Ein Deutscher namens “Mischa” Wolf – in Russland unvergessen

Am 19. Januar wäre der legendäre Antifaschist und Spionageprofi Markus Wolf 100 Jahre alt geworden.
Siehe hier: https://meinungsfreiheit.rtde.life/international/160245-deutscher-namens-mischa-markus-wolf/

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1993 wurde Markus Wolf vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu sechs Jahren Haft wegen “Landesverrats” verurteilt. Das Urteil wurde im Oktober 1995 vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Wie konnte er auch “Landesverrat” begehen, hatte er doch im Auftrag seines Landes, des souveränen Staates DDR gehandelt.

Oberlandesgericht Düsseldorf am 6. Dezember 1993
Schlusswort von Markus Wolf:

Am 4.Mai, nach der Eröffnung dieses Prozesses sagte ich, das Gericht könne aus meiner Sicht noch am selben Tag sein Urteil sprechen. Die Ablehnung der zuvor gestellten Anträge der Verteidiger und ihre Begründung durch den Senat präjudizierten bereits meine Verurteilung. Der gesamte weitere Prozeßverlauf hat dies bestätigt.

Vom ersten Tag an stand fest, daß ich Leiter der HV A, eines Nachrichtendienstes der DDR, war und mich als solcher auch mit Menschen getroffen habe, die im Rechtsverständnis der Bundesrepublik als Agenten bezeichnet werden. Ich bleibe dabei, daß ich für die auf der Grundlage der Verfassung und der Gesetze der DDR erfolgten Handlungen der mir unterstellten Mitarbeiter die volle Verantwortung trage und übernehme. Dazu habe ich mich am ersten Prozeßtag bekannt. Einige der hier verlesenen Urkunden hätten genügt, dieses “Geständnis” hinreichend zu ergänzen, um der Strafprozeßordnung genüge zu tun.

Ein solches Vorgehen hätte aber die Absicht des Generalbundesanwalts zu deutlich erkennen lassen, einen exemplarischen Prozeß gegen den “Unrechtsstaat” und einen seiner Hoheitsträger zu inszenieren. Um diese politische Absicht zu vertuschen, wir leben schließlich in einem Rechtsstaat, behauptet die Bundesanwaltschaft, ich sei nicht wegen meiner Gesamtverantwortung als Leiter der HV A angeklagt, der wie jeder Minister für das gesamte Tun seiner Mitarbeiter die politische Verantwortung trage, sondern wegen konkreter Handlungen bei der Auftragserteilung an 30 einzelne Agenten und wegen Weitergabe wichtiger Informationen an den Hauptverbündeten im Warschauer Vertrag. Dieser wenig überzeugenden, wortreich begründeten Vorgabe verdanken wir das bereits sieben Monate andauernde aufwendige juristische Verfahren.

Der Etikettenschwindel bescherte uns 42 Verhandlungstage, die nicht einen Deut über das hinaus erbrachten, was schon am ersten Tag feststand. Alle Versuche der Bundesanwaltschaft, der Hauptverwaltung A und mir über den Gegenstand der Anklage hinausgehende kriminelle Delikte anzulasten, Beweise für die Durchführung von Anschlägen, Morden oder Entführungen zu konstruieren, waren vergeblich. Sie mußten scheitern, weil derartige Verletzung der Menschenrechte unseren nachrichtendienstlichen Zielen fremd waren.

Die Zuhörer des Prozesses erhielten beim Verlesen diverser administrativer Papiere und dem Vortrag langatmiger Gutachten vorwiegend Einblick in die Banalität geheimdienstlicher Führungstätigkeit. Die Geduld der Prozeßbeobachter wurde oft hart strapaziert, und am Ende dieser Mühen steht nichts anderes, als daß es auch in der DDR tatsächlich einen Nachrichtendienst gegeben hat, der HV A hieß und der nicht untätig war. Das bekundeten auch die vielen Zeugen, von denen allerdings die meisten die Erwartung der Bundesanwaltschaft nicht befriedigt haben dürften, die sich mit ihrer Vorgabe selbst in die mißliche Lage gebracht hat, mich als Agentenführer vorführen zu müssen. Das konnten die Zeugen nicht bestätigen, denn nicht das war meine Aufgabe.

Obwohl das Gericht minutiös der Vorgabe der Bundesanwaltschaft folgte, ist die Absicht gescheitert, der politischen Abrechnung ein juristisches Mäntelchen umzuhängen. Für jeden objektiven Beobachter wurde dieser Prozeß zur Farce. Es wäre ehrlicher gewesen, namens der Gewinner der deutschen Vereinigung offen zu sagen: “Jetzt haben wir euch, nun wird die Rechnung präsentiert und ihr müßt büßen!”

