«Wir sind bereit zu verhandeln» – Putin im Interview mit Tucker Carlson über mögliches Kriegsende

Von Tilo Gräser

Der russische Präsident Wladimir Putin hat im Interview mit dem US-Journalisten an die ukrainisch-russischen Verhandlungen im Frühjahr 2022 in Istanbul erinnert. Damals sei eine Friedenslösung möglich gewesen, bestätigt er.

Erwartungsgemäss hat das Interview, das der US-Journalist Tucker Carlson mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin führte und in der Nacht zum Freitag veröffentlichte, für Aufsehen gesorgt. Die meisten ablehnenden Reaktionen aus Medien und Politik im Westen sind nicht überraschend. Auf der Strecke bleibt dabei wieder einmal der Inhalt, das, was Putin aus russischer Sicht auf den Konflikt mit dem Westen und den Krieg in der Ukraine tatsächlich sagt.

Er äusserte sich im Interview auch zu den ukrainisch-russischen Verhandlungen im Frühjahr 2022 in Istanbul. Diese gelten bis heute als mögliche Chance für eine schnelles Ende der Kampfhandlungen nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022. Zugleich handelt es sich um eine vertane Chance, wofür vor allem das westliche Interesse an einem Krieg gegen Russland verantwortlich ist.

Russlands Präsident hatte am 21. September 2022 erstmals öffentlich davon gesprochen, als er eine Teilmobilmachung ankündigte. Er sagte damals:

«Auch nach dem Beginn der Militäroperation, auch während der Verhandlungen in Istanbul, haben die Vertreter Kiews sehr positiv auf unsere Vorschläge reagiert, und diese Vorschläge betrafen in erster Linie die Sicherheit Russlands, unsere Interessen. Es ist jedoch offensichtlich, dass dem Westen eine friedliche Lösung nicht passte, so dass Kiew, nachdem bestimmte Kompromisse erzielt worden waren, den direkten Befehl erhielt, alle Vereinbarungen zu zerreissen.»

Seitdem gab es zahlreiche Beiträge zu dem Thema und vor allem zu der Frage, warum die damals anscheinend aussichtsreichen Verhandlungen, die vor allem auf Kiewer Initiative zustande kamen, scheiterten. Der ehemalige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg schrieb am 14. November 2023 dazu:

«Bereits einen Monat nach Beginn der russischen Militärintervention in der Ukraine, waren die ukrainischen und russischen Unterhändler einem Waffenstillstand und einer umfassenden Friedenslösung des Konfliktes sehr nahegekommen.»

Ukrainische Bestätigungen

Eine ausführliche Rekonstruktion der Ereignisse stammt unter anderem von Ex-Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat und Politikwissenschaftler Hajo Funke aus dem Oktober 2023, zuerst veröffentlicht im Schweizer Magazin Zeitgeschehen im Fokus.

Am 5. Dezember 2023 erklärte der ukrainische Diplomat Oleksandr Chalyi, der in Istanbul dabei war, bei einer Veranstaltung des Geneva Centre for Security Policy:

«Wir verhandelten mit der russischen Delegation praktisch zwei Monate lang, im März und April, über ein mögliches Abkommen zur friedlichen Beilegung des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland. Und wir haben, wie Sie sich erinnern, das so genannte Istanbuler Kommuniqué abgeschlossen. Und wir waren Mitte oder Ende April kurz davor, unseren Krieg mit einer friedlichen Lösung zu beenden.»

Zu beachten ist, was Chalyi ausserdem sagte:

«Putin wollte also wirklich eine friedliche Lösung mit der Ukraine erreichen. Das darf man nicht vergessen.»

Chalyis Aussagen werden von Oleksyi Arestowytsch, ehemaliger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, bestätigt, der ebenfalls an den Verhandlungen in Istanbul beteiligt war. In einem am 15. Januar 2024 veröffentlichten Interview mit dem US-Magazin Unherd sagte er zum Verhandlungsergebnis: «(…) es war das beste Abkommen, das wir hätten abschliessen können.»

