Ein Bericht von Tilo Gräser
Mehr als 400 Teilnehmer einer Konferenz in Berlin wandten sich am Montag gegen die Konfrontationspolitik in Europa und der Welt. Zwei Experten aus den USA beschrieben die Gefahren eines Atomkrieges, während ein Publizist und ein Ex-General Frieden mit Russland forderten.
Wenn es zum Einsatz von taktischen Atomwaffen kommen sollte, ist die Eskalation hinzu einem entgrenzten Atomkrieg nicht zu stoppen. Und am Ende bleibt nichts mehr übrig, wofür es sich noch zu kämpfen lohnte. Auf diese Gefahr machte am Montag in Neuenhagen bei Berlin der US-amerikanische Physiker Theodor Postol aufmerksam.
Lawrence Wilkerson, ehemaliger Oberst und Stabschef des früheren US-Außenministers Colin Powell, stimmte dem zu und warnte: «Sobald man diese Waffen einsetzt, und zwar in großem Stil, wird man die Menschheit zerstören.» Er nannte Vorstellungen von Militärs, dass ein begrenzter Atomkrieg führbar sei und gewonnen werden könne, «absoluten Blödsinn».
Postol und Wilkerson sprachen auf der Konferenz «Frieden mit Russland», zu der das Ostdeutsche Kuratorium von Verbänden (OKV) nach Neuenhagen eingeladen hatte. Mehr als 400 Menschen kamen, um zum einen zu hören, wie Experten die aktuelle Lage einschätzen, und um zum anderen mit einer gemeinsamen Abschlusserklärung ein Ende des Ukraine-Krieges sowie Frieden auch mit Russland einzufordern.
OKV-Präsident Matthias Werner begrüßte zu Beginn der Konferenz die Gespräche zwischen den USA und Russland mit dem Ziel, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Zugleich bleibe klar, dass die USA «ein imperialistisches Land, das seine Ziele zur Beherrschung der Welt mit der Kurzänderung im Ukraine-Konflikt nicht aufgegeben hat», seien.
«Die Trump-Administration berücksichtigt die Niederlage im Stellvertreterkrieg gegen Russland und wahrt rein rhetorisch seine Großmachtallüren, indem dem Stellvertreter in der Ukraine die Schuld am Scheitern der eigenen Kriegsziele zugeschoben wird. Und die Vasallen in Europa sind auserkoren, die Kosten für alles zu übernehmen.»
Werner warnte vor den Gefahren für den Frieden und die Sicherheit durch die Militarisierung von Politik und Gesellschaft in Deutschland.
Unaufhaltsame Eskalation
Eindrücklich machte der US-Physiker Theodor Postol auf die Folgen aufmerksam, wenn die neuen Mittelstreckenraketen und Hyperschallwaffen der USA in Deutschland 2026 stationiert werden. Der heute 80-jährige Physiker war Professor am Massachusetts Institute of Technology und hatte als Berater der US-Marine führend an der Entwicklung der »Trident«-U-Boot-Rakete mitgewirkt sowie für das US-Verteidigungsministerium an Atomkriegsplanungen mitgearbeitet.
Er schätzte ein, dass die aktuell bestehende Konfrontation sehr gefährlich sei, da vor allem die westliche Politik «sich der tatsächlichen Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, nicht bewusst ist». Der kritische Wissenschaftler warnte eindrücklich und ausführlich anhand der Erkenntnisse der Folgen eines Atomwaffeneinsatzes.
«Sobald diese Waffen eingesetzt werden, spielt es keine Rolle mehr, ob die militärischen Entscheidungsträger und die politischen Entscheidungsträger auf beiden Seiten völlig rational sind, denn es gibt keine rationalen Entscheidungen, die nicht zur vollständigen Vernichtung führen.»
