Robuste Außenpolitik erfordert robusten Diskurs.
von Doris Pumphrey
Deutschland müsse sich endlich von der Last der Vergangenheit befreien, um seine Skepsis gegenüber militärischen Mitteln überwinden zu können, meint Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz (1). Da in der Bevölkerung diese Skepsis nach wie vor groß sei, könne diesbezüglich nur ein „Umdenken in der politischen Kommunikation“ helfen, ergänzt Dr. Tobias Bunde, Leiter für Politik und Analyse der Münchner Sicherheitskonferenz (2) — zumal „wir an der Schwelle eines neuen Systemkonflikts“ stünden.
„Irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem man nicht mehr sagen kann, ‚ich hatte so eine schwere Kindheit und deswegen darf man von mir nicht erwarten, dass ich Abitur mache’.“ Die Last der Verantwortung für den 2. Weltkrieg – die „schwere Kindheit Deutschlands“, wie der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger es rührend nennt — muss endlich überwunden werden und die Reifeprüfung soll Deutschland befähigen größere militärische Verantwortung zu übernehmen.
Ischinger ist zufrieden mit dem Weg, den die Bundesrepublik bislang in Vorbereitung ihrer Reifeprüfung „mit langsamen Trippelschritten“ zurückgelegt hat. „Denn wichtig war ein altes Prinzip nachkriegsdeutscher Außenpolitik – wir wollen, dass unsere Nachbarn und Partner in der EU uns mit Vertrauen begegnen, gerade angesichts der unheilvollen geschichtlichen Erfahrungen. Das haben wir, glaube ich, durch diesen „Slow-motion“-Prozess ganz gut hinbekommen. In der Ära Kohl beginnend, dann unter Gerhard Schröder ein bisschen munterer, mit dem Kosovo-Einsatz.“
Es sei ja nicht falsch gewesen, dass Helmut Kohl sich Sorgen machte, die Menschen auf dem Balkan könnten sich noch an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Die Sorgen Kohls hätten sich später jedoch als unnötig erwiesen, freut sich Ischinger, „denn als dann im Kosovo deutsche Soldaten als Teil der NATO-Truppe auftauchten, wurden sie überall freundlich begrüßt.“ Die Frage, ob sich auch die Serben freuten, gegen die sich die Kriegspropaganda und der „muntere Einsatz“ der SPD/Grünen Regierung vor allem richtete – wie schon vorher der Überfall der deutschen Faschisten – kommt einem Ischinger natürlich gar nicht erst in den Sinn.
Die unheilvolle geschichtliche Erfahrung von 27 Millionen Toten und verbrannter Erde, die der deutsche Faschismus in der Sowjetunion hinterließ, ist wohl ein zu vernachlässigendes Detail für Ischinger, schließlich gehört Russland nicht zum Club „unserer Nachbarn und Partner in der EU“, deren Vertrauen man mit „langsamen Trippelschritten“ gewinnen musste. Die geschichtliche Erinnerung, die Deutschland mit Russland verbindet ist, so Ischinger, doch eher ein lästiges „emotionales Element“, eine „Menge Gepäck“, das dazu führe, „dass wir Russland-Politik häufig etwas romantischer denken, als sie in der Praxis anwendbar ist“. Leider ist die Zeit vorbei, als „wir noch Mitte der 1990er Jahre gedacht hatten, alles im Griff zu haben, etwa durch die NATO-Russland-Grundakte“. Der Westen habe aber in den letzten Jahren „die zunehmende ‚Verbiesterung‘ in Moskau nicht ernst genug genommen.“(3) Höchste Zeit also zu begreifen, dass Russland gegenwärtig keine Verbesserung der Beziehung will.
„Verbiestert“ ist, wer sich dem US/NATO/EU-Diktat nicht unterordnet. Wie schön war doch die Zeit mit Jelzin – ein glückliches „Interregnum“, wie der Leiter Politik und Analyse der Münchner Sicherheitskonferenz, Dr. Tobias Bunde, die Jahre zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wiedererstarken Russlands unter Putin bezeichnet. Eine herrliche Zeit, in der es „nur noch ein legitimes politisches Ordnungsmodell“ gegeben habe. Diese Periode nach 1989 sei „nicht nur ein unipolarer, sondern vor allem ein liberaler Moment“ gewesen.
