Kriminalisierter Antimilitarismus – Maulkorburteil für Kriegsgegner

Von Rüdiger Göbel

Friedensaktivist soll wegen Gedenkrede am Sowjetischen Ehrenmal hohe Geldstrafe zahlen

Entsetzen bei der Berliner Friedenskoordination, wenn auch keine Überraschung: Während Protestaktionen vor dem Kanzleramt für die Lieferung von »Leopard«-Kampfpanzern in die Ukraine beste Sendezeit bekommen, werden Kriegsgegner kriminalisiert. In den vergangenen Tagen hat die Justiz im rot-grün-rot regierten Berlin den Friedensaktivisten Heiner Bücker, Betreiber des »Coop Anti- War Cafés«, zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 2.000 Euro verurteilt, ersatzweise 40 Tage Haft, plus Übernahme der Verfahrenskosten. Der Vorwurf lautet auf »Belohnung und Billigung von Straftaten« nach Paragraph 140 Strafgesetzbuch. Die Begründung mit Verweis auf das »psychische Klima in der Bevölkerung« ist hanebüchen.

Die hauptstädtische Staatsanwaltschaft und Richter Pollmann am Amtsgericht Tiergarten sehen den »öffentlichen Frieden« gestört durch eine Rede, die Bücker bei einer Kundgebung der Friedenskoordination anlässlich des 81. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 2022 am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow gehalten hat. In der rund 15 Minuten langen, ruhig vorgetragenen Rede zeigte Bücker, der Mitglied in der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke sowie in der antifaschistischen Organisation VVN-BdA ist, die historische Entwicklung zum heutigen Krieg in der Ukraine auf. Er schilderte ausführlich die Folgen des verbrecherischen Vernichtungskrieges von Hitler-Deutschland für die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten sowie das Ausmaß der damaligen Kollaboration ukrainischer Faschisten mit den deutschen Besatzern, denen heute allerorten Denkmäler errichtet werden.

Angesichts dieses historischen Kontextes erklärte Bücker schließlich sein vollkommenes Unverständnis darüber, dass die Bundesregierung den Krieg mit Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland weiter eskaliert. Bücker forderte: »Nie wieder dürfen wir als Deutsche an einem Krieg gegen Russland in irgendeiner Form beteiligt sein. Wir müssen uns zusammenschließen und uns diesem Irrsinn gemeinsam entgegenstellen.« Man müsse »offen und ehrlich versuchen, die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen und warum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland die Regierung und ihren Präsidenten Wladimir Putin darin unterstützen«. Und Bücker bekannte: »Ich persönlich will und kann die Sichtweise in Russland und die des russischen Präsidenten sehr gut nachvollziehen. Ich hege kein Misstrauen gegen Russland, denn der Verzicht auf Rache gegen Deutsche und Deutschland bestimmte seit 1945 die sowjetische und danach die russische Politik.«

Das Amtsgericht Berlin wirft Bücker vor, mit seiner Rede »dem völkerrechtswidrigen Überfalls Russland (sic!) auf die Ukraine, um dessen Rechtswidrigkeit Sie wussten«, zugestimmt und damit das in Paragraph 138 Absatz 1 Nummer 5 angeführte »Verbrechen der Aggression (Paragraph 13 des Völkerstrafgesetzbuches)« gebilligt zu haben, »in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören«. Weiter heißt es in dem jW vorliegenden Strafbefehl wörtlich: »Ihre Rede hat – wie Sie jedenfalls billigend in Kauf nahmen – angesichts der erheblichen Konsequenzen, die der Krieg auch für Deutschland nach sich zieht, der Drohungen seitens der russischen Staatsführung konkret gegenüber Deutschland als NATO-Mitglied für den Fall der Unterstützung der Ukraine und nicht zuletzt angesichts der Präsenz Hunderttausender Menschen aus der Ukraine, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben, das Potential, das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern und das psychische Klima in der Bevölkerung aufzuhetzen.«

Die Friedenskoordination Berlin warnt, die Verfolgung Bückers ziele darauf ab, »die politische Debatte immer weiter einzuengen und per Strafgesetz eine Kritik an der herrschenden Politik und den Medien unmöglich zu machen«. Setze sich die Hauptstadtjustiz mit ihrem Vorgehen durch, bedeute dies für die Friedensbewegung in letzter Konsequenz, »dass sie mundtot gemacht werden kann, wenn sie sich weiterhin gegen den Kriegskurs der deutschen Politik und für eine Deeskalation und für Verhandlungen ausspricht«.

