Geierschwärme

Von Nikolai Leonow

Wie beurteilte der sowjetische Geheimdienst KGB im Frühjahr 1991 die Lage der UdSSR? Wir dokumentieren die Rede eines Generals vor Abgeordneten

Am 20. und 21. April 1991 fand in Moskau ein Kongress der größten Fraktion des letzten sowjetischen Parlaments, der »Interregionalen Abgeordnetengruppe Sojus«, statt. An ihm nahmen 140 Abgeordnete und 600 Anhänger teil. Auf der Tagung wurde der Wunsch geäußert, eine Einschätzung des »Komitees für Staatssicherheit« (KGB) zur Lage im Land zu hören. Die Leitung des KGB entsandte dafür Generalleutnant Nikolai Sergejewitsch Leonow, damals Abteilungsleiter des Geheimdienstes für Auswertung und Information. Er sprach am 21. April 1991 auf dem Kongress und veröffentlichte seine Rede 2011 auf der Internetseite stoletie.ru. Der Text wurde von jW redaktionell gekürzt:

Liebe Kolleginnen und Kollegen Volksvertreter! Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, vor einer so hochrangigen Versammlung zu sprechen. Die »Abgeordnetengruppe Sojus« hat sich zum Ziel gesetzt, das historische Erbe unserer Vorfahren zu verteidigen. Die große Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen und auch ich selbst stehen in dieser edlen Sache eindeutig zu Ihnen. Ich habe mehr als ein Vierteljahrhundert im Nachrichtendienst verbracht, viele Jahre in der analytischen Arbeit; und wenn man den Worten eines alten Soldaten Glauben schenken darf: Wir werden viele Feinde haben, nicht nur unter den einheimischen Feudalherren, sondern auch unter den ausländischen Strategen, die befürchten, dass unser großer Staat mit seinem Territorium, seinen Ressourcen, seiner Demographie und dem Bildungsniveau seiner Bevölkerung sich schnell in einen wirklich mächtigen Staat verwandeln kann, wenn sein Leben richtig organisiert ist.

Die Furcht der USA

Die Vereinigten Staaten haben eine angeborene Angst vor anderen Großmächten. Sie wollen keine Großmacht in der UdSSR – nicht kommunistisch, nicht demokratisch, nicht monarchisch. In den Tagen der Potsdamer Konferenz nach dem Zweiten Weltkrieg schlugen die USA vor, Deutschland in mehrere Staaten aufzuteilen. Sie hatten 1945 auch dasselbe mit China vor. Jetzt sind wir an der Reihe. Sie zerlegen gerne die Schwachen und Schwächeren. Das ist keine Wiederbelebung eines Feindbildes, sondern eine ziemlich offenkundige Wahrheit. Hören Sie sich wenigstens einen Tag lang Radio Liberty an, einen vom US-Kongress finanzierten Sender. Dort platzen sie förmlich vor Wut auf die Einheit unserer Nation. Ihr gesamtes Material ist darauf ausgerichtet, den Hass zwischen den Völkern der UdSSR zu schüren.

In Sendungen für Aserbaidschan hetzen sie die Bevölkerung gegen Armenier auf; ihre Sprecher, die aus einem benachbarten Studio auf Armenisch senden, hetzen die Zuhörer gegen Aserbaidschaner und so weiter. Das durchgängige Motiv aber ist die Aufstachelung zum Hass gegen Russen.

Lesen Sie die Artikel und Reden von Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen nationalen Sicherheitsberater des US-Präsidenten (James Earl »Jimmy« Carter Jr., jW), und Sie werden sehen, dass er pathologisch auf die Zerstörung der UdSSR als Einzelstaat fixiert ist. US-Außenminister James Baker hat bei seinem jüngsten Besuch in Moskau deutlich gemacht, dass die USA die UdSSR in den Grenzen von 1933 anerkennen. Damals nahmen sie diplomatische Beziehungen zu uns auf. Was bedeutet das? Es geht dabei nicht nur um die baltischen Staaten, für die sie sich immer eingesetzt haben. Seit Jahren unterhalten sie auf eigene Kosten »Botschaften« für Litauen, Lettland und Estland in Washington. Die Grenzen von 1933 bedeuten auch eine Revision der Grenzen zu Finnland (solche Stimmen werden dort bereits laut), sie bedeuten eine Revision der Grenzen in der Westukraine und in Weißrussland, der Grenzen zu Rumänien, die Abtrennung der Hälfte von Sachalin und der Kurilen. Im wesentlichen haben wir es mit einem Programm zur Teilung der Sowjetunion zu tun.

