Von Oskar Lafontaine.
Ist Deutschland auf dem Weg zurück zum unseligen Geist der Bücherverbrennung? Wer die enthemmten Debatten in der Bundesrepublik verfolgt, kann zu diesem Schluss kommen. Wir sollten der Geschäftsordnung des Bundestags Voltaires berühmtes Zitat voranstellen.
Dass Demokratie und Freiheit in Deutschland immer gefährdet sind, zeigte die Corona-Zeit. Obwohl die Propaganda der Impfstoffhersteller – die Impfung schütze vor Ansteckung, ein Geimpfter könne andere nicht anstecken und die Impfung sei weitgehend frei von gefährlichen Nebenwirkungen – nach wenigen Monaten widerlegt war, wurden Ungeimpfte beschimpft und ausgegrenzt. Auf dem Höhepunkt der Corona-Hysterie war das Debattenklima so aufgeheizt, dass ein Antrag, alle Ungeimpften auf eine einsame Insel zu verbannen, im Deutschen Bundestag durchaus eine Mehrheit hätte finden können. Politiker, Journalisten und ein Teil der Bevölkerung schienen regelrecht versessen darauf zu sein, diejenigen auszugrenzen, die ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung wahrgenommen und sich gegen die Impfung entschieden hatten. In Familien gab es Streit, Freundschaften gingen zu Bruch, und Kinder von Geimpften durften nicht mit Kindern von Ungeimpften spielen.
Andersdenkende herabsetzen
Als 50 Schauspieler und Regisseure Ende April 2021 mit ironischen Videos die völlig überzogenen Corona-Maßnahmen der Regierung und die Medienberichterstattung kritisierten, ergoss sich ein Shitstorm über sie und ihnen wurde vorgeworfen, die Corona-Toten zu verhöhnen. Der SPD-Politiker Garrelt Duin, Mitglied im WDR-Rundfunkrat, forderte, die Zusammenarbeit mit diesen Künstlern schnellstmöglich zu beenden – aus angeblicher Solidarität mit denen, die „wirklich unter Corona und den Folgen zu leiden“ hätten. Der Mitinitiator der Aktion, Dietrich Brüggemann, berichtete, einige der Schauspieler seien so unter Druck gesetzt und bedroht worden, dass sie ihre Beiträge zurückgezogen hätten. Erfreulicherweise stellten sich Virologen wie Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck vor die Künstler, und auch einige prominente Politiker nahmen sie in Schutz.
Aber der Geist der Gehässigkeit, der Wunsch, andere an den Pranger zu stellen und zu bestrafen, war aus der Flasche. Der Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome schrieb: „Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Sein Wunsch wurde erfüllt. Auf die Ungeimpften wurde mit dem Finger gezeigt, und die gesellschaftlichen Nachteile bedeuteten mit „2 G“ den Ausschluss aus dem öffentlichen Leben und gingen teilweise bis zur Vernichtung der beruflichen Existenz.
Die Lust, Andersdenkende zu denunzieren und herabzusetzen, überlebte die Corona-Zeit und schlug nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine zu. Jetzt waren es nicht die Ungeimpften, sondern diejenigen, die für Waffenstillstand und Verhandlungen mit Russland plädierten, die „Putin-Versteher“. Plötzlich gerieten Veranstalter unter Druck, die die langjährige ARD-Korrespondentin in Moskau und exzellente Russlandkennerin Gabriele Krone-Schmalz weiterhin einluden. Anfang Dezember dieses Jahres meldete die Bild-Zeitung: „Justus Frantz beim Schleswig-Holstein Musik Festival rausgeworfen“. Eine Vielzahl von Gründen habe eine Einladung von Justus Frantz unmöglich gemacht, sagte der Intendant des Festivals, Christian Kuhnt, „sein Engagement in Russland ist einer davon“.
