Die Mär vom Machtkampf im Kreml

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Ein Kommentar von Rainer Rupp.

In Wladimir Putins 16. Rede an die Nation ging es dem russischen Präsidenten nicht nur um die von ihm vorgeschlagenen Verfassungsänderungen, über die jetzt in westlichen Medien als angeblich neuer Coup Putins für seinen Machterhalt über 2024 hinaus spekuliert wird, sondern auch um wichtige Aspekte der russische Innen- und Sozialpolitik. Durch Letzteres soll u.a. die merkbare Verbesserung des Lebensstandards der russischen Bevölkerung gesetzlich verankert werden. So hat der Präsident unter anderem vorgeschlagen, „die sozialen Verpflichtungen des Staates in jeglicher Situation landesweit zu erfüllen und in der Verfassung eine Regel zu verankern, dass z.B. der Mindestlohn nicht unter dem Existenzminimum der arbeitsfähigen Bevölkerung liegen dürfe.“ (1)

Mit dem vorgestellten, umfassenden Sozialprogramm für die breiten Schichten der Bevölkerung setzt sich die russische Führung deutlich von den neo-liberalen Führungs“Eliten“ der so genannten, westlichen „Wertegesellschaft“ ab, in der die „Gewinner -nimmt-alles“-Mentalität dominiert und dementsprechend breite Gesellschaftsschichten immer weiter verarmen. Erneut hat Putin ein weithin über die Grenzen des Landes sichtbares Zeichen gesetzt, dass es der politischen Führung Russlands um die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit der gesamten Bevölkerung geht.

Dabei hat Putin hervorgehoben, dass Familien mit Kindern, aber auch Kindergärten und Schulen besonders gefördert werden (2). So soll es in Zukunft zum Beispiel kostenloses warmes Essen in allen Schulen geben. Kinderreiche Familien sollen beim Kauf eines Hauses oder Apartments nur noch einen Teil der Hypothek bezahlen, den anderen Teil übernimmt der Staat, nicht etwa mit günstigen aber zurückzuzahlenden Krediten sondern als Sondertilgung, was einem Geldgeschenk gleichkommt.

Zu diesem Paket gehört auch die merkliche Erhöhung einer finanziellen Förderung kinderreicher Familien, die mit dem deutschen Kindergeld vergleichbar ist. Die Erhöhung soll rückwirkend zum 1. Januar 2020 in Kraft treten. Auch sie gehört zu Putins Sozialpaket, mit dem der Präsident das Bevölkerungswachstum der Nation wieder in den positiven Bereich heben will.

Zugleich soll durch die Erhöhungen der Gehälter der Beruf des Lehrers wieder attraktiver gemacht werden, denn dem Thema Bildung hat Putin eine besonders hohe Priorität beigemessen.

Auch bei der medizinischen Versorgung hat Putin weitreichende Änderungen angekündigt, womit vor allem die Situation der Menschen in den dünn besiedelten Gebieten in den Weiten Russlands nachhaltig verbessert werden soll. Dafür sollen staatliche Universitäten in den entfernten Regionen gestärkt werden. Diese sollen besondere Förderprogramme anbieten, um Studenten anzulocken. Um dann später die ausgebildeten Akademiker davon abzuhalten, in die großen Städte abzuwandern und stattdessen vor Ort zu bleiben, hat sich Präsident Putin offensichtlich von einem in Belarus (Weißrussland) und in Kuba seit Jahrzehnten bewährten Konzept inspirieren lassen.

In Kuba und Belarus werden die besonders günstigen Studienbedingungen für Medizinstudenten mit der Verpflichtung verbunden, nach dem Studienende die ersten Berufsjahre auf dem Land als „Hausarzt“ zu arbeiten, um möglichst eine flächendeckende, medizinische Versorgung zu bieten. Um dieses Konzept für die jungen Land-Ärzte zusätzlich attraktiv zu machen, werden ihnen kostenlose Wohnungen und Praxen zur Verfügung gestellt und anständige Gehälter bezahlt.

Die kontinuierliche Verbesserung der sozialen Lage der breiten Massen geschieht in Russland nicht erst seit gestern. Selbst die empfindlichen westlichen Sanktionen konnten diese Entwicklung nicht dauerhaft aufhalten. Damit steht die russische Sozial- und Gesellschaftspolitik im krassen Gegensatz zu den westlichen NATO-Ländern. Obwohl diese Länder pro Kopf über mehr finanzielle Ressourcen als Russland zur Gestaltung einer sozial verträglichen Gesellschaftspolitik verfügen, tun die „Regierungseliten“ des Wertewestens genau das Gegenteil.

