In Verteidigung der DDR

Nach 31 Jahren beendet die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. ihre Tätigkeit. Eine Rede zum Abschied

Siegfried Prokop

Die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. (GBM) beendete am 8. Dezember 2022 mit einer letzten Zusammenkunft in Berlin nach 31 Jahren ihre Tätigkeit. Siegfried Prokop, Historiker und Mitbegründer der einst mehrere tausend Mitglieder in dutzenden Ortsverbänden zählenden Organisation ehemaliger DDR-Eliten, erinnerte in einem Vortrag an Geschichte und Auftrag der GBM. (jW)

Mit Datum vom 11. Dezember 1990 findet sich in meinen Tagesnotizen ein Eintrag über ein Gespräch mit dem Politologen Klaus Herrmann aus Montreal: »Er ist entsetzt über die Brutalität der Deutschen unter den Deutschen, die er jetzt hier erlebt. Warum werden so viele Wissenschaftler entlassen?« Am 15. Dezember steht da: »Was soll man in solcher Lage mit den Begriffen ›Universitäts-Autonomie‹ oder ›Rechtsstaatlichkeit‹ anfangen? Hohle Worte im Verständnis der Politiker, die jetzt das Sagen haben.«

Diese Stichworte mögen genügen, um die Erinnerung an die Zeit des Abwicklungsterrors aufzufrischen. Es gab wie in einem Western nur noch das Gut-böse-Schema; tausendfach verstärkt durch die weithin einheitlich argumentierenden, westdominierten Medien.

Weihnachten 1990, das erste Weihnachten der deutschen Einheit, war für Hunderttausende Ostdeutsche vermutlich das traurigste Fest ihres Lebens. Zur enormen Steigerung der Lebenshaltungskosten nach Einführung der D-Mark kamen Warteschleife oder Entlassung in die Dauerarbeitslosigkeit und der soziale Abstieg hinzu. Der vergiftete Beifall aus dem Westen für die Herbstrevolution der DDR-Bürger und die selbst errungene Demokratisierung war wohlfeil und nichts mehr als Propaganda. Gut war nur noch die Bundesrepublik. Das alles offeriert in süßlichem Selbstlob. DDR – das waren nur noch Stasi und Unrecht. Lebensplanungen wurden zerstört. Der Politologe Fritz Vilmar gab dem Vorgang einen Namen: »strukturelle Kolonialisierung«.

Die Bürgerrechtler ließen sich als Helden der »friedlichen Revolution« feiern, taten aber nichts für die Verteidigung der Lebensinteressen der Ostdeutschen. Sie waren sehr schnell müde und konzeptionslos geworden.

Für Recht und Würde

In jenen Tagen verabredeten Wolfgang Richter, Philosoph und Friedensforscher an der Humboldt-Universität, und ich uns zu einem Waldspaziergang im Norden Berlins. Wir stimmten in der Auffassung überein, dass die neuen, gesamtdeutschen Herrscher sich genau das herausnahmen, was sie der DDR vorwarfen: Sie verletzten die Menschenrechte. Das musste ein Ansatzpunkt für Gegenaktionen bieten, wenn unsere Analyse richtig war. Wenn im »Beitrittsgebiet« nach unserer Wahrnehmung massenhaft Rechtsverletzungen erfolgten, dann musste das dokumentiert und öffentlich gemacht werden. Aber wie sollte das geschehen?

Wolfgang Richter schlug einen Aufruf vor, der die Opfer dieser Politik zur Bekanntgabe ihres Schicksals aufforderte. Damit sollte die Zeit des bloßen Hinnehmens von Demütigungen beendet werden. Wir entwarfen Texte für einen Aufruf. Aber wo sollten die durch die Siegerpolitik Betroffenen und Gedemütigten ihre Geschichten abgeben?

Wir entschlossen uns zur Anmietung eines Postfaches. Der Aufruf gefiel uns in der ersten Entwurfsfassung nicht. In Wolfgang Richters Institut für Friedens- und Konfliktforschung arbeitete ein ehemaliger Journalist der Jungen Welt. Hartmut Nehring legte Hand an, nun las sich der Text schon besser. Er war überschrieben mit »Für Recht und Würde« und erinnerte nicht zufällig an die große Aufrufaktion vom Herbst 1989 »Für unser Land«.

