Sevim Dagdelen
Russenfeindlichkeit wird nur allzu oft in das Reich der Propaganda des russischen Präsidenten Wladimir Putin verwiesen. Dieser wolle damit den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine mit einem Rassismusvorwurf kontern. Das ist aufgrund der Tatsachenlage aber schlicht unhaltbar. Im Gegenteil. Als Versuch, das Thema generell abzuwehren, muss man von einer weiteren Argumentationsfigur der Russophobie selbst sprechen.
Zunächst fällt auf, dass im Umgang mit Russland keine allgemein anerkannten Maßstäbe mehr gelten. So wenig völkerrechtswidrige Angriffskriege von NATO-Staaten wie den USA oder der Türkei von der Bundesregierung verurteilt wurden, so wenig gab und gibt es etwa Überlegungen oder gar Entschließungen, US-Amerikaner als Reaktion auf die Politik der US-Regierung von internationalen Sportwettbewerben auszuschließen. Im Falle Israels wurden allgemeine Ausschlussmaßnahmen israelischer Künstler und Wissenschaftler als Reaktion auf die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland zu Recht als rassistisch kritisiert. Genau dieses Vorgehen aber ist gegenüber russischen Sportlern hochoffizielle deutsche Politik. Das Ziel ist, ganz allgemein russische Sportler von allen internationalen Wettbewerben auszuschließen. In ihrem russenfeindlichen Wahn geht die Bundesregierung sogar dazu über, Sportverbände wie den Deutschen Schachbund (DSB) zu sanktionieren, die weiterhin an Wettbewerben teilnehmen, an denen sich auch russische Spieler beteiligen. Durch eine empfindliche Mittelkürzung für deutsche Schachspieler will man den Verband zwingen, sich nicht mehr an diesen Wettbewerben zu beteiligen, und dies, obwohl der DSB für den Ausschluss russischer Spieler gestimmt hat und sogar andere europäische Verbände zu bewegen versuchte, es ihm gleichzutun. Wie beim Wirtschaftskrieg gegen Russland schießt man sich dabei auch noch ins eigene Knie. Während die Sanktionen gegen russisches Gas und Öl im vergangenen Jahr Mehreinnahmen russischer Staatskonzerne förderten und gleichzeitig die Bevölkerung in Deutschland in ihrer sozialen Existenz bedrohen, so schädigen die Mittelkürzungen mit dem Ziel des „Russen raus“ im internationalen Sport die eigene sowieso nicht rosige Situation im Breiten- und Spitzensport.
Bilderstürmerei im Baltikum
Bei Russland ist alles anders. Für Russen gelten andere Maßstäbe. Denn wie hätte die deutsche Öffentlichkeit reagiert, wenn deutsche Sportler etwa wegen der Beteiligung Deutschlands am NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999 von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen worden wären? Es hätte einen Aufschrei gegeben. Die Russenfeindlichkeit zielt aber nicht nur auf den Sport. Immer deutlicher tritt hervor, dass man sich in der Europäischen Union explizit dem Kampf gegen die russische Kultur verschreibt. Russische Literatur wird im Baltikum aus den Buchhandlungen genommen, auf der Buchmesse in Vilnius im Februar 2023 werden keine russischsprachigen Bücher mehr vertreten sein. Der russischen Kultur wird der Krieg erklärt. Sie soll verschwinden. Bilderstürmerei gegen russische Dichter wie in der Ukraine, wo man auch die Denkmäler für Alexander Puschkin schleift, ist an der Tagesordnung. Aus dem Kampf gegen die russische Kultur droht der Kampf gegen die Russen in Estland, Lettland und Litauen zu werden und so geraten die russischsprachigen Minderheiten im Baltikum mehr und mehr ins Fadenkreuz der nationalistischen Regierungen.
Allein, es bleibt nicht nur bei der Zerstörung von Denkmälern, die an russische Künstler erinnern. Beschwiegen von der Bundesregierung, kaum kommentiert von Medien hierzulande, findet im Baltikum eine grundlegende Säuberung von Denkmälern statt, die an den Sieg der Roten Armee gegen den deutschen Faschismus erinnern. Mit dem Schleifen der sowjetischen Denkmäler soll die Erinnerung an die Geschichte ausgelöscht werden. Und aus diesem verordneten Schlaf der Vernunft drohen neue Ungeheuer aufzusteigen, die doch den alten so ähnlich sind.
