Die Einschätzungen westlicher “Experten” über Strategie und Taktik der russischen Kriegsführung im Donbass haben sich letztlich alle als falsch erwiesen. Die einen haben wegen ihres blinden Glaubens in die eigene Propaganda versagt, und die anderen wegen Zugrundelegung von US-Modellen der Landkriegsführung, die auf die russische Armee nicht zutreffen.
von Rainer Rupp
Seit dem ersten Tag der russischen Sonderoperation zur Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine haben sich vor allem westliche Militärexperten darum bemüht, die Taktik und die weitere Strategie zu analysieren, die dem Vorgehen der Streitkräfte der Russischen Föderation (RF-S) zugrunde liegt. Dabei konnte man auf westlicher Seite zwei unterschiedliche Vorgehensweisen erkennen: Die eine bemühte sich zwecks Erkenntnisgewinns für eventuelle zukünftige Konflikte militärwissenschaftlich vorzugehen, und die andere beschränkte sich auf plumpe anti-russische Propaganda.
Aber auch die Einschätzungen der ernst zu nehmenden westlichen Analysten erwiesen sich letztlich als falsch. Erstens aufgrund der dynamischen Entwicklung des Kampfgeschehens aber vor allem auch aufgrund der Tatsache, dass die russische Armee nicht den NATO-Modellen der Kriegsführung folgt. So hat zum Beispiel die Artillerie in der Kriegsführung der russischen Bodentruppen traditionell die Königsfunktion, während sie in der Strategie der NATO-Streitkräfte, vor allem der US-Streitkräfte, kaum eine Rolle spielt. Denn seit dem Zweiten Weltkrieg haben die USA sich statt auf Artillerie ganz auf ihre Luftüberlegenheit verlassen, wobei sie jeden Widerstand am Boden weggebombt haben, was allerdings bei unterirdischen, weil gefächerten Festungsanlagen an seine Grenzen stößt.
Im Donbass sahen sich die Russen entlang der gesamten Kontakt-Linie mit solchen unterirdischen Befestigungsanlagen konfrontiert. Diese hatte die Ukraine mit Hilfe der USA/NATO seit 2015 ausgebaut. Die Anlagen sind dreifach in die Tiefe gestaffelt. Wenn die erste Linie der Befestigungsanlagen erobert ist, dann stehen die Angreifer Hunderte von Metern oder einen Kilometer weiter vor einer zweiten und dann einer dritten Linie aus Festungswerken, denen riesige Waffen- und Munitionslager angegliedert sind.
Die Maßgabe der politischen und militärischen Führung der Ukraine war es, diese Linien bis zum letzten Mann zu verteidigen. Das wiederum kam den Russen entgegen, deren Ziel in diesem Konflikt nicht der schnelle Geländegewinn ist, sondern die Entmilitarisierung bzw. die Vernichtung der militärischen Fähigkeiten der Ukraine. Und dabei spielt die Artillerie die Schlüsselrolle.
Vor diesem Hintergrund war klar, dass die ersten Monate des Konfliktes alles andere als einen großartigen Bewegungskrieg erkennen ließen, den westliche Beobachter auf Grund ihrer Erfahrungen mit US-Kriegen in Afghanistan und Irak erwartet hatten. Es kann sein, dass dies zu der dümmlichen, anti-russische Propaganda der Mehrheit der sogenannten westlichen “Militärexperten” geführt hat, die sich zu den Behauptungen versteigen, dass die Ukraine gewinnt, dass die Russen schlecht aufgestellt sind, dass das russische Material Schrott ist, dass die Logistik versagt und die russische Militärführung inkompetent ist.
All dies Behauptungen sind seither durch die tatsächliche Entwicklung auf dem Schlachtfeld, das sich über eine fast 1.000 Kilometer lange Front hinweg erstreckt, gründlich widerlegt worden. Die enorm hohen täglichen Verlustzahlen der Ukraine von aktuell 300–500 Toten und nochmals 500 Schwerverwundeten und die Tatsache, dass immer mehr ukrainische Fronteinheiten sich weigern, weiterhin sinnlos als Kanonenfutter verheizt zu werden was, sind inzwischen von niemandem mehr geleugnete Fakten.