Der Appell forderte ein Deutschland, »das jedes Menschen Recht gleich achtet«. Statt dessen geschehe aber seit der Ostausdehnung der Bundesrepublik »massenhaftes Unrecht«. Im Text klang bereits der Gedanke an, die Dokumente in einem »Weißbuch« der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Nehring erklärte sich auch bereit, als Sekretär der Aktion zu agieren. Daraus wurde aber nichts. Er verunglückte tödlich mit seinem »Trabant« bei Prenzlau. Wir brauchten einen neuen Mitstreiter, die Aufrufaktion »Für Recht und Würde« verzögerte sich um mehr als einen Monat. Schließlich fanden wir Gert Fischer, der als Philosoph der Parteihochschule »Karl Marx« noch zu DDR-Zeiten wegen oppositioneller Haltungen entlassen worden war.

Gert Fischer war nicht nur aufgrund seiner Biographie ein Glücksfall. Er entfaltete auch eine enorme Aktivität. Keine Demo, auf der Gert nicht mit dem Charme eines Seniors den Aufruf »Für Recht und Würde« verteilte. Die Bürger reagierten nach dem Lesen des Papiers freundlich und mit einer gewissen Verwunderung ob des Mutes in dieser bleiernen, intoleranten Zeit.

Erschütternde Zeugnisse

Mittlerweile hatten wir Ende März 1991. Wolfgang Richter machte eine neue Entdeckung: den Arbeitslosenverband. Dessen Präsident Klaus Grehn hatte eine Klage gegen die Warteschleife beim Bundesverfassungsgericht auf den Weg gebracht. Tausende Betroffene hatten dem Arbeitslosenverband in Briefen ihr Schicksal geschildert, die in sieben Aktenordnern abgelegt waren. Die Vizepräsidentin des Verbandes, Germana Ernst, kam uns entgegen. Wir durften die Briefe lesen. Sie waren erschütternd. Wir fühlten uns bestätigt. Das Material reichte für mehr als nur ein Weißbuch. Die Täter mussten national und international angeprangert werden. Wolfgang Richter legte eine Disposition vor. Die Briefe durften aus Datenschutzgründen nicht publiziert werden. Aber wir verfügten über Adressen von Betroffenen und konnten diese anschreiben und deren Zustimmung erbitten.

Andererseits brachte unser eigener Aufruf zunächst nicht die erhofften Ergebnisse. Es kam nur wenig Material in unser Postschließfach. Wir entschieden uns dazu, aktiver als bisher an die Öffentlichkeit zu gehen. In meinen Tagesnotizen steht unter dem 8. April 1991 der Eintrag: »Es zeichnen sich leichte atmosphärische Veränderungen ab. Kohl wurde in Erfurt am Wochenende mit faulen Eiern empfangen. Die Ossis lassen sich die Demütigungen durch die ›Herrenmenschen‹ nicht mehr gefallen. Wolfgangs und meine Initiative greift allmählich. Heute gab ich dem Schleswig-Holsteinischen Rundfunk ein Interview. Das ND brachte eine Meldung.«

Einen Tag später berichtete auch die Berliner Zeitung über unser Vorhaben: »Die Initiativgruppe ›Abwicklung‹ beim Arbeitslosenverband Deutschlands hat alle Betroffenen aufgerufen, sich gegen die drohende Arbeitslosigkeit zur Wehr zu setzen. Nach Angaben der Initiative wurden über 600.000 Menschen in den neuen Ländern durch Abwicklung oder Warteschleife ›ohne jeden Rechtsschutz ihres Arbeitsplatzes beraubt‹. Zugleich stelle das Gefühl des Nichtgebrauchtwerdens einen Angriff gegen die von der UNO verabschiedeten Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte dar.«

Germana Ernst räumte uns das Recht ein, den Sitzungsraum des Arbeitslosenverbandes in der Pettenkofer Straße zu benutzen. Nach den Pressemeldungen waren wir plötzlich gefragte Leute. Es meldeten sich Betroffene und Journalisten. Aber auch Horst van der Meer, der arbeitslose Herausgeber der IPW-Berichte (Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR; jW), meldete sich und bot uns an, über die Abwicklung der DDR zu schreiben. Das Angebot nahmen wir an. Das Buch entstand schnell. Bereits im Herbst 1991 wurde der Titel »Vom Industriestaat — zum Entwicklungsland?« in der Berliner Stadtbibliothek vorgestellt.