Seit nunmehr fast drei Jahrzehnten haben unsere Regierungen systematischen Raubbau an den einstigen sozialen Errungenschaften getrieben, für die unsere Väter und Großväter oft unter Einsatz ihres Lebens oder ihrer Gesundheit gekämpft hatten. Im Auftrag ihrer Herren, der Oligarchen der Finanz- und Industriekonzerne, haben die Regierungen aller westlichen Länder – egal in welchen politischen Koalitionen – mit Hilfe von sogenannten „Reformen“ und anderen asozialen Gesetzen erfolgreich von den arbeitenden Massen genommen und den Reichen gegeben.

Lord Blankfein hatte im Jahr 2009, damals als Chef von Goldman Sachs, des wohl mächtigsten Finanzkonzerns der Welt, in einer Rede in London gesagt, dass er, wie alle anderen Banker „das Werk Gottes verrichtet“. („We are doing god’s work“(3)). Dazu passt natürlich der Psalm 127 aus der Bibel: „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“. Und das, obwohl die Ursache für die bis heute dahinsiechende Wirtschaft des Westens in den unverantwortlichen Wettgeschäften der westlichen Finanzkasinos liegt, die anschließend mit unseren Steuergeldern gerettet wurden.

Und was hat das alles nun mit der Rede zur Nation von Putin zu tun? Sehr viel!

Putin hat vor 20 Jahren die Führung eines Landes geerbt, das unter Präsident Jelzin mit aktiver Hilfe westlicher Berater in den Bankrott und das Chaos geritten worden war. Mit seiner patriotischen Regierungsmannschaft ist es dann Putin gelungen, den neoliberalen westlichen Virus in Russland weitgehend auszumerzen und sein Land zu stabilisieren. Dadurch hat er natürlich den Zorn des Westens auf sich gezogen. Und die Wut des Westens auf Putin ist nur noch größer geworden, nachdem Putin gezeigt hat, dass Russland – unter Umgehung der vergifteten westlichen Rezepte – erfolgreich seine Ziele erreichen konnte: nämlich wirtschaftliches Wachstum, soziale Sicherheit und bescheidene Prosperität für die Bevölkerung, internationales Ansehen und ausreichende militärische Stärke, um den Westen von militärischen Abenteuern abzuschrecken.

Und was haben die Regierungen des Wertewestens in der gleichen Zeit in ihren Ländern erreicht?

Heute geht es mehr als der Hälfte der Bevölkerung schlechter als vor 20 Jahren. Einem großen weiteren Teil der Bevölkerung geht es nicht besser als vor 20 Jahren. Das liegt nicht nur an den real gesunkenen Löhnen für große Schichten der Bevölkerung. Zusätzlich ist auch noch die Kaufkraft gesunken, weil heute für unzählige Sachen und Dienstleistungen, die früher kostenlos waren, gezahlt werden muss, ein Problem, das besonders die Geringverdiener trifft. Große Teile des Sozialstaats wurden – auch mit Hilfe der EU – abgebaut.

Zugleich ist die öffentliche Hand, das Gemeinwesen der Städte und Kommunen, auf ein unerträgliches Niveau verarmt. Die westlichen Gesellschaften sind gespalten, die einstige Jobsicherheit und die Zuversicht der Menschen in die Zukunft sind verschwunden und Sorgen und Angst sind an ihre Stelle getreten. Und so weiter und so fort.

Zusammengefasst heißt das, dass unsere westlichen Regierungseliten als Vasallen der USA unsere Gesellschaften in den letzten 20 Jahren erfolgreich zugrunde gerichtet haben. Nur ein sehr kleiner Teil der ohnehin schon sehr reichen Geldaristokratie hat unendlich viel von dieser kranken Entwicklung profitiert.

Daher überrascht es nicht, dass die westlichen Medien auf Putins Pläne zur Verbesserung des Lebensstandards der russischen Bevölkerung gar nicht erst eingehen. Das würde den Wertewesten, der die Sozialstandards abbaut, in ein schlechtes Licht setzen. Als hätte man sich abgesprochen richtet sich die Aufmerksamkeit westlicher Journalisten daher ausschließlich auf den Teil von Putins Rede, in dem es über die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen geht. Schließlich weiß jedes Kind, wenn solche Vorschläge von Putin kommen, dann kann es sich nur um hinterhältige, anti-demokratische Pläne zum diktatorischen Machterhalt des Ex-KGB Agenten handeln. Und natürlich halten sich alle Presstituierten, die im Wertewesten weiter ihre Brötchen verdienen wollen, an diese Vorgaben.