Die Gründe dafür, dass die westlichen Militärexperten mit ihren Einschätzungen so total danebenlagen, sind unter anderem darin zu finden, dass ihre Analysen von dem festen Glauben an die eigene US/NATO-Propaganda getrübt wurden. Seit Jahrzehnten gehört die Vorstellung einer fundamentalen, militärischen Überlegenheit des Westens zum alltäglichen Selbstbetrug. Ein weiterer Grund ist natürlich, dass die meisten sogenannten “Russlandexperten”, die in den letzten 4 Monaten die Kommentarspalten der Zeitungen und TV-Talkshows bevölkert haben, in der Regel keine Ahnung vom russischen Militär haben. Sie plappern nur die scharfmacherischen Worthülsen nach, die fleißige Mitarbeiter aus NATO-Kreisen oder privaten Kriegstreiber-Think-Tanks für sie ausgearbeitet haben.
Ohne auf russische Quellen Rückgriff zu nehmen, kann sich der interessierte deutsche Leser selbst ein Bild von der großen Kluft machen zwischen den NATO-Propagandashows einerseits, die in unseren Medien in einem groß angelegten Etikettenschwindel als “objektive Informationen” daher kommen, und – andererseits – der Analyse eines echten Kenners der Materie mit Jahre langen, persönlichen Erfahrungen mit der NATO, dem russischen Militär sowie im Donbass als Schweizer OSZE-Beobachter: Es ist der ehemalige Schweizer Geheimdienstoffizier Oberst Jacques Baud, dessen Analysen nicht von den typischen pro-NATO-Vorurteilen verzerrt sind und die in vielen Interviews publiziert, aber von unseren selbst-erklärten Qualitätsmedien sorgfältig vermieden wurden, weil dies das geltende Narrativ stören würde. Siehe z.B. auf YouTube: “Der Westen will keinen Frieden – Jacques Baud” oder hier auf den Nachdenkseiten.
Im anti-russischen Kriegsrausch, der in den ersten Tagen und Wochen den Westen, vor allem aber das ergrünte Deutschland ergriffen hatte, wurden dem ukrainischen Militär in euphorischen Berichten – angeblich von der Front – geradezu überirdische Fähigkeiten angedichtet. Das US-“Qualitäts”magazin FORBES machte seinen Lesern sogar weis, dass die “ukrainische Armee jetzt mehr Panzer hat als zu Beginn des Krieges”.
Ja, sie habe sogar so viele russische Panzer erbeutet, hieß es, dass die Armee gar nicht genug Panzerfahrer finden konnte.
Aber bereits zweieinhalb Monate später war das angeblich so siegreiche Helden-Team Selenskij per Videozuschaltung überall in NATOstan bei Politikertreffen auf Betteltour nach schweren Waffen unterwegs. Offensichtlich waren die riesigen eigenen Bestände an schweren Waffen samt der angeblich so umfangreichen Zahl an Beutepanzern von der russischen Artillerie bereits geschreddert worden. Was war geschehen? Wie kam es zu diesem dramatischen Umschwung vom unmittelbar bevorstehenden Sieg zur nun drohenden Niederlage? Hatte die russische Armee urplötzlich ihre Strategie dramatisch geändert? Oder war der “bevorstehende Sieg der Ukraine” zu Beginn des Krieges nur der fruchtbaren Fantasie der Propagandisten in Kiew entsprungen?
Wenn Sie, liebe Leser, glauben, beim Team Selenskij so etwas wie einen Realitätsverlust entdeckt zu haben, dann liegen sie sicherlich nicht falsch. Allerdings ist es noch teilweise entschuldbar, wenn man in Kiew in der Euphorie der ersten Kriegswochen und der massiven Propaganda Unterstützung und Hilfszusagen der NATO-Länder geglaubt hatte, man könnte den Krieg gewinnen. Wenn heute aber dieselben Leute in Kiew – und nicht nur in Kiew – immer noch glauben die Ukraine könnte den Krieg gewinnen und die Krim und den Donbass zurückerobern, dann ist das ein hochgefährlicher Realitätsverlust, der unweigerlich zum militärisch und politisch sinnlosen Tod von tausenden weiteren ukrainische Soldaten führen wird.
Nach der Überwindung der ersten Verteidigungslinie haben die Streitkräfte der Russischen Föderation (RF-S) ihre Taktik auf mobile Angriffsgruppen und komplexe Feuereinsätze umgestellt und den Fokus auf die Minimierung von Verlusten gerichtet, während der Schaden für den Feind aufrechterhalten wird.