Für Wolfgang Richter waren die ersten Ermutigungen für die »Initiativgruppe Abwicklung« Anlass, dem Aufruf »Für Recht und Würde« seine Anonymität zu nehmen. Er schlug vor, Prominente als Unterstützer zu gewinnen. Nur so werde es den verunsicherten Betroffenen erleichtert, sich mit dem Aufruf zu solidarisieren. Diese Überlegung, der ich anfangs skeptisch gegenüberstand, sollte sich als richtig erweisen. Schnell bekamen wir prominente Unterschriften aus dem In- und Ausland: von Heidrun Hegewald und Käthe Reichel (beide Berlin), Gilbert Badia (Paris) und vielen anderen. Auch aus den Altländern wurde uns Ermutigung zuteil. Zu nennen sind der Politologe Fritz Vilmar von der Freien Universität in Berlin-Dahlem und Kuno Füssel, Theologe in Münster. Nun hatte der Aufruf ein Echo, das wir kurz zuvor nicht für möglich gehalten hatten. Er wurde in über einer Million Exemplaren gedruckt bzw. nachgedruckt und bei Demonstrationen verteilt. Im In- und Ausland wurde er als Beleg für die miese Qualität der Herstellung der deutschen Einheit angeführt.

Bewegung wie im Bienenstock

Mir selbst fehlt aus jener Zeit ein Stück konkrete Anschauung, weil ich Ende April 1991 zu einer Gastprofessur nach Montreal flog. Ich nahm den Aufruf »Für Recht und Würde« mit über den Großen Teich und verteilte ihn in Kanada und in den USA an bestimmte Persönlichkeiten, denn dort war auf Schritt und Tritt die verfälschende Auslandspropaganda von einer idyllischen deutschen Einheit zu spüren. Nun blieb ich auf Post aus Berlin angewiesen. Am 27. Mai kam der erste Brief von Wolfgang Richter. Er berichtete über den erfolgreichen Fortgang der Aktion, war aber sehr enttäuscht über die Redaktion der Weltbühne, die ihn zwar aufgefordert hatte, über die »Initiativgruppe Abwicklung« einen Artikel zu schreiben, dann jedoch den Abdruck verweigerte. Seine Sicht auf die deutsche Innenpolitik sei zu scharf, ließ die Redaktion, bestehend aus knieweichen Linken und feigen Leuten, durchblicken. Im Juli 1993 stellte die traditionsreiche Wochenschrift ihr Erscheinen ein. Erst einige Jahre danach fand sie mit dem Ossietzky im Westen und dem Blättchen im Osten gleich zwei Nachfolger.

Wolfgang Richter teilte mir auch mit, dass die Organisationsform der »Initiativgruppe« nicht mehr ausreiche. Zu viele hätten sich auch in anderen Städten inzwischen zur Mitarbeit bereitgefunden. Das zwinge zur Gründung einer Gesellschaft. Sein nächster Brief vom 15. Juni 1991 hatte bereits einen Kopf: »Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. (i. G.)« und daneben das Logo GBM. Die Fußzeile im Kleindruck nannte unser Postschließfach 627 und das Spendenkonto bei der Sparkasse der Stadt Berlin-West. Keine Adresse.

Wolfgang Richter schrieb, dass die GBM am Tag zuvor bereits ihre zweite Pressekonferenz veranstaltet habe. Das Presseecho sei gut gewesen, auch Fernsehsender hätten berichtet. Die GBM habe zusammen mit dreizehn Organisationen eine Presseerklärung abgegeben, sie werde an 662 Bundestagsabgeordnete mit einem Anschreiben verschickt. Richter weiter: »Man muss es im großen Stil machen, oder man muss es sein lassen; aber Du kannst Dir vorstellen, dass es viel Arbeit ist und ich mich vielleicht im Gegensatz zu Dir freue, wenn Du wieder zu Hause bist, und das heißt — mitmachst. Das nächste Mal soll ich dort (beim Marzahner Kreis der Pfarrerin Renate Schönfeld, S. P.) reden: ›Was ist Menschenwürde?‹«

Mitte August 1991 kam ich zurück. Die GBM hatte zwei Büroräume in der Linienstraße zur vorerst kostenlosen Nutzung vom Mieterbund zur Verfügung gestellt bekommen. Das Büro war ständig besetzt. Bewegung wie in einem Bienenstock. Täglich trafen Briefe ein, darunter viele von jenen, die vom Rentenstrafrecht betroffen waren, manchen hatte ein Fernsehauftritt Fritz Vilmars zum Widerstand angeregt. Die GBM nahm Kurs auf eine Klage beim Bundesverfassungsgericht. Dazu kamen die von Wolfgang Richter geleiteten Beratungen des Autorenkollektivs für ein Weißbuch »Unfrieden in Deutschland«, das auch Selbstmorde dokumentieren sollte. Wer wusste schon von der Selbstverbrennung einer Ärztin im Erzgebirge? Die Presse, die seinerzeit über Pastor Oskar Brüsewitz berichtet hatte, verschwieg diesen Suizid absichtsvoll.

