Es leben noch einige Massenmörder in Deutschland

Die BRD hat kein Interesse, Naziverbrecher zu verurteilen, denn die Bundeswehr ist selbst an Kriegen beteiligt. Gespräch mit Dieter Skiba

Interview: Frank Schumann

Einige Zeitungen vermeldeten es sogar auf der ersten Seite, dass die deutschen Ermittlungsbehörden jetzt acht Naziverbrecher identifiziert hätten, denen Beihilfe zum Mord in Tausenden Fällen vorgeworfen wird. Bei Meldungen wie diesen beschleicht mich stets das ungute Gefühl: Warum erst jetzt, und warum dieses Getöse?

Ich verstehe Sie völlig. Bei solchen Meldungen steht unausgesprochen stets die Vorhaltung mit im Raum, dass sich erst die Bundesrepublik gründlich und intensiv mit der Nazivergangenheit auseinandergesetzt hat.

Haben Sie, hat die DDR die Naziverbrecher denn »übersehen oder verschont«?

Nein, natürlich nicht. Es handelt sich offensichtlich um Wachpersonal aus dem KZ Stutthof. Das befand sich auf polnischem Territorium und fiel darum in die Zuständigkeit polnischer Kollegen. Es gab dort 1946/47 vier große Verfahren mit einer Reihe von Todesurteilen, später folgten noch diverse Einzelverfahren. Unser Ermittlungsschwerpunkt bei dieser Tätergruppe lag vor allem auf Ravensbrück, Sachsenhausen und Buchenwald, also jenen Konzentrationslagern, die auf dem Gebiet der späteren DDR existierten. In Zusammenarbeit mit den polnischen Ermittlern haben wir auch im Personalbestand des KZ Stutthof recherchiert, um festzustellen, ob in der DDR einige Ehemalige untergetaucht waren. Wir fanden keine. Uns war allerdings bekannt, dass mindestens drei Strafverfahren gegen ehemalige SS-Leute aus Stutthof anhängig waren. Allerdings geht aus der Meldung aus Ludwigsburg nicht hervor, wo diese vier Männer und die vier Frauen lebten und leben, gegen die nun Vorermittlungen aufgenommen wurden.

Die Nachricht wurde vom Oberstaatsanwalt Jens Rommel bekanntgegeben. Er leitet seit Oktober vergangenen Jahres die 1958 gebildete »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg. Rommel wurde 1972 geboren, da waren die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main und viele andere Verfahren längst gelaufen. Im übrigen sei er mit Hitlers Generalfeldmarschall Rommel »weder verwandt noch verschwägert«, wie er sagt.

Dafür kann er ja nichts, wobei Rommel natürlich vor dem Problem eigener Profilierung steht. Aber ich erinnere daran, dass der vor ihm anderthalb Jahrzehnte lang amtierende Kurt Schrimm im April 2013 mitteilte, dass seine Behörde Vorermittlungen gegen 50 frühere Aufseher von Auschwitz-Birkenau eingeleitet habe. Was ist eigentlich daraus geworden?

Ich sehe noch den Ex-Wachmann in Auschwitz, Oskar Gröning, der im Vorjahr mit 94 Jahren wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, oder den über 90jährigen Demjanjuk im Rollstuhl vor einem Münchner Gericht, wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 27.000 Fällen angeklagt und zu fünf Jahren verurteilt. Natürlich ist es richtig, dass kein Naziverbrechen ungestraft bleiben darf. Dennoch wirken solche Verfahren befremdlich, um nicht zu sagen makaber.

Da sind Sie nicht der einzige. Prof. Christiaan F. Rüter aus Amsterdam…

…mit dessen Hilfe Sie gerade eine Sammlung aller zwischen 1945 und 1990 in der Sowjetisch Besetzten Zone und der DDR geführten Verfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher mit Todesurteil ediert haben…

Rüter kritisierte diese Verfahren, es richte sich im Falle Demjanjuks gegen »den kleinsten der kleinen Fische«. Und er meinte – und dieser Auffassung bin ich auch: »Um Demjanjuk würde sich niemand kümmern, wäre an ihm nicht der Geruch hängengeblieben, er sei ›Iwan der Schreckliche‹ – der er nachweislich nicht ist.«

Darauf zielt meine Frage: Warum jetzt dieser Eifer bei »den kleinsten der kleinen Fische«? Denn die Stutthof-Leute kommen offenbar auch aus diesem Schwarm.

Zunächst sind wir uns wohl einig, dass die juristische Verurteilung solcher Taten nicht nur wegen ihrer symbolischen Bedeutung notwendig, sondern auch moralisch völlig gerechtfertigt ist. Doch Rüters richtige Bemerkung weist auch darauf hin, dass diese »kleinen Fische« nunmehr für die »großen Fische«, die diese bundesdeutsche Justiz nachweislich jahrzehntelang verschonte, stellvertretend büßen und ihre konsequente Verfolgung das Ansehen Deutschlands im Ausland aufbessern sollen. Daran muss man offenkundig großes politisches Interesse haben.