Postol erläuterte, dass die zukünftigen US-Hyperschallwaffen in Deutschland bei einem möglichen Angriff auf Russland die Vorwarnzeit auf knapp vier Minuten verringere. Durch die Hyperschallwaffen habe die russische Führung kaum noch Zeit, um im Hinblick auf einen möglichen nuklearen Angriff zu entscheiden. In der Folge steige die Gefahr eines Unfalls oder einer Fehleinschätzung, was zu einem nuklearen Gegenschlag führen könne.
Der Physiker verwies darauf, dass eine solches Risiko unter anderem durch den ukrainischen Angriff auf ein strategisches Frühwarnradar Russlands im Mai 2024 hervorgerufen wurde. Er vermutet, dass damals niemand im Weißen Haus verstanden hat, was das bedeutete.
Allesvernichtender Atomkrieg
So wie während der Kuba-Krise 1962 die USA keine nukleare Bedrohung «vor der Haustür» wollten, sei heute Russland gegen US-Atomraketen in der Ukraine oder in Europa. Doch der US-Außenminister unter Joseph Biden, Anthony Blinken, habe seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow erklärt: Wir US-Amerikaner behalten uns das Recht vor, nuklear bewaffnete Raketen in der Ukraine aufzustellen, und das geht Sie nichts an.
Postol erklärte mit Blick auf die Erfahrungen aus der Nato-Kommandostabsübung «Able Archer» 1983, die einen Nuklearkrieg in Mitteleuropa durchspielte, dass selbst ein anfangs begrenzter Atomwaffeneinsatz eine nicht zu stoppende Eskalation hervorrufe. Innerhalb von fünf Tagen seien immer mehr Nuklearwaffen eingesetzt worden, so dass die Übung abgebrochen wurde.
«Das Ergebnis war, dass es wirklich nichts mehr gab, wofür man kämpfen konnte.»
Die Übung hätte beinahe in einen tatsächlichen Atomkrieg geführt, weil die sowjetische Führung befürchtete, die Nato bereite tatsächlich einen Angriff vor. Sie konnte schließlich auch durch die Informationen von Rainer Rupp, damals Nato-Mitarbeiter und zugleich Agent der Auslandsaufklärung der DDR – und Mitorganisator der Konferenz in Neuenhagen –, überzeugt werden, dass es nur eine Übung war.
Die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen und -Hyperschallwaffen mit nuklearen Sprengköpfen in Deutschland rufe eine russische Reaktion hervor, warnte der Physiker, der auch als Kriegsplaner tätig gewesen war, in seiner Antwort auf eine Publikumsfrage. Eine atomare Eskalation in Europa führe unweigerlich auch zur «allgemeinen Zerstörung der USA und Russlands».
Mächtiger Atomwaffenkomplex
Ähnlich deutlich warnte Lawrence Wilkerson auf der Konferenz vor den Folgen der gegenwärtigen Konfrontation. Der ehemalige Oberst und frühere Stabschef des US-Außenministers Colin Powell war per Video-Leitung aus den USA zugeschaltet. Aus seiner Sicht gibt es in den USA derzeit niemanden unter den Kongressabgeordneten, die über Milliarden Dollar für modernisierte Atomwaffen entscheiden, «der versteht, was er tut».
Der Ex-Militär machte darauf aufmerksam, dass in dem «Sektor» im militärisch-industriellen Komplex (MIK) der USA, der an Atomwaffen arbeite, inzwischen eine Generation von Wissenschaftlern und Experten arbeiten, die nichts mehr von den Erfahrungen aus dem Kalten Krieg wüssten. Zugleich werde der Atomwaffenkomplex der USA in den nächsten zwei Jahrzehnten bis zu zwei Billionen Dollar für Modernisierungen und neue Waffen ausgeben. Wilkerson warnte wie zuvor Postol:
«Wir sind einem Atomkrieg, einem Schlagabtausch mit Atomwaffen, näher als je zuvor, seit wir diese heimtückischen Waffen erfunden haben.»
