Von Rainer Rupp
Angeblich als Reaktion auf eine vermeintliche Drohung Russlands, seine baltischen Nachbarn Estland, Lettland und Litauen zu überfallen, haben die USA und die NATO nicht nur die massive Bereitstellung schwerer Waffen vor der russischen »Haustür« und die Aufstockung ihrer »schnellen Eingreiftruppe« auf 40.000 Soldaten beschlossen. In einer deutlichen Eskalation des neuen Kalten Krieges sind in den USA auch Vorbereitungen im Gang, neue atomare Mittelstreckenraketen an Russlands Grenzen zu stationieren.
Brian McKeon, stellvertretender Staatssekretär für Verteidigungspolitik im Pentagon, informierte bereits im Dezember 2014 US-Politiker, dass die Vereinigten Staaten in Erwägung ziehen, neue bodengestützte Marschflugkörper (Cruise Missiles) in Europa zu stationieren. Solche Waffen sind seit dem Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) aus dem Jahr 1987 verboten. In dem bilateralen Abkommen, das das Ende des Kalten Krieges einleitete, legten die USA und die Sowjetunion fest, dass beide Seiten weltweit sowohl ihre landgestützten Nuklearraketen mit kürzerer (500–1.000 Kilometer ) und mittlerer Reichweite (1.000–5.500 Kilometer) als auch deren Abschussvorrichtungen und die bereitgestellte Infrastruktur innerhalb von drei Jahren vernichten und nichts davon neu herstellen.
Dessen ungeachtet schlug auch Robert Scher, US-Staatssekretär für Verteidigungsstrategie und militärische Planung, am 15. April dieses Jahres bei seiner Anhörung vor dem Streitkräfteausschuss des Repräsentantenhauses in die gleiche Kerbe. Er behauptete, Moskau verstoße durch angebliche Tests eines neuen Marschflugkörpers gegen den INF-Vertrag und präsentierte anschließend einige Optionen gegen Russland, wozu auch die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags gehörte.
Anfang Juni bestätigte Pentagon-Sprecher Oberstleutnant Joe Sowers, dass die Administration von Präsident Barack Obama dabei sei, »eine Reihe von potentiellen militärischen Antworten auf Russlands anhaltende Verletzung des INF-Vertrags zu erwägen«. Am 5. Juni schließlich kam Verteidigungsminister Ashton Carter zu einem Blitzbesuch ins US-Hauptquartier in Stuttgart. Dort habe er, so die Agentur AFP unter Berufung auf offizielle Quellen im Pentagon, mit hohen Kommandeuren und Diplomaten die nuklearen Optionen der USA gegen Russland besprochen. Letztere dürften kaum von denen abweichen, die Scher, der Carters Berater in Nuklearfragen ist, in seiner 50 Minuten langen Kongressanhörung ausgebreitet hatte. Dabei sprach er von drei Optionen: »Erstens könnten wir die Orte in Europa, die bei einem (russischen) Verstoß gegen den INF-Vertrag von (den neuen) Raketen erreicht werden können, aktiv verteidigen«, so Scher, der dabei offensichtlich an den Aufbau eines umfassenden NATO-Gürtels von Raketenabwehrraketen denkt. »Zum anderen überlegen wir, ob es uns gelingen könnte, die Raketen in ihren Basen in Russland anzugreifen«, also bevor sie abgefeuert werden. »Und drittens gehen wir von der Überlegung aus, dass es nicht nur darum geht, diese Kapazitäten (die Raketen auf ihren Basen in Russland) anzugreifen, sondern dass wir darüber hinaus auch prüfen sollten, welche anderen Ziele wir innerhalb Russlands bedrohen könnten. Wir sind noch dabei herauszufiltern, was am wirkungsvollsten wäre«, so Scher vor dem Ausschuss.
Da es bei der Kongressanhörung ausschließlich um die US-Atomwaffenpolitik ging und Scher in der Diskussion den Begriff »Counterforce« benutzte, der im Fachjargon nichts anderes als »vorbeugender Schlag« bedeutet, liegt der Schluss nahe, dass es sich bei den vorgeschlagenen Optionen zwei und drei um präventive nukleare Angriffe auf russische Raketenbasen und sonstige Ziele handelt. Minister Carter hatte bereits im Februar, dieses Mal vor dem Streitkräfteausschuss des US-Senats, für die gleichen Optionen geworben, wenn auch weniger explizit als sein Staatssekretär.
Diese Strategie der US-Drohungen mit nuklearen Präventivschlägen hatte die Welt schon einmal in den atomaren Abgrund blicken lassen: Die NATO hatte im November 1983 in dem streng geheimen Manöver »Able Archer« einen Atomkrieg simuliert. Moskau befürchtete einen Nuklearangriff des Westens und war zu Gegenschlägen bereit. Wenige Wochen zuvor, Ende September, hatte es eine Fehlfunktion des sowjetischen Raketenfrühwarnsystems gegeben. Dem sowjetischen Militär wurde fälschlich ein Angriff mit fünf Interkontinentalraketen vom Gebiet der USA aus gemeldet. Das besonnene Handeln eines Oberstleutnants verhinderte im letzten Moment einen nuklearen Gegenschlag.
Erschienen in der Tageszeitung “junge Welt” vom 26.06.2015