Auf die Frage, ob die Verhandlungen erfolgreich waren, antwortete er: «Ja, vollständig. Wir haben die Champagnerflasche geöffnet. Wir hatten über Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Fragen der russischen Sprache, der russischen Kirche und vieles mehr gesprochen.»

Kiew brach Verhandlungen ab

Selenskyj sei sogar bereit gewesen, mit Putin über den Umfang der ukrainischen Armee zu sprechen. «Die Vereinbarungen von Istanbul waren ein Absichtsprotokoll und bereiteten zu 90 Prozent ein direktes Treffen mit Putin vor», so Arestowytsch. Das sollte der nächste Schritt der Verhandlungen sein, wie er erklärte.

Arestowytsch berichtete, als die Delegation aus Istanbul nach Kiew zurückkam, habe es inzwischen die Berichte über das angebliche Massaker in Butscha bei Kiew gegeben, das Russland angelastet wird. Der Präsident habe erklärt, die Verhandlungen würden abgebrochen. Arestowytsch erklärte auf die Frage nach der Ursache, er wisse nicht, ob der Besuch des britischen Premiers Boris Johnson am 9. April 2022 oder Butscha dafür ausschlaggebend waren.

Niemand wisse, worüber Selenskyj und Johnson konkret miteinander gesprochen haben. Sicher sei nur, Anfang April sei «etwas passiert», was zum Abbruch der Verhandlungen führte. Auf die Frage, wann die Verhandlungen wieder aufgenommen würden, habe Selenskyj gesagt: «Irgendwo, irgendwann, aber nicht jetzt.» Auf die Frage, ob die russische Seite aufrichtig gewesen sei, antwortete Arestowytsch: «Die Russen zeigten sich bereit, die Verhandlungen fortzusetzen, und wir lehnten ab.»

Moskauer Bereitschaft

Im Interview mit Carlson sagte Putin nun dazu, im Hintergrund der Verhandlungen hätten die Vertreter europäischer Staaten von Moskau verlangt, «Bedingungen für eine endgültige Unterzeichnung der Dokumente» zu schaffen. Kiew würde einen Vertrag nicht «mit der Pistole an der Schläfe» unterzeichnen. Russland habe daraufhin seine Truppen aus der Umgebung von Kiew abgezogen, so Putin gegenüber Carlson. Die Folge beschreibt er so:

«Sobald wir unsere Truppen aus Kiew abgezogen hatten, warfen unsere ukrainischen Unterhändler sofort alle in Istanbul getroffenen Vereinbarungen in den Papierkorb und bereiteten sich mit Hilfe der Vereinigten Staaten und ihrer Satelliten in Europa auf eine lange bewaffnete Konfrontation vor. So hat sich die Situation entwickelt. Und so sieht sie auch jetzt aus.»

Dabei hätten die Verhandlungen in Istanbul «ein sehr hohes Stadium der Einigung auf die Positionen eines komplexen Prozesses» erreicht und seien «fast abgeschlossen» gewesen. Doch nach dem russischen Truppenabzug aus der Region Kiew habe «die andere Seite, die Ukraine, all diese Vereinbarungen über Bord geworfen und die Anweisungen der westlichen Länder – der europäischen Länder und der Vereinigten Staaten – akzeptiert, Russland bis zum Ende zu bekämpfen», wiederholte Putin im Laufe des Interviews.

«Mehr noch: Der ukrainische Präsident hat ein Verbot von Verhandlungen mit Russland erlassen. Er hat ein Dekret unterzeichnet, das jedem verbietet, mit Russland zu verhandeln. Aber wie sollen wir verhandeln, wenn er es sich selbst verboten hat und allen verboten hat?»

Er kommt im weiteren Verlauf des Interviews noch einmal darauf zurück, als Carlson ihn fragt, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jetzt «die Freiheit hat, mit Ihrer Regierung zu sprechen und und zu versuchen, seinem Land in irgendeiner Weise zu helfen?» Der Kiewer Präsident habe von den Vereinbarungen von Istanbul gewusst, so Putin.