Viele neue Mitstreiter waren plötzlich da, darunter die einstige Schiffsärztin der »Völkerfreundschaft« Christa Anders, bekannte Wissenschaftler wie Friedrich Jung, Adolf Kossakowski und Samuel Mitja Rapoport sowie der Sozial­experte Fritz Rösel. Zu nennen ist an dieser Stelle auch Ernst Bienert. Rösel und Bienert berieten Vorruheständler und Rentner, die vom Rentenstrafrecht betroffen waren. Ihrem Wirken ist der schnelle Mitgliederzuwachs der GBM zu verdanken. Zu erinnern ist auch an Ursula Schönfelder, die etwas später in der GBM aktiv wurde. Sie hatte früher im Audimax der Humboldt-Universität als junge Frau sehr souverän vor 600 Studenten die Vorlesung über den dialektischen Materialismus gehalten.

Der Anfang war gemacht. Der Besatzermentalität wurde endlich Widerstand entgegengesetzt, und die Interessen von Ostdeutschen wurden artikuliert.

Gegen den Antikommunismus

In meinen »Tagesnotizen« steht mit Datum vom 12. Juli 1992: »Das ›Ostdeutsche Memorandum‹ ist auf den Weg gebracht. Uff? Nun werden wir sehen, wie es weitergeht. Pfarrer Dr. Frielinghaus stellte es vor. Wolfgang Harich versuchte zwar für eine KPD Propaganda zu machen. Er schlug aber auch die Gründung einer ›Alternativen Enquetekommission Deutsche Geschichte‹ vor. Diestel und Gysi planen in einer parallelen Veranstaltung, Komitees für Gerechtigkeit zu gründen.«

Ich ahnte nicht, dass dieser Tag der Anfang einer engen Beziehung zu Wolfgang Harich, diesem bedeutenden DDR-Dissidenten, werden sollte. Ich traf ihn im Haus der Demokratie in der Friedrichstraße 165. Ostdeutsche Verbände berieten darüber, wie die tiefe Krise im Osten überwunden werden sollte, die 1992 allenthalben spürbar war. Neben mir saß ein alter Mann mit schlohweißem Haar, eine christusähnliche Gestalt. Plötzlich stand er auf, gab mir die Hand und sagte seinen Namen. Ich reichte ihm meine Visitenkarte. Danach schob er mir einen Zettel zu, auf dem er seine Telefonnummer notiert hatte.

Von diesem Tage an rief Harich bis zu dreimal täglich bei mir an. Immer hatte er Fragen. Ich spürte: Dieser Mann litt unter der Isolierung, in der er sich seit Entlassung aus dem Gefängnis im Jahre 1964 befand. Er hatte Fragen, die noch immer um seine Verhaftung im Jahre 1956 kreisten. Er wollte sein Verhalten vom Zeithistoriker eingeordnet wissen. Seine Wut auf Ulbricht konnte er immer noch nicht verbergen. Aber er war sich da keineswegs sicher. Schließlich hatte ihm schon Spiegel-Chef Rudolf Augstein bei einem Treffen im November 1956 in Hamburg vorgeworfen, unter einer Ulbricht-Phobie zu leiden. Ich wurde wohl oder übel gezwungen, mich tief in Harichs Lebensgeschichte einzuarbeiten.

Zunächst stand aber die ganz einfache Frage im Mittelpunkt, wie sich ostdeutsche Verbände gegenüber dem antikommunistischen Zeitgeist verhalten sollten. Klar war, dass es um die Versachlichung der Geschichtsdebatte gehen musste.

Harichs Vorschlag, eine Alternative Enquetekommission (AEK) zu bilden, fand Anklang. Sie sollte die Antwort sein auf die im März 1992 vom Bundestag beschlossene Enquetekommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Dieser gehörten 16 Bundestagsabgeordnete, entsprechend dem Parteiproporz im Parlament, und elf externe Sachverständige an, Leiter der Kommission wurde der ehemalige DDR-Pfarrer Rainer Eppelmann (CDU), für den eine Aufgabe gesucht worden war. Der ideologisch motivierte Auftrag war klar.