Entsorgung der eigenen Geschichte
Berlin ist das Zentrum dieses Versuchs, die Geschichte des antifaschistischen Befreiungskampfs vergessen zu machen – oder wenigstens antirussisch umzudeuten. Zwar wagen sich die Regierungen noch nicht an die sowjetischen Ehrenmäler heran, aber sie möchten genau bestimmen, was an diesen Orten zu tun und zu lassen ist und wie erinnert werden soll. So untersagte der Berliner Senat unmittelbar vor dem Jahrestag des Sieges über den Faschismus im vergangenen Jahr an einschlägigen historischen Orten das Zeigen von Symbolen, „die geeignet sind, den Russland-Ukraine-Krieg zu verherrlichen“. Dazu gehöre auch die „Flagge der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“. In Niedersachsen wurde die Sowjetfahne verboten, weil sie in aggressiver Weise „die Zugehörigkeit zur russischen Nation zur Schau“ stelle.
Weit wirkungsmächtiger aber ist der Versuch, die deutsche Geschichte zu entsorgen, indem sie antirussisch uminterpretiert wird. Wie zufällig entsteht dadurch dann die Legitimation für die Hetze gegen Russland. Dabei kommt der Angriff nicht, wie man erwarten könnte, von der Rechten. Gegen die Relativierer und Überträger von heute war der Historiker Ernst Nolte, der behauptete, die Vernichtungsmaschinerie des deutschen Faschismus sei nur eine Reaktion auf die Straflager Sowjetunion gewesen, ein Waisenknabe. Jürgen Trittin (Die Grünen) etwa behauptet, die russische Kriegsführung „ähnelt in vielen Orten dem Vernichtungskrieg von SS und Wehrmacht gegen die Sowjetunion“. Sein Parteikollege Ralf Fücks, Gründer des „Zentrum Liberale Moderne“ – besser Zentrum für Neuen Deutschen Militarismus – setzt noch eins drauf und twittert: „Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine wirft die ‚Responsibility to Protect‘ auf: die völkerrechtliche Verpflichtung, einen drohenden Genozid zu verhindern.“ Sprich: im Namen der Menschenrechte müsse Krieg gegen Russland geführt werden. Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter tönt: „Das ist ein Vernichtungskrieg, wie Hitlerdeutschland ihn von 1941 bis 1944 auf sowjetischem und insbesondere auf ukrainischem Boden geführt hat.“ Russland müsse „verlieren lernen wie Deutschland 1945“.
Man kann es auf die einfache Formel bringen: Putin soll der neue Hitler sein. Damit werden der Faschismus und die Verbrechen des Dritten Reiches relativiert, die bislang schrankenloser Aufrüstung und Kriegsbeteiligung im Weg stehen. Zugleich wird die eigene genozidale Vergangenheit in eine russische Gegenwart transferiert und dabei historische Entlastung mit antirussischer Kriegspropaganda verbunden, die bewusst darauf setzt, auf gesicherte Fakten verzichten zu können.
Geschichtsklitterung im Bundestag
Anfang Dezember 2022 übte sich der Deutsche Bundestag dann selbst in der Rolle des Geschichtsklitterers: Auf Antrag von Grünen, SPD, FDP und CDU/CSU stufte das Parlament die Hungerkatastrophe in der Ukraine der 1930er Jahre als Völkermord ein. Diese Beurteilung teilen die meisten Historiker nicht, auch die deutsch-ukrainische Historikerkommission lehnte sie zuletzt im Herbst 2019 klar ab. Der instrumentelle Charakter der Resolution ist unverkennbar: Vorne wird über Stalin geklagt, hinten über Putin – allesamt Völkermörder eben. Der industrielle Massenmord an den europäischen Juden wird im Antragstext zum Teil einer „Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme“ und damit auf eine Weise relativiert, die in den vergangenen Jahrzehnten auf einer solchen staatlichen Ebene kaum denkbar war.
Wenn es gegen Russland geht, gibt es kaum noch Haltelinien. Es scheint um eine fast verzweifelte Suche zu gehen, um mit dem Völkermordvorwurf eine plausible Begründung für einen Kriegseintritt zu finden, der mit der Lieferung von Haubitzen, gepanzerten Fahrzeugen und der in Aussicht stehenden Bereitstellung von schweren Kampfpanzern an die Ukraine immer näher rückt.