Zwei Schwärme von Geiern – eigene und fremde – kreisen über dem geschwächten Körper des Vaterlandes. Diese Schwärme fliegen nicht getrennt, sondern schließen sich zusammen.

Troubadoure des Separatismus

Ich werde Ihnen etwas inzwischen Bekanntes erzählen: Jahrelang haben US-Beamte die baltischen Republiken in jeder Hinsicht gemieden. Sie befürchteten, dass ein erzwungener Kontakt mit den örtlichen sowjetischen Behörden ihre Position, die Republiken nicht als Teil der UdSSR anzuerkennen, gefährden würde. Heute aber ist es nicht mehr möglich, den Massenzustrom von US-Bürgern, einschließlich offizieller Vertreter, in die Region zu stoppen. Es ist so weit gekommen, dass der US-Bürger »Eyva« – ein ehemaliger Hauptmann der »Green Berets« – Gruppen von Sajudisten anleitete (1988 wurde in Litauen die Bewegung »Sajudis« gegründet, die offiziell die »Perestroika« unterstützte; inoffiziell strebten die Sajudisten die Abspaltung von der Sowjetunion an, jW). Er übernahm die Bewachung des Gebäudes des Obersten Sowjets in Vilnius, lehrte die Herstellung von Sprengkörpern und trainierte Techniken für den Häuserkampf. Das Geld für die separatistische Regierung wurde im Westen gedruckt; Kommunikationsmittel, Kopiergeräte und viele andere Dinge kamen von dort. Die US-Bürger »Wayman« (von der Harvard-Universität) und »Johnson« (ein Experte für Verwaltungs- und Rechtsfragen) sind als Berater bei der Ausarbeitung der litauischen Verfassung tätig.

Wie sehr lieben sie im Westen unsere Troubadoure des Separatismus. Ihnen werden die meisten Leckerbissen zugeteilt: hochbezahlte Vorträge, Spitzenhonorare für Artikel und Interviews. Und all dies erfordert nur eines: ihr Heimatland zu verunglimpfen und seinen Zusammenbruch zu fordern. Niemand im Westen zahlt einen Pfennig für blaue Augen; berechnende politische Intriganten zahlen nur für Arbeit – Arbeit, die für sie profitabel und notwendig ist. In keinem anderen Land der Welt gibt es so viele Parlamentarier, die im Ausland auf der Suche nach ihrem Lebensunterhalt sind wie bei uns, wenn es zu Hause genug zu tun gibt. Es stellt sich die Frage: Bekommen sie auf diesen Reisen auch Ideen?

Es sei daran erinnert, dass US-Kongressabgeordnete keine Geschenke im Wert von mehr als 50 US-Dollar entgegennehmen dürfen und auch keine Zahlungen für Reisen, Hotelübernachtungen auf Kosten anderer oder sonstige Geschenke annehmen dürfen. All dies gilt als zwingende Norm, deren Verletzung bis hin zum Verlust des Mandats geahndet wird. Ich sage gleich vorweg, dass nach amerikanischem Recht jede politische oder gesellschaftliche Organisation, die in irgendeiner Form versucht, die Integrität der USA zu zerstören, für verfassungswidrig erklärt und ihr Schicksal vor Gericht entschieden wird. (…)

In diplomatischen Gesprächen und bei Tisch sprechen Vertreter des Westens häufig über ihre Sorgen wegen der Entwicklung in der Sowjetunion und über die Notwendigkeit, die Integrität unseres Staates zu wahren. Das hätten sie schon längst durch Taten beweisen können. Es hätte ausgereicht, die auf alle wissenschaftsintensiven Technologien ausgedehnte Handels- und Wirtschaftsblockade aufzuheben und die Weichen für die Propagandaauftritte anders zu stellen. Das tun sie nicht. Andererseits befürchten sie, dass durch den Zusammenbruch der Sowjetunion Atomwaffen gleichzeitig in die Hände gegnerischer Gruppierungen gelangen könnten, und die Folgen einer solchen Situation unvorhersehbar sein könnten. Sie haben sogar wiederholt angedeutet, dass ein einziges mobiles Raketensystem von einer subversiv-terroristischen Gruppe in Besitz genommen werden und zu einem gefährlichen Erpressungsmittel werden könnte. Aber selbst aus dieser Besorgnis ziehen sie ihre eigenen Schlüsse: Sie beginnen zu spekulieren, dass eine Situation eintreten könnte, in der eine internationale Kontrolle der Kernwaffen und Kernanlagen der Sowjetunion gerechtfertigt wäre. Es geht nicht mehr um die Teilung der Sowjetunion, sondern um ihre faktische Besetzung. Das ist die Richtung, in der die Geostrategen im Ausland arbeiten.