Der heute 33-jährige Tobias Bunde kommt geradezu ins Schwärmen, wenn er die Jahre des „Interregnum“ beschreibt, in denen ununterbrochen völkerrechtswidrige Interventionen und Kriege der USA und ihrer Verbündeten Millionen Tote, Verwundete, Flüchtlinge und zerstörte Länder hinterließen. „Liberale Ideen bestimmten die globale Politik in vielerlei Hinsicht: Staaten schlossen regionale Verträge zur Sicherung und Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten, engagierten sich in Friedens- und Staatsbildungsmissionen, deren Ziel die Errichtung demokratischer Strukturen war, intervenierten bisweilen in souveränen Staaten, wenn grundlegende Menschenrechte verletzt wurden, oder gründeten neue Gerichte, vor denen internationale Verbrechen verhandelt und bestraft werden sollten.“
Welch eine Erlösung waren diese Jahre auch für Deutschland, denn „nach dem Zerfall der Sowjetunion war ein Angriff auf die territoriale Integrität der Bundesrepublik kein realistisches Szenario mehr.“ Deutschland habe sich jedoch zu sehr darauf verlassen, dass die Pax Americana von nun an allein das Weltgeschehen bestimmen könnte.
Jetzt aber gehe diese Zeit der „außenpolitischen Gewissheiten“ endgültig zu Ende: Die USA wollen die internationale „Ordnung“ nicht mehr garantieren, die „europäische Integration“ stehe auf dem Spiel sowie die „liberale Demokratie“ insgesamt. „Wir stehen an der Schwelle eines neuen Systemkonflikts: Ein autoritärer und illiberaler Staatskapitalismus hat vielleicht (noch) nicht die Strahlkraft des Kommunismus, aber die liberalen Demokratien werden bereits heute weltweit von einer ‚illiberalen Internationalen’ unter Druck gesetzt. Und statt der globalen Schutzverantwortung haben nun wieder traditionellere Interpretationen staatlicher Souveränität Konjunktur.“
Russland sei mit seinen Nuklearwaffen, seiner „Aufrüstung“ und „Zunahme antiwestlicher Propaganda“ eine „Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent“. Deutschland müsse nun einsehen, dass die Zeit, in denen es von „außergewöhnlich glücklichen Umständen profitierte“ vorbei ist und mehr „für seine Sicherheit tun“.
Tobias Bunde fordert „ein Umdenken in der politischen Kommunikation“. Viel zu lange schon sei in der „Debatte über eine Anpassung der deutschen Außenpolitik an die neue Lage“ auf einen „behutsamen Wandel” der deutschen Außenpolitik gesetzt worden, in der Annahme, diese sei „für die Bevölkerung besser zu verdauen”. Das sei aber „unverantwortlich und gefährlich” und müsse nun geändert werden, insistiert er weiter.
Ein Beispiel für „eine riskant-defensive Kommunikation” sei „die Vermittlung der Neuausrichtung der NATO in Reaktion auf die russische Politik der vergangenen Jahre“.