Er gab einen interessanten Überblick über die Politik der USA, die ein Imperium sei, geführt von einer sehr reichen Oligarchie. Er widersprach damit den Behauptungen, bei der westlichen Führungsmacht handele es sich um eine liberale Demokratie. Im Vergleich zu den zahlreichen historischen Imperien gebe es einen Unterschied: Kein andere habe «jemals diese technologischen Mittel erfunden, um sich selbst und den Rest der Menschheit zu vernichten».
Wilkerson sieht die Macht des Westens schwinden, während sie zum Osten zurückkehre, wo sie lange Zeit zuvor sich befunden habe. Dagegen stemme sich das Imperium USA mit allen Mitteln, auch mit Atomwaffen, warnte er. Er erinnerte daran, dass die gemeinsam beschlossenen, massiven sowjetisch-US-amerikanischen Abrüstungen im Nuklearbereich in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf massiven Widerstand des MIK in den USA trafen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges habe sich das US-Imperium ab 1994 darauf verlegt, seine Macht auszudehnen und zu sichern. Dazu zählt der Ex-Oberst die Nato-Osterweiterung, eingeleitet von US-Präsident William Clinton, «damit mehr Waffen an den militärisch-industriellen Komplex verkauft werden konnten, dem er verpflichtet war, weil er durch seine Wahlkampagne viel Geld von ihnen bekommen hatte».
Gezielte Instabilität
Um die Machtumkehr gen Osten zu stoppen und China einzudämmen, sei ein «Bogen der Instabilität von der Arktis bis zur Antarktis» geplant worden – «und das geschah offensichtlich vom Baltikum über die Ukraine bis hinunter nach Rumänien, Moldawien und Georgien, die sie für ihre Sache zu rekrutieren versuchten bzw. immer noch versuchen, zu rekrutieren». Der Bogen reiche «bis hinunter zu unserem kleinen Schiff am östlichen Ende des Mittelmeers namens Israel», das benutzt werde, um Araber und Perser gegeneinander auszuspielen, um die Araber im Allgemeinen im Chaos zu halten und um die US-Hegemonie aufrechtzuerhalten, «ohne dass wir massive militärische Kräfte in der Levante einsetzen müssen».
Wilkerson erklärte, dass die Nato-Osterweiterung dazu diene, die US-Hegemonie in Europa wiederherzustellen, nachdem sich Deutschland nach Osten gewandt und enger Beziehungen zu Russland und China aufgenommen hatte. Dazu sei der Krieg in der Ukraine begonnen worden.
Der ehemalige US-Oberst warnte:
«Das Imperium wird Atomwaffen einsetzen.»
Er erinnerte daran, dass die USA das bisher einzige Land sind, die das bereits taten und 1945 dabei bis zu 150‘000 Menschen töteten. Zu den Gründen für einen möglichen erneuten Einsatz zählte er die Unfähigkeit des US-Militärs, einen konventionellen Krieg zu gewinnen, sowie die Angst des Imperiums vor dem eigenen absehbaren Untergang.
Fortgesetzte Vorherrschaft
Das mache die heutige Situation gefährlicher als die 1962 um Kuba oder zuvor in Berlin. Wilkerson warnte, dass die USA ihren Atomwaffenkomplex noch weiter ausbauen. Durch die Modernisierung der Waffen würden «einige unserer militärischen Führer» denken:
«Wir können zuerst zuschlagen und das überstehen, was nach dem Erstschlag übrigbleibt, und wir können einen Atomkrieg überleben.»
Das sei «absoluter Blödsinn», sagte Wilkerson dazu und warnte wie Postol davor, dass der Atomwaffeneinsatz zur Vernichtung des menschlichen Lebens auf der Erde führe. Er befürchtet aber, dass die USA nicht davor zurückschrecken, um in einer «letzten Schlacht» die Machtverschiebung nach Osten zu verhindern.