Mit der Änderung des Strafrechtsparagraphen 130 wurde auch die Justiz für eine Praxis der Relativierung eingeschworen. Während auf der einen Seite der Vergleich der Covid-Maßnahmen mit dem Nationalsozialismus als Relativierung des Völkermords strafbewehrt ist, gilt dies selbstverständlich nicht für die zahlreichen Vergleiche und Gleichsetzungen mit Russland. Mehr noch droht allen, die dieses neue Geschichtsbild, das Züge einer antirussischen Staatsdoktrin trägt, die strafrechtliche Verfolgung wegen der öffentlichen Verharmlosung von Kriegsverbrechen und Völkermord.
Dazu passt, dass die Bundesregierung sich im vergangenen Jahr nicht wie sonst bei der von Russland eingebrachten UN-Resolution für die Bekämpfung und Verherrlichung des Nationalsozialismus, des Neonazismus und des Rassismus enthielt, sondern zum ersten Mal mit Nein votierte. Die Resolution, in der die Verherrlichung des deutschen Faschismus, das Schleifen sowjetischer Denkmäler wie die Besorgnis über rassistische Angriffe neonazistischer Gruppen thematisiert wird, wurde mit großer Mehrheit in der UN-Generalversammlung angenommen.
Bandera-Verehrer als Stichwortgeber
Einen Säulenheiligen hat die antirussische Staatsdoktrin in Deutschland auch schon. Es ist der ehemalige ukrainische Botschafter und jetzige stellvertretende Außenminister seines Landes Andrij Melnyk. Der war im vergangenen Jahr nicht nur gern gesehener Talkshow-Gast und Stichwortgeber für die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen, sondern ist ein glühender Verehrer des Nazikollaborateurs und Antisemiten Stephan Bandera. Dieser ist mitverantwortlich für die Morde an tausenden Juden und Polen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs. Über Bandera schreibt das von Milliardären und teilweise öffentlicher Hand finanzierte Faktencheckerportal „correctiv“: „Die einen sehen ihn als Nationalsozialisten, in manchen Regionen wird er teilweise als Nationalheld gefeiert.“ Und muss dann doch einräumen: „Historiker bezeichnen ihn als Faschisten“ und die Organisation, an deren Spitze er stand, „half Deutschland bei der Ermordung von Jüdinnen und Juden in der Westukraine“. Zugleich musste der amtliche Faktenchecker zähneknirschend die Echtheit eines Selfies des Oberkommandeurs der Streitkräfte der Ukraine, Walerij Saluschnij, einräumen, der zu Jahresbeginn vor einem Porträt Banderas posierte. Selbst dieser weitere offensichtliche Tabubruch im Umgang mit dem Holocaust war der Bundesregierung kein Anlass auch nur zu leisester Kritik an Kiew. Der offensive Bezug zum Faschismus wird akzeptiert und steht der weiteren Lieferung von Waffen und immensen Finanzhilfen an die Ukraine nicht im Weg. Es bleibt bei der Maßgabe, den Faschismus nach Moskau zu verschieben. Russland soll der neue Hort des Bösen sein, auch um jedes Ansinnen für einen Verhandlungsfrieden diskreditieren zu können.
Wo Russland aber als neuer Hort der Finsternis gilt, sollen seine Bürger nicht ungeschoren davonkommen. Insbesondere die baltischen Staaten und Polen wollen die Einreise russischer „Touristen“ pauschal untersagen, weil von ihnen angeblich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Zudem sei es „unakzeptabel, dass Bürger des Aggressorstaates frei in die EU reisen können, während gleichzeitig in der Ukraine Menschen gefoltert und ermordet werden“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung dieser Länder. Deutschland beteiligt sich zwar nicht daran, aber auch der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz hat angekündigt, „touristischen“ Visa keine Priorität mehr einzuräumen. Wohlgemerkt: Auf Touristenvisa sind alle angewiesen, die Verwandte in der EU besuchen wollen, ebenso Akteure zivilgesellschaftlicher Organisationen, die weiterhin einen – offiziell doch gewünschten – persönlichen Austausch pflegen wollen. Damit verpflichtet sich die Bundesregierung in der Praxis dem „Russen raus“-Prinzip.
Es ist höchste Zeit, für den Widerstand gegen die deutsche Kriegsbeteiligung in Form von Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu mobilisieren. Widerstand gegen den Krieg bedeutet aber auch Widerstand gegen die antirussische Staatsdoktrin. Sie dient als Kriegsvorbereitung dazu, den Gegner zu dämonisieren, zu entmenschlichen, um in den Krieg ziehen zu können.
Sevim Dağdelen ist Mitglied des Deutschen Bundestages