Die russische Föderation ist aktuell immer noch eine Republik, in der der Präsident, ähnlich wie in Frankreich und den USA, mit einer besonders großen Machtfülle ausgestattet ist. Eine starke einheitliche Führung war gerade nach der chaotischen Jelzin-Zeit besonders wichtig, um den so genannten „Wilden Osten“ zu stabilisieren. Damals konnten westliche Demokratie-Helfer in Russland nach Belieben schalten und walten und sie loben heute noch die damalige Gesetzlosigkeit als Russlands hohe Zeit der Demokratie.

Als Teil der starken Position des Präsidenten konnte Putin, ähnlich wie der französische und der US-Präsident die Regierung ernennen, d.h. den Ministerpräsidenten und seine Minister, wobei diese Ämter im Fall Russlands nicht mit Parteisoldaten besetzt werden, sondern in der Regel mit parteilosen und erfahrenen Sachkennern der jeweiligen Materien. Das Parlament, also die Duma, kann die Regierung nur bestätigen. Das soll sich auf Vorschlag Putins jetzt ändern, denn der Präsident will einen Teil seiner Macht abgeben.

In seiner Rede hat Putin gesagt, dass das Land und die Gesellschaft jetzt so weit stabilisiert seien, dass man den nächsten Schritt in Richtung einer breiteren Demokratisierung gehen könne. Allerdings fügte Putin hinzu, dass ein so großes und vielfältiges Land wie Russland mit über 130 Ethnien und allen Weltreligionen als reine parlamentarische Republik kaum zu regieren sei und daher auch in Zukunft eine präsidiale Republik mit einem mit großer Macht

ausgestatteten Präsidenten bleiben müsse. Dennoch setzt Putin auf eine stärkere Gewaltenteilung.

Laut Putins Vorschlag soll in Zukunft das Parlament den Regierungschef wählen, der dann seine Minister ernennt. Der Präsident soll dann nur noch das Recht haben, den Regierungschef abzuberufen, wenn er seinen Pflichten nicht nachkommt. Allerdings soll auch in Zukunft der Präsident die Richtlinien und Ziele der Regierung vorgeben, ähnlich wie in Deutschland der Kanzler die Richtlinienkompetenz über die anderen Ministerien hat. Zudem hat Putin angekündigt, dass eine Volksabstimmung über die ausgebarbeitete Verfassungsreform abstimmen muss. Erst nach einer Annahme durch das Volk soll dann die neue Verfassung in Kraft treten.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass unsere deutschen Spitzenpolitiker, die sich gerne der ganzen Welt als Musterdemokraten präsentieren, nach dem Anschluss der DDR an die BRD dem deutschen Volk mit aller Macht das Recht auf eine eigene Verfassung und auf eine Abstimmung darüber verweigert haben.

Weiter hatte der russische Präsident laut der Nachrichtenagentur Sputnik vorgeschlagen,

  • dass das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit aller angenommener Gesetzesvorlagen überprüft, bevor der Staatschef diese unterzeichnet;
  • die Kriterien für Präsidentschaftskandidaten zu verschärfen. Sie sollen sich mindestens 25 Jahre lang dauerhaft in Russland aufgehalten haben und weder zum Zeitpunkt der Nominierung noch jemals zuvor eine ausländische Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltserlaubnis besessen haben; (Anmerkung: damit sollen sogenannte fremd gesteuerte U-Boote verhindert werden)
  • den Vorrang der eigenen Verfassung vor allen internationalen Vereinbarungen in der Verfassung festzulegen. Demnach würden auf dem Territorium der Russischen Föderation die Forderungen internationaler Behörden, Verträge und Abmachungen nur Gültigkeit haben, wenn sie im Einklang mit der russischen Verfassung sein würden; (Anmerkung: Darunter würden z.B. Beschlüsse des russophoben Europäischen Gerichtshofes fallen.)
  • und nicht zuletzt soll aus der Verfassungsbestimmung – dass „ein und dieselbe Person das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtszeiten in Folge innehaben darf“ – der Vorbehalt „in Folge“ gestrichen werden.

Auf diesen, letzteren Vorschlag stürzten sich vor allem die westlichen Medien und spekulierten sogleich über einen Machtkampf im Kreml. Gefüttert wurden diese Spekulationen durch den unerwarteten Rücktritt des russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew und aller Minister seiner Regierung, der unmittelbar nach Putins Rede erfolgte. Dieser Rücktritt war jedoch offensichtlich im Voraus abgesprochen, um zügig für die Reformen Platz zu machen. Auch wurde Medwedew nicht nach „Sibirien“ geschickt, sondern er bekam einen einflussreichen neuen Posten in der russischen Außen-und Sicherheitspolitik.