Geschichte wiederholt sich

Das Komitee für Staatssicherheit hat die Führung des Landes über alles, was ich gesagt habe, rechtzeitig und detailliert informiert, und wir sind sehr besorgt, dass sich die tragische Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wiederholen könnte. Der Geheimdienst berichtete damals lautstark über das Herannahen der Naziinvasion und Stalin betrachtete diese Informationen als falsch und sogar als Provokation. Was es uns gekostet hat, wissen Sie.

Genossinnen und Genossen Abgeordnete! Ich teile von ganzem Herzen Ihren Schmerz und Ihre Sorge um den Erhalt der Sowjetunion. Als Historiker möchte ich sagen, dass die Anschuldigungen gegen ein durch Gewalt geschaffenes »russisches Reich« heuchlerisch sind. Alle großen Mächte haben um die Einigung gekämpft, und die Führer dieses Kampfes sind als die größten Patrioten in Erinnerung geblieben.

Abraham Lincoln ließ nicht zu, dass die Vereinigten Staaten auseinander fielen. Er hatte nicht einmal Angst davor, einen Bürgerkrieg zu beginnen, um die Konföderation der Südstaaten zu zerschlagen. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben. England führte einen langen Krieg mit Schottland und dann mit Irland, bis es zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland wurde. Königin Elisabeth ließ die letzte schottische Königin, Maria Stuart, enthaupten. Die Briten haben immer noch nicht die Absicht, sich aus Ulster zurückzuziehen oder die Inselgruppe der Malwinen (Falklandinseln, jW) vor Argentinien aufzugeben – egal, wie sehr die Weltöffentlichkeit dies beklagt. In Asien befasst sich die Volksrepublik China im Hinblick auf ihre nationalen Interessen mit der Tibetfrage. Indien hat seinen Standpunkt in der Kaschmirfrage klar und deutlich gemacht. In Afrika haben sich viele separatistische Bewegungen gebildet. Sie erinnern sich sicher an die Abspaltung Katangas von Zaire, an den Kampf Biafras um die Abspaltung von Nigeria, an Eritrea und so weiter. Um zu verhindern, dass ein separatistischer Tumor junge Staaten zerstört, hat die Organisation Afrikanischer Staaten beschlossen, keine tribalistische, das heißt stammesbezogene und nationale Bewegung als legitim anzuerkennen, die darauf abzielt, Grenzen und territoriale Integrität zu zerstören. Werden die Afrikaner klüger sein als wir und wird ihre Position ein Vorwurf an uns sein?

Eine letzte Sache. Jeder vereinheitlichende staatliche Prozess ist objektiv mit Fortschritt gleichzusetzen. Bismarck, der Deutschland im letzten Jahrhundert mit »Eisen und Blut« einte, schuf die Grundlagen für das Wachstum und den Wohlstand von Nation und Staat. Viktor Emanuel auf der einen und Garibaldi auf der anderen Seite schufen ein geeintes Italien. Entwicklung erfordert große Wirtschaftsräume, einen Binnenmarkt, ein solides Währungssystem und eine sichere Rechtsstaatlichkeit. Das sind die Werte, die das Bürgertum immer angestrebt hat. (…)

Heute wünscht sich jeder Sowjetbürger den Tag herbei, an dem die Tagung des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR in ihrer Entschlossenheit und Bedeutung dem Gipfel von Nischni Nowgorod im fernen Jahr 1611 gleichkommt, als Kusma Minin mit einer Rede das Land in die Schranken wies, eine Miliz aufstellte und sich aufmachte, um das in Intrigen mit den Polen und Streitigkeiten untereinander verstrickte Moskau zu retten.

Nikolai Sergejewitsch Leonow (1928–2022) war von 1958 bis 1991 Mitarbeiter des sowjetischen Auslandsnachrichtendienstes, habilitierter Historiker, Schriftsteller und Autor zahlreicher Sachbücher. 1953 lernte er auf einem Schiff, das ihn von Italien nach Mexiko zum Sprachstudium bringen sollte, zufällig Raúl Castro und durch ihn 1956 Che Guevara kennen. Daraus entstand eine enge Freundschaft mit beiden (siehe den Nachruf auf Nikolai Leonow von Volker Hermsdorf in jW vom 5. Mai 2022). Leonow berichtet darüber unter anderem in dem Buch »Die letzten Aktionen des KGB«, das 2017 in der Edition Berolina erschien

Übersetzung aus dem Russischen: Arnold Schölzel

Zuerst erschienen in der Rosa & Karl, Beilage der jungen Welt am 14.01.2023