»Nein, so war die DDR nicht!«

Ein Gespräch mit Egon Krenz

Über den zweiten Teil seiner Autobiographie, den Nahostkonflikt, das deutsch-russische Verhältnis und die Bedrohung des Weltfriedens. Interview: Frank Schumann

Wie von Ihnen in Band I Ihrer Erinnerungen angekündigt, ist nach Jahresfrist nun der zweite Band erschienen, fast doppelt so dick wie der erste.

Es waren Schicksalsjahre der DDR. Sie zählen zu den wichtigsten in meinem Leben. Da war mir Gründlichkeit wichtiger als Schnelligkeit.

Lag’s nicht auch an der behandelten Zeitspanne? Ihre Lebenserinnerungen reichen von 1973 bis 1988. In jenen fünfzehn Jahren waren Sie FDJ-Chef (in dieser Funktion auch Herausgeber dieser Zeitung, jW), Politbüromitglied und ZK-Sekretär. Großes Kino also.

Weniger Kino, mehr harte Arbeit. Rückblickend denke ich manchmal, es ging um Sein oder Nichtsein der DDR. Da stimmt das Bild von Peter Hacks mit der Macht und den Sorgen.

Sind Sie jetzt beleidigt, wenn ich nach der Lektüre sage: Das ist mehr ein Buch über Erich Honecker als über Egon Krenz?

Warum sollte ich deshalb beleidigt sein? Nein, aber Ihr Eindruck täuscht. Ich bemühe mich um ein geschichtlich korrektes Bild von Erich Honecker mit seinen Verdiensten und seinen Schwächen. Ich war viele Jahre mit ihm eng verbunden, im Westen war ich eine Zeitlang sein »Kronprinz«. Wir teilten Wissen und Beobachtungen, die kein anderer hatte. Honecker lebt nicht mehr. Und wenn ich eines Tages nicht mehr sein werde, würde dieses Wissen endgültig verschwinden …

… wenn Sie es vorher nicht aufgeschrieben hätten. Und zweitens?

Ich lege auch Wert auf die Feststellung: Dies ist meine Biographie, eine von etwa 17 Millionen DDR-Bürgern. Jeder hat die DDR anders erlebt, und jeder sollte seinen Kindern und Enkeln auch seine Erinnerungen hinterlassen. Wie verschieden die Erinnerungen des einzelnen auch sein mögen, wer ehrlich zu sich selbst und den Seinen ist, hat die DDR nicht so erlebt, wie ihre politischen Gegner sie uns oktroyieren, als ein Millionenhäuflein gegängelter Kreaturen, eingesperrt hinter einer Mauer mit einer schrottreifen Wirtschaft, umgeben von Mief und Muff und Spitzeln der Staatssicherheit. Nein, so war die DDR nicht! Anfang Februar dieses Jahres fand ich in der Märkischen Allgemeinen Zeitung einen Leserbrief. Ich lese übrigens gern Leserbriefe, weil sich dort Stimmungen und Sachverhalte wiederfinden, die nicht im redaktionellen Teil der Zeitung stehen. Wir kennen das Problem bereits aus DDR-Tagen: Die Wirklichkeit und die Widerspiegelung der Wirklichkeit in den Medien sind zwei Paar Schuhe. Über die unterschiedlichen Gründe damals und heute will ich hier nicht reden, das ist ein anderes Thema. Diese Karin Markert also, ich kenne sie nicht, beklagte in der MAZ: »Es ist erschreckend, wie wenig Geschichtskenntnis, -bewusstsein und Objektivität verantwortliche Politiker in diesem Land haben, und das nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf kommunaler Ebene.« Und ich füge hinzu: Diese Generation von Politikern, die glücklicherweise keinen Krieg mehr kennengelernt hat, spricht leider mit einer Leichtigkeit über Kriege, die mich erschreckt.

Nicht nur Politiker.