Jetzt sieht die Vorgehensweise so aus: Ukrainische Stellungen werden von Drohnen und Aufklärungsgruppen identifiziert und lokalisiert, dann werden die Koordinaten an Artillerie und Flugzeuge weitergegeben, die dann die identifizierten Objekte unter Beschuss nehmen. Nach kritischer Beschädigung der Stellungen der Streitkräfte der Ukraine werden dann Angriffsgruppen, die aus mehreren Panzern, anderen gepanzerten Fahrzeugen und Infanteriezügen bestehen, in Richtung von Schlüsselobjekten vorgeschoben. Die Punktunterstützung erfolgt durch Artilleriekräfte und Mörser. Falls die Ukraine versucht, einen Gegenangriff durchzuführen, oder die Offensive der russischen Truppen zu verlangsamen, werden die Stellungen oder Aufmarschgebiete der Ukraine wieder durch Artillerie und russische Infanterie “poliert”. Mit diesen Taktiken haben die Russen systematisch die Streitkräfte der Ukraine aus Städten, Dörfern und befestigten Gebieten verdrängt.
Das ist ein langsamer Prozess, denn das russische Ziel ist es, die Ressourcen des Feindes zu erschöpfen. Aber auf russischer Seite ist man zuversichtlich, dass nach der endgültigen, aber unabwendbare Dezimierung des kampfbereiten Rückgrats der Streitkräfte der Ukraine im Donbass sowie des Verlustes des Großteils an schweren Waffen und Reparaturmöglichkeiten, sowie fehlender Treibstoff- und Schmiermittelressourcen, die Dinge schneller gehen werden. Allerdings hat Präsident Putin selbst wiederholt betont, dass es keinen Zeitplan für die Entmilitarisierung der Ukraine gebe.
Wie mir der russische Oberst Chodarenok in einer Nachricht vom 13. Juni mitteilte, sind auch die Aktionen der ukrainischen Sabotage- und Aufklärungsgruppen fast vollständig neutralisiert; “vor allem aufgrund der Anti-Hinterhalt-Aktionen unserer Spezialeinheiten”.
Die russische Langstreckenfliegerei und die Marine greifen weiterhin regelmäßig mit Langstrecken-Marschflugkörpern auf feindliche militärische Ziele tief im ukrainischen Hinterland ein. Die in Kiew und von westlicher Seite gehegten Hoffnungen, dass den russischen Streitkräften die Raketen ausgehen würden, haben sich als illusorisch erwiesen. Die russische Militärindustrie leidet nicht unter Materialmangel.
Was die Luftwaffe betrifft, so erklärte Oberst Chodarenok, dass Russland über der Ukraine jetzt die operative Luftüberlegenheit erreicht habe. Das schließe die Möglichkeit für wirksame Aktionen des Rests der ukrainischen Luftwaffe über den von der Russischen Föderation kontrollierten Gebieten aus und ermögliche es russischen Piloten zudem, effektiv zu arbeiten. Gleichzeitig blieben aber Taschen der ukrainischen Luftverteidigung bestehen, “was eine hohe Gefahr für unsere Flugzeuge darstellt”, so Oberst Chodarenok, der daran erinnert, dass das Luftverteidigungssystem der Ukraine nach sowjetischen Prinzipien geschaffen wurde, “mit tiefer Trennung, umfangreichem Einsatz von Manövern und Tarnung und dem Einsatz von Flugabwehr-Hinterhalts-Taktiken.” Zum ersten Mal in der Geschichte könne man jetzt in der Ukraine die Wirkung dieses “mächtigen und vielfältigen Luftverteidigungssystems” verfolgen, das sich offensichtlich auch gegen die russische Luftwaffe bewähre. Dies ist inzwischen offensichtlich auch etlichen amerikanischen Luftverteidigungsexperte aufgefallen, die in einem aktuellen Artikel auf die für die USA besonders lehrreiche Situation in der Ukraine hinweisen.
In Bezug auf die westliche Waffenhilfen für die Ukraine meint Oberst Chodarenok, dass sie sich als greifbare Hilfe für die ukrainischen Truppen erwiesen hätten, aber bei weitem nicht ausreichen würden, um einen Unterschied im Kriegsverlauf zu machen, der – wie bereits eingangs erwähnt – von rasch zunehmenden Auflösungserscheinungen der ukrainischen Streitkräfte im Donbass gezeichnet ist. Dort harren aktuell Tausende von ukrainischen Soldaten eingeschlossen in großen und in kleinen Kesseln der Dinge, die da kommen. Sie sind abgeschnitten von Nachschub an Waffen, Munition, Medikamenten, Lebensmittel und sogar von Wasser. Ihnen bleibt nur noch die Alternative zwischen Kapitulation und Überleben in Gefangenschaft, oder Tod im Kampf bis zum letzten Mann – was die Führung in Kiew bevorzugt.