Mögliches Ende der Feindseligkeiten

Putin verweist darauf, dass der damalige ukrainische Verhandlungsleiter Dawyd Arachamyja damals die Vereinbarungen mit seiner Unterschrift paraphiert hatte, ein Vorgang, um einen Verhandlungsstand festzuhalten und spätere Änderungen zu verhindern. In Istanbul sei «ein grosses Dokument» erstellt worden, dass den Krieg hätte beenden können.

Arachamyia hatte in einem TV-Interview im November 2023 nicht nur die Verhandlungen erneut bestätigt, auch wenn er die behandelten Vorschläge anders darstellt als er sie am 29. März 2022 selbst beschrieb. Auch darauf weist Putin hin, ebenso wie auf Arachamyjas Aussage:

«Als wir aus Istanbul zurückkamen, kam Boris Johnson nach Kiew und sagte, dass wir überhaupt nichts unterschreiben und einfach kämpfen sollten.»

Die Tatsache, dass sich Kiew der Forderung des ehemaligen britischen Premierministers Johnson beugte, bezeichnet Putin als «lächerlich und sehr traurig». Arachamyja habe bestätigt, «wir hätten diese Feindseligkeiten, diesen Krieg schon vor anderthalb Jahren beenden können, aber wir wurden von den Briten überredet und haben uns geweigert, dies zu tun».

Der russische Präsident erklärt dem US-Journalisten, entscheidend sei, ob die ukrainische Führung an den Verhandlungstisch zurückkehren wolle. Selenskyj müsse dazu nur das Dekret über das Verbot von Verhandlungen mit Russland vom Oktober 2022 aufheben – «das ist alles». Russland habe sich nie geweigert, zu verhandeln, betont er.

Anhaltende Verhandlungsbereitschaft

Gefragt nach den westlichen Motiven, einen Verhandlungsfrieden zu verhindern, sagt Putin:

«Ich weiss es nicht, ich verstehe es selbst nicht. Es gab eine allgemeine Haltung. Aus irgendeinem Grund hatte jeder die Illusion, dass Russland auf dem Schlachtfeld besiegt werden könnte – aus Arroganz, aus reinem Herzen, aber nicht aus einem grossen Geist.»

Gegen Ende des Interviews wiederholt der russische Präsident, dass die russische Führung Verhandlungen nicht verweigert, anders als die westliche Seite und die Ukraine als «Satellit der Vereinigten Staaten». Und er fügt gegenüber Carlson hinzu:

«Sagen Sie der heutigen ukrainischen Führung: Hören Sie zu, setzen wir uns zusammen, verhandeln wir, heben Sie Ihr dummes Dekret auf, setzen Sie sich zusammen und verhandeln Sie. Wir haben uns nicht geweigert.»

Die Verhandlungen abgebrochen zu haben, sei ein Fehler Kiews gewesen, den man korrigieren müsse: «Ja. Bringen Sie es in Ordnung. Wir sind so weit. Was noch?» Moskau sei bereit für den notwendigen Dialog, betont Putin. Das Problem des Westens und Kiews sei, «dass niemand mit uns verhandeln will, oder, um genauer zu sein, sie wollen, aber sie wissen nicht wie. Ich weiss, dass sie es wollen – nicht nur ich sehe es, sondern ich weiss, dass sie es wollen, aber sie wissen nicht, wie sie es machen sollen.»

Quelle:

Kreml: Interview Tucker Carlsson mit Wladimir Putin (russische Fassung) – 9. Februar 2024

RT DE: Tucker Carlson interviewt Wladimir Putin (deutsche Synchronisation) – 9. Februar 2024

Transition News: Wer den Frieden für die Ukraine nicht wollte und nicht will – 6. November 2023

Zuerst erschienen in Transition News 10. Februar 2024