Das besonders Bemerkenswerte an dem Vorgang: Der Ausgeladene hatte das Schleswig-Holstein Musik Festival gegründet und es zu einem Festival von Weltbedeutung gemacht. Da er an die völkerverbindende Kraft der Musik glaubt, hat er 1989 die Deutsch-Sowjetische Junge Philharmonie mitgegründet und 1995 die Philharmonie der Nationen unter dem Motto „Make music as friends“ ins Leben gerufen, ein Orchester, in dem Syrer und Israeli, Serben und Slowenen für den Weltfrieden musizierten, wie der Spiegel in einem gehässigen Artikel über den Rauswurf des Maestros berichtete. Und um den „Putin-Versteher“ zu entlarven, stellten die Inquisitoren des Nachrichtenmagazins ihm zwei Fragen: „Weil die Russen nun mal einen Angriffskrieg führen, Herr Frantz, halten Sie die russische Regierung für verbrecherisch? Was, wenn Sie ein Solidaritätskonzert für die Anwaltskosten von Alexei Nawalny machen würden?“ Sie könnten ja auch die vielen Künstler, die in den USA auftreten, fragen: „Weil die USA nun mal viele Angriffskriege führen, halten Sie die US-Regierung für verbrecherisch? Was, wenn Sie ein Solidaritätskonzert für die Anwaltskosten von Julian Assange, unserem Kollegen, der Kriegsverbrechen der USA aufgedeckt hat, machen würden?“ Aber auf solche Fragen kommen Spiegel-Reporter heute nicht mehr, hat sich doch das Magazin ganz in den Dienst der US-Kriegspropaganda gestellt. Dass der Spiegel-Gründer Rudolf Augstein einst die Ostpolitik Willy Brandts unterstützte, scheint den Spiegel-Leuten nicht mehr bekannt zu sein. Gerade heute wäre es notwendig, nicht Künstler auszuladen, sondern auf die völkerverbindende Kraft der Kunst zu setzen, vor allem auf die der Musik.
Grundlage des Friedens
Ein leuchtendes Beispiel gab in den letzten Jahren der langjährige künstlerische Leiter und Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, Daniel Barenboim. Er gründete vor Jahren mit dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said das Orchester des west-östlichen Divans, dass sich für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts einsetzt. Das Orchester setzt sich jeweils zur Hälfte aus jungen Musikern aus Israel sowie den Palästinensischen Autonomiegebieten, aus dem Libanon, Ägypten, Syrien, Jordanien und Spanien zusammen. Daniel Barenboim hat als Einziger gleichzeitig die israelische und die palästinensische Staatsbürgerschaft. Als ihm am 10. Mai 2004 in der Knesset, dem israelischen Parlament, der Wolf-Preis für freundschaftliche Beziehungen unter den Völkern verliehen wurde, zitierte er die israelische Unabhängigkeitserklärung, in der der Staat Israel allen seinen Bürgern soziale und politische Gleichberechtigung verspricht. Dann sagte er: „In tiefer Sorge frage ich heute, ob die Besetzung und Kontrolle eines anderen Volkes mit Israels Unabhängigkeitserklärung in Einklang gebracht werden kann.“
Die Massaker der Hamas und der darauffolgende Rachefeldzug der israelischen Armee im Gazastreifen geben der Neigung vieler Politiker, Journalisten und Zeitgenossen, andere auszugrenzen und zu diffamieren, neue Nahrung. Jetzt kämpfen sie gegen jede Kritik an der Regierung Netanjahu und an den Bombardements im Gazastreifen, und dieser Kampf macht auch vor der Kunst nicht halt. In Saarbrücken beispielsweise wurde die aus Südafrika stammende jüdische Künstlerin Candice Breitz von der Museumschefin wieder ausgeladen, weil sie sich angeblich nicht genügend von dem Massaker der Hamas distanziert habe. Das stimmte zwar nicht, aber die renommierte Künstlerin hatte auch die israelische Regierung kritisiert, und darin sehen viele in Deutschland bereits Antisemitismus. Die der Cancel-Culture anhängende Berliner Politblase ist aber unfähig, Antisemitismus und Faschismus zu bekämpfen. Ohne irgendwelche Skrupel unterstützt sie in der Ukraine ein Regime, das den tausendfachen Judenmörder Stepan Bandera zum Nationalhelden erhebt, nach dem Straßen und Plätze benannt werden. Kein Wort der Kritik hört man von der Bundesregierung, wenn der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant die Palästinenser menschliche Tiere nennt. Und keinen Protest erhebt sie, wenn der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an den ukrainischen Schriftsteller Serhij Schadan geht, der die Russen als Tiere und Unrat bezeichnet.
Im Artikel 1 des Grundgesetzes bekennt sich das deutsche Volk zur Menschenwürde und zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Dieser Verpflichtung des Grundgesetzes wird die Bundesregierung spätestens dann nicht mehr gerecht, wenn sie im Ukraine-Krieg und im Nahostkonflikt einen Waffenstillstand ablehnt. Und damit statt der sich ausbreitenden Cancel-Culture eine freie Debatte wieder möglich und selbstverständlich wird, sollte der Geschäftsordnung des Bundestages das berühmte Wort Voltaires vorangestellt werden: „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“
Zuerst erschienen auf den NachDenkSeiten am 18. Dezember 2023