Im Fokus befinden sich ausschließlich KZ-Wachleute, fällt Ihnen das nicht auf? Es werden keine Täter ermittelt, die man wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen müsste.

Vielleicht leben die alle nicht mehr.

Da irren Sie sich! Es leben noch einige Massenmörder in Deutschland, die in Griechenland, in Itali en, in der Sowjetunion und anderen besetzten Ländern gewütet haben und dafür von dortigen Gerichten verurteilt wurden. Und zwar in Abwesenheit. Diese Täter wurden von der BRD nicht ausgeliefert, weil dies gegen das Grundgesetz verstoßen würde. Die Urteile wurden aber auch nicht in Deutschland vollstreckt, weil sie als rechtsstaatswidrig gelten: Ein Angeklagter, der beim Prozess nicht anwesend ist, kann sich vor Gericht nicht verteidigen und darf folglich auch nicht verurteilt werden. Und schließlich stellte man solche Leute in Deutschland nicht vor Gericht, weil niemand in der gleichen Sache zweimal angeklagt und verurteilt werden darf. Das nennt man juristische Logik.

Warum behandelt die deutsche Justiz auch heute noch diese Tätergruppe so nachsichtig und nimmt sie offenkundig von der Verfolgung aus?

Ich glaube, das es nicht nur daran liegt, dass die bundesdeutsche Justiz strukturell und traditionell mit dem rechten Auge nicht ganz so gut sieht wie mit dem linken. Inzwischen kommen Staatsanwälte und Richter aus einer Generation, die kaum offen in irgendeiner Weise mit der Naziideologie sympathisiert. Nach meinem Eindruck vernachlässigt man vergangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen Menschlichkeit deshalb, weil heute die Bundeswehr wie weiland die Wehrmacht viel im Ausland eingesetzt ist. Nun will ich beileibe nicht die verbrecherische Wehrmacht mit der heutigen Bundeswehr gleichsetzen. Aber vergleichen darf man ja wohl. Die Bundeswehr beteiligte sich an »friedenserhaltenden« und »friedenssichernden« Maßnahmen oder an »humanitären Hilfsaktionen«, wie die Auslandseinsätze beschönigend heißen, seit 1960 (Einsatz von Luftwaffe, Sanitätsdienst und ABC-Abwehrtruppe in der durch ein Erdbeben zerstörten Stadt Agadir in Marokko) in über 130 Fällen. Allein im Juni 2002 waren gleichzeitig über 10.000 Soldaten »draußen«, aktuell sind es rund 4.000. Meinen Sie nicht, dass es dabei zu Vorfällen kommt, die als »Kriegsverbrechen« eingestuft und juristisch verfolgt werden sollten? Ich erinnere nur an den von dem damaligen Bundeswehroberst Klein verantworteten Luftangriff bei Kundus in Afghanistan 2009, bei dem 142 Zivilisten starben. Die Bundesanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren gegen Klein ein, weil weder die Vorschriften des Völkerstrafgesetzbuches noch die Bestimmungen des deutschen Strafgesetzbuches verletzt worden seien. Die Klage des afghanischen Fahrers eines der beiden beschossenen Tankwagen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Befehls von Oberst Klein wies das Verwaltungsgericht Köln ab. Völkerrechtlich habe es sich »trotz der Beteiligung internationaler Truppen um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt« gehandelt, begründete es seine Entscheidung. »Mit dem streitigen Einsatzbefehl übte Oberst Klein deshalb keine deutsche Hoheitsgewalt aus.«


Dieter Skiba, geboren 1938, war als Leiter der Hauptabteilung IX/11 des Ministeriums für Staatssicherheit erster Nazi-Fahnder der DDR.

Im KZ Stutthof bei Danzig (und 39 Außenlagern) schufteten Häftlinge für die deutsche Industrie und gewissenlose Ärzte unternahmen grauenvolle Menschenversuche. Es wurde mit Sklavenarbeit und mit Zyklon B gemordet. Etwa 65.000 Menschen verloren zwischen 1939 und 1945 dort ihr Leben.

Nun hat man acht Aufpasser ermittelt. Acht von rund 3.000 SS-Angehörigen und ukrainischen Hilfspolizisten, die in Stutthof über die Jahre eingesetzt waren. Der oder die älteste ist 98, der oder die jüngste 89 Jahre alt.

Vor zwei Monaten verurteilte das Landgericht Detmold den 94jährigen Reinhold Hannig zu fünf Jahren. Er war als SS-Wachmann anderthalb Jahre in Auschwitz. Die Richterin ließ sich nach ihrem Urteil vom Staatsanwalt loben, es handele sich um »einen Meilenstein in der Aufarbeitung des NS-Unrechts in Deutschland«, und der Vertreter der Nebenklage pflichtete ihm bei. Zum ersten Mal sei von einem deutschen Gericht gesagt worden, dass man als SS-Mann für alle Morde in Auschwitz mitverantwortlich sei.

Zum ersten Mal von einem »deutschen Gericht«? Welche Sprache sprach man an den DDR-Gerichten, wenn gegen Nazitäter verhandelt wurde?

Erschienen in der Tageszeitung “junge Welt” am 15.08.2016