Übereifrige Schlapphüte

“junge Welt” vom 01.10.2013 / Inland / Seite 4/


Berufsgeheimnisträger gezielt bespitzelt. Auch ein Rechtsanwalt im Visier des niedersächsischen Verfassungsschutzes.

Von Reimar Paul.

Die Datensammelwut des niedersächsischen Verfassungsschutzes kannte unter der Verantwortung des ehemaligen Innenministers Uwe Schünemann (CDU) offenbar kaum Grenzen. Neben mindestens sieben Journalisten und einer Grünen-Politikerin hatte der Geheimdienst wohl auch den Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam beobachtet und über ihn eine Akte angelegt. »Nach dem ersten Schock kann ich mich jetzt einfach nur noch wundern«, sagte der Jurist am Montag. Es sei »schon beachtlich, mit welcher Selbstverständlichkeit diese Behörde zwischenzeitlich rechtsstaatliches Terrain verlassen hat«.

Das Ausmaß und die Dauer seiner Überwachung seien bislang nicht bekannt, sagte Adam weiter. Er habe deshalb ein »Auskunftsersuchen in eigener Sache« gestellt und fordere Einblick in die »vermeintlichen Erkenntnisse«, die der Verfassungsschutz offenbar über ihn gesammelt habe. Dieser nahm zu Adams Vorwurf am Montag nicht konkret Stellung. Seine Behörde dürfe zu einzelnen Personen in der Öffentlichkeit nichts sagen, erklärte Sprecher Frank Rasche. Der Anwalt werde eine Antwort auf sein Auskunftsersuchen erhalten. Er müsse dann selbst entscheiden, ob er mit diesen Informationen an die Öffentlichkeit gehe oder nicht.

Pikant an dem neuen Fall: Adam vertritt mehrere Journalisten, die selbst vom Verfassungsschutz beobachtet wurden und sich nun juristisch gegen ihre Überwachung wehren. Unter ihnen sind die freie Journalistin und Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke und der Göttinger Hörfunk-Redakteur Kai Budler.

Daß das Landesamt für Verfassungsschutz Budler über Jahre bespitzelte, war bereits 2011 aufgeflogen. Der Geheimdienst hatte damals eingeräumt, daß er seit 1997 »Erkenntnisse« über Budler sammelte. Dazu zählte auch das Beschäftigungsverhältnis des Journalisten – Budler war schon seit etwa zehn Jahren fest angestellter Redakteur des Göttinger Lokalradios. Die Anwesenheit bei Demonstrationen – als Reporter, wie der Betroffene betont – registrierte der Verfassungsschutz ebenfalls.

Röpkes Überwachung ist seit knapp zwei Wochen bekannt. Über sie habe der Verfassungsschutz nach Auskunft seiner jetzigen Präsidentin Maren Brandenburger (SPD) sechs Jahre lang Informationen gesammelt. Nach Eingang eines Auskunftsbegehrens Anfang 2012 wurden die Daten aber gelöscht – und die Journalistin über die Tatsache der Überwachung offenbar belogen. Röpke erhielt nämlich die Auskunft, sie sei nicht im Visier. Daß dem nicht so wäre, teilte ihr Brandenburger am 18. September am Telefon mit. Außer Röpke seien in mindestens sechs weiteren Fällen Personendaten von Journalisten vom Verfassungsschutz unzulässig gespeichert worden, sagte Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD). Die Datenspeicherung sei wegen fehlenden Bezugs zum Extremismus oder auch wegen mangelnder Relevanz nicht gerechtfertigt gewesen. Auch über die Grünen-Politikerin Julia Amthor wurden jahrelang Daten gesammelt. Sie ist persönliche Mitarbeiterin der Landtagsabgeordneten und Landesparteichefin Julia Willie Hamburg. Pistorius kündigte am vergangenen Freitag an, die Arbeit der Behörde auf den Prüfstand zu stellen. Von dieser Woche an sollen alle zu rund 9000 Personen in Niedersachsen gespeicherten Datensätze unter die Lupe genommen werden.

Der Spiegel berichtete am Wochenende überdies, daß sogar noch mehr als die bisher bekannte Zahl von Journalisten illegal beobachtet wurden. Demzufolge stießen Mitarbeiter bei behördeninternen Recherchen auf sieben weitere Journalisten, zu denen es Einträge gab. Zu den neuen Fällen soll André Aden gehören, der überwiegend als Fotograf arbeitet – unter anderem für das Netzwerk »Recherche Nord«, einen Zusammenschluß von Journalisten, die das rechtsextreme Milieu durchleuten.

Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) kritisierte am Montag »jede nachrichtendienstliche Erfassung von Berufsgeheimnisträgern wie Rechtsanwälten und Journalisten«. Diese Gruppen seien bekanntlich durch die Verfassung besonders geschützt. Das gelte insbesondere für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die sich engagiert mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen auseinandersetzen. »Daß der frühere Innenminister Schünemann solch ein Vermächtnis hinterlassen hat«, sagte der RAV-Vorsitzende Martin Heimig, »paßt erneut in das inzwischen sattsam bekannte Tätigkeitsprofil des Verfassungsschutzes, daß er wieder einmal nicht die Rechtsextremen im Visier hat, sondern diejenigen, die sich ihrerseits gegen neofaschistische Strukturen engagieren.«

 

Originalartikel “junge Welt” vom 01.10.2013