Harich wurde nach langem Hin und Her als Vorsitzender der AEK gewählt, der namhafte ostdeutsche Historiker Walter Markov wurde Ehrenvorsitzender. Im Februar 1993 legte die Alternative Enquetekommission im Journal der GBM ihre erste geschlossene Publikation vor. Darin befand sich auch ihre Konzeption »Die Alternative Enquetekommission Deutsche Zeitgeschichte. Ihr Selbstverständnis und ihre Aufgaben«.

Alternative Enquetekommission

Die Alternative Enquetekommission trat an, um die Geschichtsdebatte zu versachlichen. An die Stelle der praktizierten Einseitigkeit setzte sie die Mehrdimensionalität und die Differenzierung. Es ging ihr um eine historisch-kritische Betrachtung der ganzen deutschen Zeitgeschichte. Dazu gehörte auch, sich kritisch mit dem politischen System der DDR auseinanderzusetzen. Bei der Aufarbeitung der deutschen Zeitgeschichte durften kein Thema und kein wesentlicher Fakt ausgespart bleiben.

Entschieden wandte sich Wolfgang Harich von Anfang an gegen jegliche Schönfärberei: »Kritik muss, wo immer sie am Platze ist, uneingeschränkt zum Zuge kommen, Fehlleistungen, gar Verbrechen, sind klar zu benennen. Kein Jota ist der Einsicht (…) abzuhandeln, dass wir uns in einer welthistorischen Sackgasse befunden haben und unser Sozialismus-Versuch von Anbeginn, international wie auch auf deutschem Boden, mit dem Geburtsfehler behaftet gewesen ist, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Erfolg um jeden Preis und zu früh, unter noch unreifen Bedingungen, zur Eintracht zwingen zu wollen.«

Besonders gut tat der AEK, dass Wolfgang Harich in jeder Phase der Arbeit auf Pluralismus bestand. Er lehnte nivellierende Erklärungen zu geschichtlichen Vorgängen durch die AEK ab. Es ging ihm immer um die Meinung des einzelnen AEK-Mitglieds. Auch lehnte er es ab, dass die PDS in der AEK allein das Sagen hatte. Im Gegenteil, er übte in Interviews starke Kritik etwa an Gregor Gysi, dem Kopf der PDS.

Besondere Bedeutung erhielt eine Veranstaltung Ende Mai 1994 im Berliner Ensemble unter dem Titel »Duell im Dunkeln«, die von Heiner Müller eröffnet wurde. Erstmals stellten sich die ehemaligen Geheimdienstchefs aus beiden deutschen Staaten Heribert Hellenbroich und Elmar Schmähling (Bundesrepublik), Werner Großmann und Markus Wolf (DDR) einer öffentlichen Diskussion. Zum Abschluss intonierte im Rahmen einer Brecht-Ehrung der Chor der Berliner Pädagogen unter Leitung von Hans-Eckardt Thomas die Brechtsche »Kinderhymne« zur Haydn-Melodie, was laut Protokoll »mit großem, langem Beifall bedacht« wurde. Gewertet wurde der Vorgang als Welturaufführung der neuen deutschen Nationalhymne.

Harich war zu dieser Veranstaltung mit seinem Arzt erschienen. Es war der Höhepunkt in seinem politischen Leben. Danach konnte er nicht mehr viel unternehmen, da ihn seine Krankheit ans Bett fesselte. Im Oktober 1994 trat er von seiner Funktion zurück und schlug mich für die Nachfolge vor.

Mittlerweile war die AEK bekannt geworden. Der Deutschlandfunk lud regelmäßig zu Geschichtsdebatten ein. Dabei lernte ich viele interessante Personen kennen: Wolfgang Benz, Wolfgang Leonhard, Jörg Friedrich und Wolfgang Seiffert. Organisiert hat diese Veranstaltungen Peter Joachim Lapp, dessen Sachlichkeit ich schätzenlernte. Wir blieben auch später weiter in Kontakt.

Im März 1995 starb Harich. Ich konzentrierte mich darauf, zum ersten Todestag 1996 ein Gedenkkolloquium zu organisieren. An diesem Kolloquium nahmen auch Rupert Neudeck und Gerhard Zwerenz teil, Wolfgang Leonhard äußerte sich in einem Telefoninterview zu seinem Treffen mit Harich im Jahre 1945.

Gegen Ignoranz und Dummheit

Am 3. Juni 1996 berichtete das ND darüber, dass die GBM eine Beschwerde über Menschenrechtsverletzungen im Einigungsprozess an die UNO auf den Weg gebracht habe. Aufgelistet wurden: Verletzungen des Diskriminierungsverbots, Fälle von Rentenstrafrecht, rückwirkende Strafverfolgung und Enteignungen. Diese Initiative wurde von den Komitees für Gerechtigkeit und von der Initiative gegen Berufsverbote unterstützt.