Dennoch berichtete das „Heute-Journal“ des ZDF am 15. Januar reißerisch zum Thema „Moskauer Machtspiele – Russlands Regierung tritt ab“ über die „aktuelle Lage“ in Russland. Und der „Heute Journal“ Moderator Christian Sievers konnte sich nicht zurückhalten und schoss mit einem Putin-Witzchen den Vogel ab:

„Ich hab noch einen alten russischen Witz“, begann Christian Sievers. „Putin und Medwedew gehen zusammen ins Restaurant. Der Kellner fragt Putin: ,Was möchten Sie gerne essen?‘ Putin: ,Ein Kotelett.‘ Der Kellner fragt: ,Und die Beilage?‘ Putin sagt: ,Die Beilage nimmt auch Kotelett.‘ “ Der ZDF-Moderator fügte hinzu: „Witze sagen viel über die Realität.“

Andere westliche Medien spekulierten entlang derselben Linie, denn wenn der böse Putin irgendwas macht, kann ja per Definition nichts Gutes dabei rauskommen. Ein weiteres Beispiel dafür lieferte das Qualitätsmedium „Deutschlandfunk“. Unter dem Titel „Putin überrumpelt Moskauer Elite“ (4), erklärte ein Thielko Grieß, dass Putin mit der Verfassungsreform „das Ziel verfolgt, sich selbst eine machtvolle Position zu sichern“. Die Menschen des Landes seien dabei nur Zuschauer.

Wie Putin, dessen Amtszeit als Präsident erst 2024 zu Ende geht, also erst in knapp 5 Jahren, und der jetzt schon eigene Machtbefugnisse an das Parlament, an das Amt der Ministerpräsidenten und an das Verfassungsgericht abgeben will, mit diesen Verfassungsreformen sich „eine machtvolle Position sichern“ will, das hat der Deutschlandfunk-Schwätzer seinen Zuhörern nicht erklärt. Aber diese Art von Berichterstattung westlicher Medien ist typisch, wenn es über, nein gegen Russland geht.

Interessanter Weise findet man ausgerechnet auf der Webseite von Stratfor, dem US-amerikanischen Analyse- und Nachrichtendienst, eine kohärente Erklärung für die von Putin vorgeschlagenen Verfassungsänderungen. Hier eine stark gekürzte Zusammenfassung (5):

Laut Stratfor hat Putin seine ersten wirklichen Schritte zur Schaffung eines politischen Systems unternommen, von dem er hofft, dass es den Kurs des Landes über seine Amtszeit hinaus aufrechterhält. Nach 20 Jahren Putin als Präsident, dann als Ministerpräsident und dann wieder als Präsident „spiegeln diese Veränderungen die Reifung des politischen Systems Russlands in eine widerstandsfähigere, weniger von Persönlichkeiten dominierte Struktur wider, die in der Lage ist, sein politisches Erbe zu bewahren, nachdem er gegangen ist.“

Nachdem Medwedew zurückgetreten ist, kann Putin ein Ministerteam einsetzen, das mit der Umsetzung der angekündigten Verfassungsänderungen beauftragt ist, führt Stratfor weiter aus. Die Entwicklungen seien aber nur der Beginn eines längerfristigen Übergangs für Russland. Damit Putin ein System formen kann, das ihn überdauert, seien noch viele weitere Schritte erforderlich, damit vor 2024 gewährleistet ist, dass Putins soziales und patriotisches Erbe im Parlament weiterlebt und die russische Politik dominiert, wer auch immer gerade als Präsident im Amt ist.

Damit dürfte Stratfor den Nagel auf den Kopf getroffen haben.

Quellen:

  1. https://de.sputniknews.com/politik/20200115326340834-russische-regierung-einfach-erklaert-wie-sie-frueher-war-und-was-sich-jetzt-aendern-soll/?utm_referrer=https%253A%252F%252Fzen.yandex.com&dbr=1
  2. https://www.anti-spiegel.ru/2020/die-kernaussagen-von-putins-rede-an-die-nation/
  3. https://dealbook.nytimes.com/2009/11/09/goldman-chief-says-he-is-just-doing-gods-work/
  4. https://www.deutschlandfunk.de/regierungsruecktritt-in-russland-putin-ueberrumpelt.720.de.html?dram:article_id=467971
  5. https://worldview.stratfor.com/article/russian-prime-minister-medvedev-resignation-putin-major-constitutional-reforms

Zuerst erschienen bei KenFM – Tagesdosis 17.1.2020