Warum scheuen sich Staatsanwälte und Richter einzugestehen, daß es auch in der Bundesrepublik eine politische Justiz gibt? Sie hat es in der deutschen Geschichte immer gegeben. Der Herausgeber der Weltbühne, Carl v. Ossietzky, wurde in der Weimarer Republik vom Reichsgericht am 23. November 1931 wegen Landesverrats verurteilt und eingekerkert. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes, auch für mein Verfahren zuständig, hat ebenso wie der Generalbundesanwalt die Aufhebung des Ossietzky-Urteils verweigert. Der politische Charakter der deutschen Justiz während der Hitlerzeit bedarf keiner Erläuterung. Politische Urteile gab es vor der Vereinigung in beiden deutschen Staaten.

Angeklagt bin ich nicht in erster Linie, weil ich einen Nachrichtendienst des unterlegenen Gegners aufgebaut und geführt habe, dafür sicher auch. Verurteilt werden soll ich, weil es vierzig Jahre die Deutsche Demokratische Republik gegeben hat, die es im politischen und Rechtsverständnis der Urheber solcher Veranstaltungen nie hätte geben dürfen; weil ich mich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz zu meiner Verantwortung in diesem Staat bekannt habe; weil ich mich weiter dazu bekenne, diesem sozialistischen Versuch auf deutschem Boden und seiner Verteidigung engagiert gedient zu haben und weil ich nach seinem Scheitern nicht bereit war, vor den Siegern zu Kreuze zu kriechen. Der Herr Bundesanwalt, der mir und ehemaligen Mitarbeitern meines Dienstes die Freiheit zu reden nur noch bei Aussagen gegenüber seiner Behörde und vor Gerichten zugestehen will, teilt diese Scheu des Senats offenbar nicht. Es war die Siegermentalität, die ihn am ersten Verhandlungstag erklären ließ, die Anwendung des Rechts sei “eine Frage der Armeslänge”. Sein auf Vergeltung gerichteter Antrag läßt daran keinen Zweifel.

Vor Tisch, vor der Vereinigung, hörte sich das anders an. Versöhnung, nicht Vergeltung sollte das “Zusammenwachsen” begleiten. Bezeichnenderweise nahm der Herr Bundesanwalt in seinem Plädoyer, als er sich auf den Gesetzgeber berief, das Wort “Einigungsvertrag” nicht einmal in den Mund. Das Gericht hatte die Chance, mit der Ladung der mit diesem Vertragswerk kompetent befaßten Zeugen, Dr.Wolfgang Schäuble und Lothar de Maiziere, direkt etwas über den Geist des Vertrages und die Absichten des Gesetzgebers mit dem Artikel 315 in der Anlage I zum Einigungsvertrag zu erfahren. Dadurch wäre auch Licht in die damit zusammenhängende Behandlung von Mitarbeitern der Nachrichtendienste gebracht worden und es wäre zu klären gewesen, ob uns die Regierung der DDR ihren Schutz entzogen hat. Das ist eine Frage, die nicht nur für diesen Prozeß von grundlegender verfassungsrechtlicher Bedeutung ist.

Das Oberlandesgericht in Düsseldorf hätte mit der Ergründung des Geschehenen ähnlich den Richtern des Berliner Kammergerichts, seine Unabhängigkeit auch gegenüber der vorgefaßten Meinung des Bundesgerichtshofs, beweisen können, der für die Bundesanwaltschaft die einzige und letzte Autorität zu sein scheint. Der Senat folgte dem Antrag des Bundesanwalts und lehnte diesen Antrag der Verteidigung ebenso ab, wie fast alle vorangegangenen. Begründet wurde das mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Sämtliche Anträge der Bundesanwaltschaft fanden dagegen die Zustimmung des Gerichts. Von der Gewaltenteilung habe ich in diesem Saal nichts, die Gewalt der Machtverhältnisse dafür umso deutlicher verspürt.