Zu erinnern ist auch an das Europäische Friedensforum, das im Zusammenhang mit der NATO-Aggression gegen Jugoslawien aktiv wurde und das Wirken der GBM im internationalen Rahmen ermöglichte.

Die Zeitschrift Icarus wurde 1994 von dem Theologen Kuno Füssel, von Uwe-Jens Heuer, Wolfgang Richter und mir gegründet. Sie war das wissenschaftliche und publizistische Organ der GBM und beschäftigte sich vor allem mit Fragen der sozialen Theorie, der Menschenrechte und der Kultur. Ständig verfolgt wurden die Aktivitäten des Freundeskreises »Kunst aus der DDR«, der sich innerhalb der GBM als aktiver ehrenamtlicher Zusammenschluss gebildet hatte. Seit Beginn des Jahres 2004 erschien die Zeitschrift dank der engagierten Mitarbeit des bekannten Graphikdesigners Rudolf Grüttner in einem neuen gestalterischen Gewand. Der Icarus wurde zu einem Periodikum, mit dem das wissenschaftliche und publizistische Potential der GBM, auch ihre stärkere Hinwendung zu kulturpolitischen Problemen, selbstbewusst und nachhaltig nicht nur zu ihren Mitgliedern, sondern auch in die Öffentlichkeit getragen wurde. Im Jahre 2017 stellte die GBM das Erscheinen des Icarus ein.

Die GBM-Galerie wurde schnell zur Heimat vieler DDR-Künstler, die in diesem Land nach Strich und Faden verleumdet wurden. Zu erinnern ist an Willi Sitte, Ronald Paris und Walter Womacka und viele andere. Zu erinnern ist auch an Peter Michel und Peter H. Feist, die hervorragende Eröffnungsreden zu Ausstellungen hielten und diese dann im Icarus veröffentlichten.

Nur auf eine Geschichte zum Thema GBM-Galerie sei hier verwiesen. Im Sommer 2001 wurde eine geplante Jubiläumsaustellung aus Anlass des 80. Geburtstages von Willi Sitte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom Verwaltungsrat kurzfristig verschoben, weil man Sittes Rolle als DDR-Kulturfunktionär erst noch genauer untersuchen wollte. Sitte sagte daraufhin die Ausstellung ab. Darüber informierte ich Ugo Winkler in Trient – ich hatte dort gerade als Gast der italienischen Kulturorganisation ARCI einen Vortrag gehalten. Es dauerte nicht lange, da meldete sich ein Vertreter von ARCI aus Rom bei mir. Ergebnis: Kurz danach saß Tom Benetollo, Präsident von ARCI, am Tisch von Wolfgang Richter. Willi Sitte bekam eine Vernissage in Mailand. Dabei konnte auch daran erinnert werden, dass Sitte im Zweiten Weltkrieg zu den italienischen Partisanen gestoßen war. Mit Verwunderung hörte ich in dieser Zeit einen Kommentar im Deutschlandfunk, der die Dummheit des Nürnberger Verwaltungsrates kritisch beleuchtete.

Es könnte noch viel zum Wirken der GBM in den letzten drei Jahrzehnten gesagt werden. Hinzuweisen wäre auch auf die GBM-Organisationen in anderen Städten. Ich erhielt Einladungen nach Frankfurt (Oder), Halberstadt und Rostock. Eine besondere Aktivität entfaltete Dieter Siegert in Chemnitz, wohin Gerhard Fischer und ich mehrmals zu Vorträgen eingeladen wurden.

Wenn ich heute zu einer Gesamtbewertung kommen wollte, würde ich am liebsten Wolfgang Richter danach fragen. Ich habe keine Zweifel – wir beide hatten uns 1990/91 einiges erhofft – die GBM hat in den drei Jahrzehnten ihres Wirkens unsere damaligen Vorstellungen um ein Vielfaches übertroffen. Ich wüsste auch, was er antworten würde, wenn ich ihn nach dem aktuellen Rüstungsrausch der Herrschenden fragen würde.

Siegfried Prokop war von 1983 bis 1996 an der Berliner Humboldt-Universität Hochschullehrer und ist Autor zahlreicher Publikationen zur DDR-Geschichte.

Zuerst erschienen bei junge Welt am 15.12.2022