Verglichen „mit der russischen Aufrüstung“, habe sich Deutschland „angemessen und maßvoll“ angepasst, als es die Führungsrolle des multinationalen Bataillons in Litauen an der NATO-Ostflanke übernommen habe. Ischinger nennt es einen „Aufbruch von erheblicher Bedeutung“, der von der deutschen Bevölkerung als eine „neue Phase in der deutschen Sicherheitspolitik“ erkannt werden müsse. „Anstatt aber der Bevölkerung die Entscheidung zu erläutern, die angesichts unserer Geschichte doch recht einleuchtend zu vermitteln wäre“ [Betonung D.P], beklagt Tobias Bunde, „warnt ein Teil der deutschen Regierung vor ‚Säbelrasseln‘ (wohlgemerkt auf westlicher Seite), während der andere argumentiert, es handele sich um eine leichte Anpassung der Verteidigungsplanung, ganz so, als ob man darauf hoffte, unangenehme Debatten vermeiden zu können.“
Laut Tobias Bunde habe das Beispiel des Afghanistan-Einsatzes gezeigt, „dass es wenig hilfreich ist, nicht von Anfang an klar zu kommunizieren, worum es bei einem Einsatz geht, wenn man nicht langfristig die Unterstützung der Bevölkerung verlieren will. Abschreckung kann nur funktionieren, wenn sie glaubhaft ist.“ Dies sei aber nur möglich, „wenn die Grundüberzeugungen unserer Außenpolitik in der Bevölkerung verankert sind.“
Tobias Bunde wünscht sich deshalb einen „robusten Diskurs“ in Fragen Krieg und Frieden. Neben der klaren Benennung der Gefahren „für unsere Sicherheit“, müsse es auch „eine kritische Aufarbeitung“ der vergangenen Auslandseinsätze der Bundeswehr geben, „die von vielen Menschen generell als Misserfolg bewertet werden“. Er moniert, dass sich in der Diskussion hierzulande meist nur jene rechtfertigen müssen, die für ein militärisches Eingreifen sind, „obwohl es doch eigentlich akzeptiert schien, dass auch ein Unterlassen mitschuldig machen kann.“ Bei Letzterem denkt Bunde vielleicht an die Bombenmission des Joseph Fischer gegen Jugoslawien, um ein „zweites Auschwitz“ zu verhindern, an die erste deutsche Militäraggression nach 1945 – unter einer SPD/Grünen Regierung.
Die Entwicklung in Syrien zeige, wohin es führen kann, wenn Deutschland sich militärisch zurückhält – Bunde nennt das der „Verantwortung für unsere Nachbarschaft aus dem Weg“ zu gehen. Dass die Bundesregierung selbst mitschuldig ist an der Eskalation in Syrien durch ihre finanziellen und propagandistischen Mittel und Sanktionen für den Kampf gegen die rechtmäßige Regierung, darüber schweigt ein Tobias Bunde lieber, denn sie haben ja nicht das erstrebte Ziel gebracht, den Regime-Change in Damaskus. Auch wenn es keine „einfachen Rezepte“ gebe, so bedauert Bunde anscheinend, dass sich „die internationale Gemeinschaft“ nicht zu einem militärischen Einmarsch „durchringen“ konnte. Vor allem, da „andere Akteure bereit und willens“ waren „militärische Lösungen durchzusetzen“ – um dem völkerrechtswidrigen Ziel der USA und ihrer Verbündeten in der NATO und der Region einen Strich durch die Rechnung zu machen. „Andere Akteure“, damit meint Tobias Bunde natürlich vor allem Russland. Das muss in Zukunft verhindert werden.
Dass die Bundeswehr hier eine Rolle zu spielen hat, darauf muss die Bevölkerung nun auch dringend besser vorbereitet werden. Alles ginge ja einfacher ohne diese lästige Bevölkerung, die mehrheitlich immer noch nicht so will, wie sie soll. Mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung ist nämlich dagegen, dass die Bundeswehr einem Bündnispartner zur Hilfe eilt „gegen einen russischen Angriff“, bedauert Bunde. Auch angesichts des Ausmaßes „russischer Desinformationskampagnen“ empfiehlt der Leiter Politik und Analyse der Münchner Sicherheitskonferenz den politischen Kräften in diesem Land endlich ihre Zurückhaltung aufzugeben, den Helm aufzusetzen und schnell kommunikativ in die Offensive überzugehen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Interview mit Wolfgang Ischinger über die Rolle der Münchner Sicherheitskonferenz: https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/januar-februar-2018/sie-sehen-nur-die-spitze-des-eisbergs
(2) Dr. Tobias Bunde Neue Lage, neue Verantwortung: deutsche Außenpolitik nach dem Ende der Gewissheiten http://www.deutschlands-verantwortung.de/beitraege/neue-lage-neue-verantwortung-deutsche-au%C3%9Fenpolitik-nach-dem-ende-der-gewissheiten
(3) Münchener Sicherheitskonferenz: Russland als Vorwand für westliche Aufrüstung? https://de.sputniknews.com/politik/20180208319451849-ischinger-nato-militaer-eu-ruestung-lawrow-muenchen-sicherheit-aufruestung-russland-deutschland-gefahr-ausgaben/
Erschienen bei Rubikon am 17.02.2018