«Grundsätzlich ist festzustellen: Seit etwa 200 Jahren ging und geht es letztlich immer um die globale Vorherrschaft der USA und um deren Ausbeutung anderer Länder», stellte der Publizist Wolfgang Bittner in seinem Vortrag auf der Konferenz klar. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg und die westliche Politik bei dieser und anderen Krisen betonte er: «Nichts daran ist zufällig, alles ist geplant, oft über lange Zeiträume.»
Allerdings gebe es mit der Amtsübernahme von Trump nun «reale Chancen für die Entwicklung einer neuen internationalen Sicherheits- und Friedensarchitektur». Doch das werde leider nicht von den bundesdeutschen Politikern erkannt, so Bittner. Er ging darauf ein, wie Kreise des angloamerikanischen Kapitals seit mehr als 100 Jahren, Deutschland unter Kontrolle und klein zu halten.
Der Publizist sagte mit Blick auf die Gegenwart:
«Zu vermuten ist, dass Trump die Politik der Einvernahme Russlands und zugleich der Einkreisung Chinas auf andere Weise fortsetzt, nur nicht so offensichtlich wie seine Vorgänger und so ist weiterhin zu hoffen, ohne Krieg.»
Einen solchen «könnten aber einige europäische Staaten und am vorderster Front Großbritannien, Frankreich und Deutschland aus politischer Blindheit und ideologischer Verwirrung herbeiführen», befürchtet Bittner. Nach wie vor zeichne sich ab, dass Europa mehr und mehr ruiniert und als Konkurrent der USA ausgeschaltet werde.
Fehlende Souveränität
Er verwies außerdem darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland anders als offiziell erklärt bis heute nicht souverän sei. Sie stehe «nach wie vor unter Kuratel der USA, sowie unter latenter Beobachtung Großbritanniens und Frankreichs, auch wenn das viele heute nicht wahrhaben wollen». Davon würden auch die elf großen US-Militärbasen mit bis zu 37‘000 Soldaten und mit Atomwaffen künden.
Die verantwortlichen Politiker in Berlin hätten nicht begriffen, dass sich durch die von Trump eingeleitete Politikwende ein Zeitfenster aufgetan hat, das es zu nutzen gelte, sagte Bittner. Unter Beifall forderte der Publizist den deutschen Austritt aus der Nato, die Kündigung aller Stationierungsverträge für ausländische Streitkräfte, die Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen und normaler Beziehungen zu Russland sowie den Stopp der Waffenlieferungen in die Ukraine.
Zuvor hatte Manfred Grätz, ehemaliger Generalleutnant der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, ebenfalls Beifall bekommen. Er erklärte, «dass ein dauerhafter Frieden nur mit Russland, niemals ohne Russland und schon gar nicht gegen Russland machbar ist».
Der 90-Jährige berichtete, dass er als Kind den Zweiten Weltkrieg erlebte und es ihm deshalb «Überzeugung und Herzenssache» geworden sei, sich für den Frieden einzusetzen. Er wandte sich gegen die Erklärungen von der angeblichen Bedrohung durch Russland und fragte: «Wer bedroht denn wen? Wer steht denn an wessen Westgrenzen?»
Auch die von OKV-Präsident Werner verlesene Abschlusserklärung der Konferenz stellte klar: « Frieden mit Russland ist der Weg für Frieden in der Welt und in Europa!» Die Erklärung warnt:
«Die Welt steht an der Schwelle zu einem atomaren Weltbrand.»
Die «maßlose Hochrüstung» führe «unweigerlich in den Abgrund». Stattdessen müsse über Friedenssicherung verhandelt und Bedingungen für gleichberechtigte Zusammenarbeit geschaffen werden. Es müsse ein System der kollektiven Sicherheit in Europa und der Welt im Rahmen der UNO geschaffen sowie die Nato-Erweiterung gestoppt und zurückgefahren werden, heißt es in dem Papier.
Zuerst erschienen bei transition News am 29. März 2025