Für die Auswahl der Zeugen müßte ich der Bundesanwaltschaft eigentlich danken. Sollte es ihre Absicht gewesen sein, durch sie den Nachweis zu führen, daß nicht Gewalt, Druck und Erpressung erfolgreiche Methoden meines Dienstes gewesen sind, so ist dies eindrucksvoll geschehen. Keiner der oft viele Jahre in der Bundesrepublik für die DDR tätig gewesenen Frauen und Männer hat geleugnet, dies aus Überzeugung getan zu haben. Obwohl für uns eine Welt zusammengebrochen ist und bittere persönliche Konsequenzen zu tragen sind, hatte ich bei den meisten dieser Zeugen das Gefühl, daß sie auf ihre Gesinnung nicht verzichtet haben. Eine solche Haltung verdient Respekt. Wenn ich in diesem Saal Schuld empfunden habe, dann nicht vor dem Gesetz, sondern durch die Begegnung mit diesen Menschen. Der Preis, den sie jetzt zu zahlen haben, ist hoch. Zu hoch für ein gescheitertes Experiment. Aber für den Frieden war und ist kein Preis zu hoch.

Trotz alledem, was geschehen ist, können uns die Gewinner unsere Verbundenheit nicht nehmen. Diese Erfahrung zählt zu meinen besseren in den zurückliegenden Monaten, nicht nur in diesem Saal. Während der Dauer des Prozesses durfte ich mich relativ frei bewegen. Auf den Straßen, in den Verkehrsmitteln hat es kaum feindselige Äußerungen gegeben, dafür hunderte freundliche Begrüßungen, immer wieder mit einem festen Händedruck und aufmunternden Worten. Bekannte und Unbekannten in und außerhalb dieses Saales zeigten ihre Anteilnahme und Solidarität. Sie halfen mir, und vor allem auch meiner Frau, die in all den Monaten nicht von meiner Seite wich, die Lasten dieses Verfahrens zu tragen und dabei die gute Laune nicht zu verlieren. Für jeden, der um Recht kämpft, ist Solidarität etwas ganz Wichtiges, vielleicht das Wichtigste überhaupt. Die Solidarität lassen wir uns nicht nehmen. Sie wird allen um ihr Recht Kämpfenden helfen, die Zuversicht nicht zu verlieren und aufrecht zu bleiben.

Der Bundesanwalt wirft mir vor, den ehemaligen Mitarbeitern der Aufklärung der HV A immer noch Beispiel sein zu wollen. Er ist unzufrieden, daß zu wenige bereit sind, bei seiner Behörde zu reden und ihr Wissen preiszugeben. Wie unwohl sich jene fühlen, die geredet haben, konnten wir in diesem Saal erleben. Der Druck, endlich zu reden, wird mit der Behauptung schmackhaft zu machen versucht, es sei doch ohnehin schon alles bekannt. Da fragen natürlich viele Menschen: wozu dann dieser enorme Aufwand, Tausende von Ermittlungsverfahren, Vernehmungen, Jagd auf Agenten, die seit Jahren ihre Tätigkeit eingestellt haben. Polizei, Verfassungsschutz, Staatsanwälte und Gerichte hätten doch bei der Bekämpfung der zunehmenden Kriminalität, vor allem auch der Gewaltverbrechen und der von rechts ausgehenden Gefahr genug anderes zu tun.

Dieses Gericht wird mich verurteilen. Gleich welches Strafmaß es verhängt, es wird ein politisches Urteil sein. Von den Visionen, an die unsere Väter einmal glaubten, von unserem Versuch, eine gerechtere gesellschaftliche Ordnung aufzubauen, soll nichts anderes als Unrecht im Bewußtsein der Lebenden und der kommenden Generationen bleiben. Das ist der eigentliche Sinn der politischen Prozesse, die jetzt geführt werden.

Die politischen Strukturen des anderen Staates zerstört, seine Intelligenz und Wirtschaft vereinnahmt oder “abgewickelt” zu haben, genügt den Verfechtern der kapitalistischen Ordnung offenbar nicht. Es reicht nicht, Bürgern der DDR Eigentum und soziale Rechte, das Recht auf Arbeit, Renten und Gleichberechtigung streitig gemacht zu haben. Keiner soll mehr erhobenen Hauptes gehen dürfen, der an die Möglichkeit eines anderen Deutschland mit mehr sozialer Gerechtigkeit geglaubt hat, an ein Deutschland ohne Hochmut und nationalen Dünkel und ohne die Gewalt des Geldes.

Nachdem uns der Staat abhanden gekommen ist, von dem wir lange glaubten, er könne dafür das Beispiel werden, soll den Menschen, die in den gegenwärtigen Zuständen nicht die erstrebenswerte Alternative sehen, der Glaube an jede andere Möglichkeit genommen werden. Was ist von dem Zusammenwachsen zweier Staaten, von dem Zusammenleben ihrer Menschen in einem gemeinsamen Haus geblieben, einem besser eingerichteten Haus als zu Zeiten der Konfrontation? Was ist geblieben von der Vision des europäischen Hauses ohne nationale Überhebung und Übervorteilung, vielleicht mit einem geistig-kulturellen Zentrum in Berlin? Eine geschichtliche Chance, die mit dem erklärten Ende des Kalten Krieges gegeben war, wird wie in diesem Saal im Kleinen auch im Großen vertan.

