Deutschen verstanden, dass es in diesem Krieg mit dem „Späße machen“ vorbei ist.
Ein Scharfschütze, das ist nicht nur eine Maschine zum Töten. Das ist in seiner Art ein Stratege, der versteht, dass die Soldaten des Gegners essen und trinken müssen. Deshalb sucht ein Scharfschütze jene, die das Essen und das Trinkwasser in die vorderen Linien tragen. Wassili Saizew erzählt, dass er drei Tage einen derartigen Soldaten des Feindes im Visier hatte und damit die anderen zwang aus der Pfütze zu trinken. Im Ergebnis erkrankten ganze Bataillone der Deutschen an Dysenterie (Ruhr).
Mit immer größeren Verlusten gelang es dem Feind, sich vorwärts zu bewegen. Und plötzlich kam der Moment, an dem der schreckliche Terminator der Wehrmacht stehen blieb. Ein deutscher Leutnant der 14. Panzerdivision schreibt in einem Brief: „Wir kämpfen schon 15 Tage um ein Haus. Dutzende Körper unserer Kameraden liegen zerstreut in den Kellern und auf den Treppen. Die Frontlinie verläuft auf dem Korridor zwischen ausgebrannten Zimmern. Wir und die Russen werfen pausenlos Handgranaten. Überall Explosionen, Rauch und Ströme von Blut. Fragen Sie meine Soldaten, was eine halbe Stunde Nahkampf bedeutet. So müssen Sie sich Stalingrad vorstellen. 80 Tage und 80 Nächte Nahkampf. Die Entfernung wird nicht in Metern gemessen, sondern in menschlichen Körpern. Stalingrad, das ist keine Stadt, sondern eine gewaltige Rauchwolke, die uns erblindet und erstickt, ein gigantischer Feuerraum. Trotz massiver Handlungen der schweren Artillerie, ist es nicht möglich, dem Nahkampf auszuweichen. Die Russen übertreffen uns mit ihrer Fähigkeit sich gut zu tarnen. Sie sind sehr erfahren im Barrikadenkampf“.
Trotz alledem, haben die deutschen Soldaten nicht verstanden, warum sich der Krieg verändert hatte. Noch vor wenigen Monaten haben sie tausende verwirrte und verzweifelte sowjetische Soldaten mit ihren Maschinengewehren niedergemäht, solange, bis die überhitzten Läufe der Maschinengewehre das Morden beendete. Sie kämpften gedanklich noch immer mit einer bereits nicht mehr existierenden Armee des Jahres 1941.
Es fällt auf, dass unsere Verluste im Kampf mit den Deutschen praktisch auf dem gleichen Niveau waren. Doch für die Nazis, die sich auch militärisch als Vertreter der höchsten Rasse betrachteten, waren diese Verluste unerträglich. Ihr Bild vom deutschen „Übermenschen“ wurde zerstört.
Paulus und seine Generäle konnten nicht glauben, dass sie nicht fähig sind, die wenigen Verteidigungsinseln zu liquidieren. Letztendlich sind das nur ein paar hundert Meter und einige Häuser. Ihre große Erfahrung bei der siegreichen Eroberung ganzer Länder sprach absolut dagegen. Irgendetwas ging in den Ruinen vor, das sie nicht verstanden und das sich nicht in ihre eiserne deutsche Logik einordnen ließ. Noch ein wenig, noch ein, zwei Tage und wir werfen die 62. Armee in die Wolga. Ihre maßlose Arroganz, ihre militärische Besessenheit und ihre nazistische Hochnäsigkeit wurden ihnen zum Verhängnis. Den entscheidenden Wendepunkt, an dem es noch möglich war sich zurückzuziehen, große Teile der Divisionen in die Reserve einzugliedern bzw. sich völlig neu zu formieren, hatten sie bereits überschritten.
Abgelenkt von ihren eigenen Problemen, bemerkten sie nicht, dass sich in ihrem Hinterland die Zange langsam schloss. Die Generäle Schukow und Wassilewski haben bereits vor längerer Zeit im Generalstab einen Plan für die Einkreisung des Gegners im Raum Stalingrad ausgearbeitet. Nach der verhängnisvollen Offensive von Nikita Chruschtschow in der Ukraine und von Lev Mekhlis auf der Krim war es praktisch unmöglich, das Hauptquartier und den Oberkommandierenden davon zu überzeugen, eine derart große Offensive einzuleiten. Einen fertigen Plan gab es bereits. Alles war genau berechnet, alles war sehr riskant. Das wichtigste in ihm war nicht das Geschenk Gottes für die künftigen Marschälle des Sieges, sondern die Voraussetzung, dass die Generäle Tschuikow und Rodimzew nicht kapitulieren und nicht getötet werden. Sie kämpften in Stalingrad hartnäckig weiter und banden in der brennenden Stadt gewaltige Kräfte des Gegners. Doch haben sie noch genug Kraft? Wenn sie nicht durchhalten und sich zurückziehen müssen, dann sind die Operation „Uran“ und der Plan „Ring“ in großer Gefahr.