Bücker und sein Verteidiger haben Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt.

Zuerst erschienen in der jungen Welt am 24.01.2023

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Vernichtungskrieg der Nazis – »Wir werden nicht vergessen!«

Heiner Bücker

81 Jahre nach dem Naziüberfall auf die UdSSR unterstützt Deutschland erneut faschistische Kreise in der Ukraine

junge Welt dokumentiert die Rede, die Heiner Bücker bei der Gedenkkundgebung der Berliner Friedenskoordination am 22. Juni 2022 am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park anlässlich des Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion gehalten hat.

Der Deutsch-Sowjetische Krieg begann heute vor 81 Jahren am 22. Juni 1941 mit dem sogenannten Unternehmen Barbarossa. Ein Raub- und Vernichtungskrieg gegen die UdSSR von unvorstellbarer Grausamkeit. In der Russischen Föderation wird der Krieg gegen Deutschland als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet. Bis zur Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 starben ca. 27 Millionen Bürger der Sowjetunion, die Mehrheit davon Zivilisten. Nur zum Vergleich: Deutschland verlor weniger als 6.350.000 Menschen, 5.180.000 davon Soldaten. Es war ein Krieg, der, wie das faschistische Deutschland erklärte, gegen den »jüdischen Bolschewismus« und die »slawischen Untermenschen« gerichtet war.

Heute, 81 Jahre nach diesem historischen Datum des faschistischen Angriffs auf die Sowjetunion, unterstützen Deutschlands führende Kreise wieder dieselben rechtsradikalen und russophoben Gruppen in der Ukraine, mit denen wir bereits während des Zweiten Weltkriegs kooperiert haben. Diesmal gegen Russland. Ich möchte aufzeigen, welches Ausmaß an Scheinheiligkeit und Lügen von den deutschen Medien und Politikern betrieben wird, wenn jetzt eine noch stärkere Bewaffnung der Ukraine propagiert und die völlig unrealistische Forderung aufgestellt wird, die Ukraine müsse den Krieg gegen Russland gewinnen, oder zumindest dürfe die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren – während immer weitere Sanktionspakete gegen Russland verabschiedet werden.

Das im Frühjahr 2014 durch einen Putsch in der Ukraine installierte rechtsradikale Regime hat intensiv daran gearbeitet, eine faschistische Ideologie in der Ukraine zu verbreiten. Der Hass gegen alles Russische wurde permanent genährt und hat immer mehr zugenommen. Die Verehrung rechtsextremer Bewegungen und ihrer Führer, die mit den deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg zusammenarbeiteten, hat immens zugenommen. Beispielsweise für die paramilitärische Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die den deutschen Faschisten bei der Ermordung Abertausender Juden half, und für die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die Zigtausende von Juden und andere Minderheiten ermordet hat. Die Pogrome richteten sich übrigens auch gegen ethnische Polen, sowjetische Kriegsgefangene und pro-sowjetische Zivilisten. Insgesamt kamen 1,5 Millionen, ein Viertel aller im Holocaust ermordeten Juden, aus der Ukraine. Sie wurden von deutschen Faschisten und ihren ukrainischen Helfern und Helfershelfern verfolgt, gejagt und brutalst ermordet.

Seit 2014, seit dem Putsch, wurden in erstaunlichem Tempo Denkmäler für Nazikollaborateure und Holocausttäter errichtet. Es gibt inzwischen Hunderte Denkmäler, Plätze und Straßen zu Ehren von Nazikollaborateuren – so viele, wie in keinem einzigen anderen Land in Europa. Eine der wichtigsten Personen, die in der Ukraine verehrt werden, ist Stepan Bandera. Der 1959 in München ermordete Bandera war ein rechtsradikaler Politiker und Nazikollaborateur, der eine Fraktion der OUN anführte. 2016 wurde ein Kiewer Boulevard nach Bandera benannt. Besonders obszön deshalb, weil diese Straße nach Babi Jar führt, zu der Schlucht am Stadtrand von Kiew, an der deutsche Nazis mit Unterstützung ukrainischer Kollaborateure in zwei Tagen weit über 30.000 Juden in einem der größten Einzelmassaker des Holocaust ermordeten. In zahlreichen Städten gibt es Denkmäler auch für Roman Schuchewitsch, ein weiterer wichtiger Nazikollaborateur, der die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) befehligte, verantwortlich für die Ermordung von Tausenden Juden und Polen. Nach ihm wurden auch Dutzende von Straßen benannt.