Mit ihrem Bemühen, mich persönlich zu diffamieren und mir Zivilcourage abzusprechen, haben Sie, Herr Bundesanwalt, entschieden zu hoch gegriffen. Sie werden mit meiner Anwesenheit in Deutschland weiter vorlieb nehmen müssen. Eine Flucht wäre auch nach ihrem Antrag sicher kein Problem gewesen. Ihre Verfolgungsbesessenheit hätte damit eine nachträgliche Legitimation und neuen Auftrieb erhalten. Diesen Gefallen kann und werde ich niemanden tun. Sie können uns dem Druck ihrer Macht, Berufsverbot und extremer sozialer Ausgrenzung aussetzen, uns den Anstand und die Ehre zu nehmen, steht nicht in ihrer Macht.

Mit ihrem verengten Geschichtsverständnis des kalten Kriegers werden sie nicht begreifen können, daß ohne die Zäsuren von 1933 und 1945 die gesamte Geschichte der DDR und auch mein Lebensweg nicht zu verstehen sind. Ich hatte weder die Gnade der späten Geburt, noch des Dienstes in der deutschen Wehrmacht oder in Behörden des Hitlerreiches. Sonst könnte ich jetzt das Recht auf eine ausreichende Pension oder Rente beanspruchen und in Ruhe mit meiner Familie leben. Das wenig ruhmvolle Ende der DDR und des von mir mehrere Jahrzehnte geleiteten Dienstes ändern nichts daran, daß wir seit der Niederlage des 3. Reichs und von Beginn an das Anliegen hatten, von deutschem Boden dürfe nie wieder ein Krieg ausgehen. Damals standen an unserer Spitze Männer, die aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern des Nazireiches, aus der Emigration und der Illegalität kamen. Unter einem Kanzler, der konsequent den Weg der deutschen Wiederaufrüstung beschritt, wurde die Tätigkeit der westdeutschen Dienste von dem geistigen Judenmörder Hans Globke koordiniert. Der äußere Nachrichtendienst war von den Hitlergeneralen Reinhard Gehlen und Gerhard Wessel bereits wieder auf den alten Gegner ausgerichtet. Viele Jahre stand der Verfassungsschutz, die innere Abwehr, unter Leitung des Präsidenten Schrübbers, der als Staatsanwalt seinen Anteil an der von der Nazijustiz hinterlassenen Blutspur hatte. Es kann und es wird ihnen nicht gelingen, in der DDR begangenes Unrecht mit den Verbrechen des Hitlerstaates gleichzusetzen. Mögen uns der Glaube, das bessere Deutschland zu vertreten und die Konfrontation des Kalten Krieges den Blick auf die Gebrechen unseres Systems, die Kluft zwischen historischem Anspruch und den Lebensinteressen vieler Menschen verstellt haben, an unserer Gesinnung hat dies nichts geändert. Viele von uns haben sich deshalb für notwendig gewordene Veränderungen eingesetzt. Weil dies zu spät und vergeblich geschah, werden wir uns noch lange mit den Ursachen des Zusammenbruchs des Staatssozialismus in Europa auseinandersetzen müssen.

Mit siebzig ist es sicher an der Zeit, sich nach der Bilanz des eigenen Lebens zu befragen. Hier steht das Wort “Verrat” im Raum. Habe ich etwas von den Werten verraten, die meinen Lebensweg begleitet haben, die meinen Vorbildern, meiner Familie, mir selbst wert und teuer waren? Wir haben geirrt, vieles haben wir falsch gemacht, die Fehler und ihre Ursachen viel zu spät erkannt. Aber ich halte an den Werten fest, mit denen wir die Welt verändern wollten. Es war ein hoher, wahrscheinlich zu hoher Anspruch. Darüber Rechenschaft abzulegen ist hier nicht der Ort.

Den von der Anklage behaupteten “Landesverrat” habe ich mit Sicherheit nicht begangen. Mein Land habe ich nicht verraten. Ich habe keine Menschen verraten. Mein Schweigen nannten Sie, Herr Bundesanwalt, nicht ehrenwert.

Schon ein Größerer, Karl Liebknecht, auch Sozialist und Kriegsgegner, sagte zu seinen Anklägern: “Ihre Ehre ist nicht meine Ehre.”