Gewiss, aber Politiker bestimmen die Narrative, die dann von anderen nachgeplappert und durchgesetzt werden. Was ich jetzt zum Beispiel wieder – im Kontext mit dem Krieg gegen die Palästinenser – vom vermeintlichen Antisemitismus in der DDR höre und lese, empört mich maßlos. Als »Beweis« für diese falsche Behauptung nimmt man die Tatsache, dass die DDR keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhielt. Fakt ist, dass wir uns immer um diese Beziehungen bemüht haben – auch in dieser Hinsicht folgten wir dem sowjetischen Beispiel. Bekanntlich gehörte die Sowjetunion zu den ersten Staaten, die Israel anerkannten. Und darin folgte die UdSSR der UN-Resolution von 1947, die die Bildung eines jüdischen und eines arabischen Staates in Palästina vorsah. Israel, nicht wir, wollte keine diplomatischen Beziehungen. Einer der Gründe: Die DDR unterhielt gute Kontakte zu arabischen Staaten, die sie nicht bereit war aufzugeben. Ägypten war das erste nichtsozialistische Land, das den westdeutschen Alleinvertretungsanspruch unterlief und die DDR völkerrechtlich anerkannte. Und nebenbei: Ulbrichts Staatsbesuch im Februar/März 1965 in Ägypten und die Ankündigung Syriens, diplomatische Beziehungen zur DDR aufzunehmen, trug schließlich dazu bei, dass die Hallstein-Doktrin begraben werden musste. Bonn wollte sich damit nicht abfinden.

Weil Bonn fürchtete, den Einfluss in dieser Region zu verlieren?

So sagte man. Und die bittere Pointe: Bonn schickte als Botschafter Rolf Pauls, ehemaliger Wehrmachtsoffizier und Ritterkreuzträger. 1942 vertrat er das Nazireich als Militärattaché in Ankara. Es gab damals heftige Proteste in Israel gegen dessen Berufung.

Sensibilität war noch nie die Stärke (west-)deutscher Außenpolitik.

Auch nicht der Innenpolitik. Wenn der Kanzler postuliert: »Wer Juden in Deutschland angreift, greift uns alle an«, stimme ich mit ihm überein. Wenn das aber dazu führt, dass jede Kritik an Israels Kriegführung in Gaza und jede solidarische Bekundung zu den Palästinensern als Antisemitismus denunziert und verfolgt wird, dann ist das ein politischer Skandal. Skandalös ist es auch, wenn der Krieg bejubelt wird.

Na ja, bejubelt … Sind Sie da nicht etwas zu hart?

Wie würden Sie die Schlagzeile in Bild vom 9. Juni 2023 interpretieren: »Ukraine-Offensive: Erstmals ›Leopard 2‹ auf Schlachtfeld gesichtet. Deutsche Panzer stoßen gegen russische Stellungen vor«?

Klingt martialisch wie der Völkische Beobachter. Wie die Sprache des »Dritten Reiches«.

Da schwingen Jubel, Genugtuung, ja Begeisterung mit. Hat es Konsequenzen gegeben? Nein. Verstehen Sie, weshalb solch gefährliches Getröte Menschen wie mich, die als Kinder den Krieg in Deutschland erleben mussten, gleichermaßen traurig und wütend macht? Auf diese Weise wird das Morden und Töten verharmlost, es ist wie ein Videospiel: Reset, und alles ist ungeschehen. Nein, eben nicht. Es sterben Menschen: Ukrainer, Russen, Palästinenser, Israelis … Und zwar auch mit deutschen Waffen, mit deutscher Munition. Die Gewinne der Rüstungskonzerne wachsen so schnell wie die Leichenberge: »Die Aktien der deutschen Branchenvertreter Rheinmetall und Hensoldt schossen wegen des Krieges im Vergleich zum Jahresanfang um zeitweise 168 und 129 Prozent in die Höhe«, hieß es in der FAZ bereits am 31. Mai 2022. Und am 19. November 2023 meldete die »Tagesschau«: »Der Wert der Rheinmetall-Papiere hat sich seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar des vergangenen Jahres von rund 90 Euro auf zuletzt etwa 270 Euro fast verdreifacht.«

Das wusste schon Carl von Ossietzky, der Pazifist und Friedensnobelpreisträger, den die Nazis auf dem Gewissen haben. »Der Krieg ist ein besseres Geschäft als der Friede«, schrieb er vor gut hundert Jahren.