Doch solange der einsame Kämpfer und russische Dorfjunge, Iwan Pawlow, die Verteidigung hält, nur hoffend auf sich selbst und seine kräftigen Flüche, ist alles möglich.
In den Niederschriften des Generals Rodimzew lesen wir: „Irgendwann im September bemerkten wir, dass die Lieferungen von Munition u.a. sich merklich verringerten. Es klingt paradox, aber wir freuten uns, weil wir vermuteten, dass hinter der Wolga und weit an den Flanken eine Konzentration frischer Kräften für eine Offensive erfolgt. Deshalb werden wir uns gedulden, durchhalten und siegen“.
Hinter ihren Rücken wurden verdeckt und geheim viele hunderte Waffen, Panzer und schwere Granatwerfer gebracht. Und plötzlich bewegten sich viele Fronten, synchron und gleichzeitig … eine komplizierte und hinsichtlich ihres Maßstabes gewaltige Operation. Alle Fronten gingen zum Angriff über. Der Angriff im Hinterland der 6. Armee begann.
Paulus erteilt seiner Armee den Befehl umzukehren und an den Grenzen ihres Gebietes eine neue Verteidigungslinie aufzubauen. Das bedeutet, die Angriffe auf die Kämpfer von Tschuikow, Rodimzew, Sholudew und Batjuk einzustellen. Ein tolles Ereignis! Das bedeutete aber auch, dass an der Schwelle des Hauses von Iwan Pawlow zehntausende der besten Soldaten von Paulus gefallen sind und die „Übermenschen“ jetzt abziehen müssen, ohne sich dafür an ihrem Gegner zu rächen, ohne ihrer Bitterkeit und Wut freien Raum zu lassen.
In wenigen Stunden erfolgt eine monströse Konzentration deutscher Truppen in der Stadt für einen Großangriff: Zwei Divisionen auf jeden Kilometer der Front, zwanzig Soldaten auf jeden Meter der Front – alles, was sie dank ihrer neuen taktischen Meisterschaft erreicht hatten, ihre gesamten Kräfte mit ihrer irrsinnigen Wut führten sie auf unerklärliche Art und Weise in den sicheren Untergang und Tod.
Der Angriff der schweren Artillerie hinter der Wolga auf die deutsche Truppenkonzentration im Stadtgebiet von Stalingrad war verheerend und schrecklich.
Am 23. November 1942 wurde im Gebiet von Kalatsch der Ring geschlossen. Uns ist es vorläufig nicht gelungen, die 6. Armee aufzulösen, aber ihre Lebensmittelvorräte und ihre Munition gehen zur Neige. Sie erfrieren, sie sterben durch Krankheiten und fallen durch die Geschosse der schweren Artillerie (Stalinorgel). Der Versuch von Felsmarschall Manstein, den Kessel um die 6. Armee zu durchbrechen, scheitert. Die 62. Armee von General Tschuikow, die so viele Tage Stalingrad erfolgreich verteidigt hat, geht zum Angriff über.
Der Feind ist geschlagen und entwaffnet, die 6. Armee hat kapituliert, darunter auch Friedrich Paulus, der gerade von Hitler zum Feldmarschall ernannt worden ist. 22 Generäle gerieten in die Gefangenschaft. Sie kämpften nicht bis zur letzten Patrone und nahmen sich auch nicht das Leben. Im Kampf zeigten die Soldaten und Generäle, dass sie keine Feiglinge sind. Warum haben sie sich ergeben? In den Gefechten bei Stalingrad gab es etwas, was ihr eigenes Weltbild völlig zerstört hat. Deshalb haben sie unseren Sieg akzeptiert. Auch für uns waren das wichtige Erkenntnisse.
In solch schweren Zeiten, wie in den Jahren 1941 und 1942 entwickelt sich etwas im Menschen, das die Philosophen die 2. Geburt nennen. Stalingrad, das ist die 2. Geburt des russischen Soldaten, der sowjetischen Armee, des ganzen Landes.
Die Flamme und das Eis von Stalingrad – das sind der Monat August 1942 und der Monat Februar 1943. Im Sommer 1942 wurden hunderttausend friedliche Bürger von Stalingrad bei lebendigem Leibe verbrannt. Nach einem halben Jahr sind genauso viele Soldaten von General Paulus auf den Feldern von Stalingrad erfroren.
Ohne Zweifel war das ein entscheidender Wendepunkt im 2. Weltkrieg und in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dies gilt im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes. Dieser Sieg ist ein Sieg für uns alle. Unser Land hat sich erneut aufgerichtet, wie im Evangelium, das Leutnant Pawlow in dem eingekesselten Haus von Iwan Pawlow fand. Wir sind wieder Brüder und Schwestern. Nicht nur in den Reden der Führer und auf dem Papier, sondern im realen Kampf.
Der Krieg hat seine Farbe verändert. Nach der Schlacht in Stalingrad marschierten wir nur noch nach Westen. Hinter uns lag die Wolga, aber vor uns die großen Siege am Dnepr, an der Weichsel und an der Oder.
Walerij Timoschenko
16. Februar 2018