Eine weitere wichtige, von den Faschisten verehrte Person ist Jaroslaw Stezko, der 1941 die sogenannte Unabhängigkeitserklärung der Ukraine verfasste und die deutsche Wehrmacht willkommen hieß. Stezko versicherte in Briefen an Hitler, Mussolini und Franco, dass sein neuer Staat ein Teil von Hitlers neuer Ordnung in Europa sei. Außerdem erklärte er: »Moskau und die Juden sind die größten Feinde der Ukraine.« Kurz vor der Naziinvasion versicherte Stezko (dem OUN-B-Führer) Stepan Bandera: »Wir werden eine ukrainische Miliz organisieren, die uns helfen wird, die Juden zu entfernen.« Er hielt Wort – die deutsche Besatzung der Ukraine wurde von schrecklichen Pogromen und Kriegsverbrechen begleitet, an denen die OUN-Nationalisten teils führend beteiligt waren. Nach dem Krieg lebte Stezko bis zu seinem Tod in München, von wo aus er Kontakte mit vielen Resten nationalistischer oder faschistischer Organisationen wie zum Beispiel aus dem Taiwan Chiang Kai-sheks, aus Francospanien und Kroatien aufrechterhielt. Er wurde Präsidiumsmitglied in der World Anti-Communist League.

Es gibt auch eine Gedenktafel für Taras Bulba-Borowez, den von den Nazis ernannten Anführer einer Miliz, die zahlreiche Pogrome durchführte und viele Juden ermordete. Und es gibt eine Reihe weiterer Denkmäler für ihn. Nach dem Krieg ließ er sich, wie viele Nazikollaborateure, in Kanada nieder, wo er eine ukrainischsprachige Zeitung leitete. In der kanadischen Politik gibt es viele Unterstützer der Nazi-Ideologie Banderas. Es gibt auch einen Gedenkkomplex und ein Museum für Andrij Melnyk, Mitbegründer der OUN, der ebenfalls aufs engste mit der Wehrmacht zusammenarbeitete. Der deutsche Einmarsch in die Ukraine 1941 wurde mit Spruchbändern und Proklamationen wie »Ehre Hitler! Ehre sei Melnyk!« zelebriert. Nach dem Krieg lebte er in Luxemburg und war eine feste Größe in ukrainischen Diasporaorganisationen.

Jetzt, 2022, fordert sein Namensvetter Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland, immerfort mehr schwere Waffen. Melnyk ist ein glühender Bewunderer Banderas, an dessen Grab er in München Blumen niederlegte und dies sogar stolz auf Twitter dokumentierte. In München leben überdies viele Ukrainer, die sich regelmäßig am Grab Banderas versammeln. All dies sind nur einige wenige Ausschnitte des faschistischen Erbes der Ukraine. In Israel weiß man darum und schließt sich vielleicht auch deshalb den massiven antirussischen Sanktionen nicht an.

Der Präsident der Ukraine, Selenskij, wird in Deutschland hofiert und im Bundestag willkommen geheißen. Sein Botschafter Melnyk ist häufiger Gast in deutschen Talkshows und Nachrichtensendungen. Wie eng die Verbindungen zwischen dem jüdischen Präsidenten Selenskij und dem faschistischen Asow-Regiment sind, zeigte sich beispielsweise, als Selenskij bei einem Videoauftritt vor dem griechischen Parlament auch rechtsradikale Asow-Kämpfer zu Wort kommen ließ. In Griechenland verwehrten sich die meisten Parteien gegen diesen Affront. Sicherlich verehren nicht alle Ukrainer diese menschenverachtenden faschistischen Vorbilder, aber ihre Anhänger sind in großer Anzahl in der ukrainischen Armee, in den Polizeibehörden, im Geheimdienst und in der Politik vertreten. Weit über 10.000 russischsprachige Menschen haben wegen diesem von der Regierung in Kiew angestacheltem Hass gegen Russen seit 2014 im Osten der Ukraine in der Donbass-Region ihr Leben verloren. Und jetzt, in den letzten Wochen, nehmen die Angriffe gegen Donezk im Donbass nochmals massiv zu. Es gibt Hunderte Tote und Schwerstverletzte.