Die Selbstverständlichkeit, mit der über diese Verbrechen heute gesprochen und geschrieben wird, empört mich maßlos. Menschenrechte zählen so wenig wie Menschenleben, Umweltschäden werden verschwiegen. In deutschen Städten werden Silvesterböller wegen Feinstaub verboten – aber wieviel Feinstaub durch detonierende Granaten und Militärfahrzeuge in die Luft geblasen wird, wie viele Wohnungen zerstört und Felder durch Panzerketten zerfurcht und wegen der Minen der Landwirtschaft entzogen werden … Darüber wird beharrlich geschwiegen. Was für eine verdammte Heuchelei. Wir haben 1989 nicht für die Friedfertigkeit der Ereignisse gesorgt, damit die Beziehungen Deutschlands zu Russland auf dem tiefsten Punkt seit dem Zweiten Weltkrieg sind. Das beunruhigt mich sehr.

In seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 zur »Zeitenwende« hat Scholz gesagt: »Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine. Aber der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen.« Eine klare, aber im zweiten Teil irrtümliche Ansage. Die dann auch noch von der Bundesaußenministerin geschärft wurde. Sie wolle Russland »ruinieren« – heute erkennen wir: Die Politik der Bundesregierung ruiniert Deutschland.

Scholz wiederholt, etwa am 13. Oktober 2023, seine nach innen wie außen gerichtete Drohung: »Sollte sich die Situation durch Russlands Krieg gegen die Ukraine verschärfen, etwa weil die Lage an der Front sich verschlechtert, weil andere Unterstützer ihre Ukraine-Hilfe zurückfahren oder weil die Bedrohung für Deutschland und Europa weiter zunimmt, werden wir darauf reagieren müssen.« Was meinte er damit? Hatte der bei ihm übliche verbale Nebel einen konkreten Kern?

Seit 1951 lege ich an jedem 8. Mai am Treptower Ehrenmal mit Gleichgesinnten Blumen nieder. Immer den Rotarmisten im Blick, der das Hakenkreuz zerschlägt und seinen schützenden Arm um ein Kind hält. 2023 habe ich zum ersten Mal unter starker Polizeikontrolle mit ansehen müssen, wie einem jungen Russen verboten wurde, ein Duplikat des roten Siegerbanners, das 1945 auf dem Reichstag gehisst wurde, auf das Gelände des Ehrenmals zu tragen. Ich erinnerte mich an ein Lied, das ich als Zehnjähriger in der DDR-Schule gelernt hatte: »Tausende Panzer zerwühlten das Land, / hinter sich Tod und Verderben. / Weiten sowjetischer Erde verbrannt, / Städte in Trümmer und Scherben. / Doch allen Hass, alle Not überwand / Siegreich die Sowjetunion. / Brüderlich reicht sie die helfende Hand / Auch unserer deutschen Nation.« Ob die Russen uns ein zweites Mal die Hand reichen, ist angesichts des Russenhasses, den führende Politiker und Medien verbreiten, nur schwer vorstellbar.

Binnen weniger Jahre wurde das in Jahrzehnten mit diplomatischem Geschick mühsam aufgebaute System friedlicher Koexistenz von geschichts- und darum auch gesichtslosen Politikern zerstört. Vertrauen, das wichtigste Element der Politik, ist vernichtet. Die Staatsräson in der DDR lautete: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen! Ich erinnere mich der frühen achtziger Jahre, als der Frieden auf des Messers Schneide stand und Rainer Rupp, Aufklärer der DDR im NATO-Hauptquartier in Brüssel, den dritten Weltkrieg verhinderte, indem er Entwarnung signalisierte. Sie waren damals in dieser Phase in politischer Verantwortung.

Es war eine lebensbedrohliche Phase. In dieser Zeit lud mich der Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in sein Hauptquartier nach Wünsdorf ein. Im Arbeitszimmer von Armeegeneral Michail Saizew hing eine Karte, die durch einen grünen Vorhang verdeckt war. Er zog ihn zurück. Ich war erschrocken. Nichts würde von Deutschland übrigbleiben, wenn es zu einem Krieg käme. »Dai bog«, sagte Saizew, gebe Gott, dass es niemals dazu kommt. Er bat mich, Honecker zu bewegen, die Raketentruppen zu besuchen.

Und, hat er das »Teufelszeug« besichtigt, das in der DDR war?

Hat er. Im Buch ist das ausführlich beschrieben.