Mir ist unbegreiflich, dass die deutsche Politik wieder dieselben russophoben Ideologien unterstützt, auf deren Basis das Deutsche Reich 1941 willige Helfer vorfand, mit denen man eng kooperierte und gemeinsam mordete. Alle anständigen Deutschen sollten vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, der Geschichte von Millionen ermordeter Juden und Abermillionen ermordeter sowjetischer Bürger im Zweiten Weltkrieg, jegliche Zusammenarbeit mit diesen Kräften in der Ukraine zurückweisen. Auch die von diesen Kräften in der Ukraine ausgehende Kriegsrhetorik müssen wir vehement zurückweisen. Nie wieder dürfen wir als Deutsche an einem Krieg gegen Russland in irgendeiner Form beteiligt sein. Wir müssen uns zusammenschließen und uns diesem Irrsinn gemeinsam entgegenstellen.

Wir müssen offen und ehrlich versuchen, die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen und warum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland ihre Regierung und ihren Präsidenten darin unterstützen. Ich persönlich will und kann die Sichtweise in Russland und die des russischen Präsidenten Wladimir Putin sehr gut nachvollziehen. Ich hege kein Misstrauen gegen Russland, denn der Verzicht auf Rache gegen Deutsche und Deutschland bestimmte seit 1945 die sowjetische und danach auch die russische Politik. Auch die Menschen in Russland hegten bis vor kurzem zumindest keinen Groll gegen uns, obwohl fast jede Familie Kriegstote zu beklagen hat. Bis vor kurzem konnten die Menschen in Russland zwischen Faschisten und der deutschen Bevölkerung differenzieren. Aber was geschieht jetzt? Alle mühsam aufgebauten freundschaftlichen Beziehungen drohen jetzt abzureißen, ja, sie werden potentiell zerstört.

Die Russen wollen ungestört in ihrem Land und zusammen mit anderen Völkern leben – ohne ständig von westlichen Staaten bedroht zu sein, weder durch den unablässigen militärischen Aufmarsch der NATO vor Russlands Grenzen, noch indirekt durch den hinterhältigen Aufbau eines Anti-Russlands in der Ukraine unter Ausnutzung historischer nationalistischer Irrtümer. Es geht also zum einen um die schmerzliche und beschämende Erinnerung an den so ungeheuerlichen wie grausamen Vernichtungskrieg, den das faschistische Deutschland der gesamten Sowjetunion, vor allem der ukrainischen, der belarussischen und der russischen Republik angetan hat. Zum anderen um das ehrende Gedenken der Befreiung Europas und auch Deutschlands vom Faschismus, die wir den Völkern der UdSSR verdanken, einschließlich der daraus erwachsenden Verpflichtung, für eine gedeihliche, vernünftige und friedliche Nachbarschaft mit Russland in Europa einzustehen. Damit verbinde ich, Russland verstehen und dieses Russland-Verstehen (wieder) politisch wirksam zu machen.

Wladimir Putins Familie überlebte die Blockade Leningrads, die ab September 1941 etwa 900 Tage andauerte und über eine Million Tote kostete. Die meisten Menschen verhungerten. Die totgeglaubte Mutter Putins wurde bereits abtransportiert, als der verletzt nach Hause zurückkehrende Vater bemerkt haben soll, dass seine Frau noch atmete. Er rettete sie dann vor dem Abtransport in ein Massengrab.

Dies alles müssen wir verstehen und heute gedenken und uns auch in großer Ehrerbietung vor dem sowjetischen Volk verneigen. Vielen Dank.

Zuerst erschienen in der jungen Welt am 24.01.2023