Honecker forderte, dass alle Raketen von deutschem Boden verschwinden. Und dabei hatte er bewusst nicht unterschieden zwischen US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffen.

Dabei blieb er. Auch nach diesem Besuch. Das Politbüro hob sogar eine Verordnung aus den sechziger Jahren auf, die vorsah, in Neubaugebieten Luftschutzkeller anzulegen.

Warum?

Weil es gefährlich war, auf diese Weise die Illusion zu verbreiten, solche Einrichtungen würden bei einer atomaren Katastrophe irgendwie schützen. Die einzig wirksame Sicherheit, die einzige Überlebenschance, so unsere Überzeugung, war die Verhinderung des Krieges selbst. Deshalb beschlossen wir auch, keine kostspieligen Bunker mehr zu bauen. Zudem wurde im Politbüro festgelegt, den Militärhaushalt der Republik um mindestens zwei Milliarden Mark zu kürzen.

Nicht nur Russland haben deutsche Politiker auf ihrer Agenda, auch China. Auch dabei herrscht die gleiche kapitalistische Doppelmoral vor: Geschäfte ja, vernünftige politische Beziehungen nein. Wie waren die Beziehungen zwischen der DDR und China seinerzeit, als Moskau sagte, dass die Beziehungen zwischen Berlin und Beijing nicht besser sein dürften als die zwischen Moskau und Beijing? Und die waren seit Ende der sechziger Jahre bekanntlich nicht gut.

Hu Yaobang Generalsekretär der KP Chinas und Honecker kannten sich aus der Zeit, als beide an der Spitze ihrer Jugendorganisationen standen. Honecker schickte im Juli 1985, vier Monate nach Michail Gorbatschows Amtsantritt, den Planungschef der DDR, Gerhard Schürer, zu Wirtschaftsverhandlungen in die VR China. Hu hatte ein mehrstündiges Gespräch mit ihm, Schürer kehrte mit einer umfangreichen Botschaft nach Berlin zurück. Honecker befand sich im Jahresurlaub, ich vertrat ihn. So landete das Papier bei mir. Es war spannender als jedes andere Dokument, das ich bisher im Politbüro gelesen hatte.

Was war die Botschaft?

Es war nach meiner Meinung der Versuch der chinesischen Führung, nach dem Machtantritt Gorbatschows die guten Dienste der DDR zu nutzen, um der UdSSR ein Gesprächsangebot für einen Neuanfang zu machen. Ich rief nach der Lektüre Honecker in seinem Urlaubsquartier an und schlug vor, ihm die 22 Seiten von einem Fahrer bringen zu lassen. »Nein, keinen Zeitverzug«, entschied er. »Übermittle das Protokoll mit meiner Visitenkarte direkt an Gorbatschow.« Ich ließ das Material ins Russische übersetzen und bat den sowjetischen Botschafter zu mir. Wjatscheslaw Kotschemassow versprach, dass es noch am selben Abend auf Gorbatschows Schreibtisch liegen werde. Nun begann die Zeit des Wartens. Täglich rief mich Honecker an. Immer die gleiche Frage: »Hat sich Gorbatschow schon gemeldet?« Nach vier Wochen überbrachte der Gesandte Popow Gorbatschows mündliche Botschaft. Sie lautete im Kern: »Wir möchten den deutschen Freunden sagen, dass es Gründe gibt, an der Aufrichtigkeit Chinas zu zweifeln.« Ich schickte meinen Sicherheitsoffizier mit der Botschaft in Honeckers Urlaubsort. Als er sie gelesen hatte, rief er mich sofort an. Bis 1989 habe ich Honecker nie wieder so enttäuscht erlebt wie nach dieser außenpolitischen Ohrfeige Gorbatschows im Sommer 1985. Dann kam aus Honeckers Mund ein Urteil, das mir wehtat, weil es gegen die Sowjetunion gerichtet war: »Der denkt genau wie seine Vorgänger, wir seien seine Marionetten.« Es war eine Illusion zu glauben, die DDR könne zwischen Moskau und Beijing vermitteln. Hier ging es um Großmachtinteressen, die Gorbatschow zwar in eine neue Melodie brachte, deren Inhalt sich aber in keiner Weise von Lektionen Chruschtschows, Breschnews oder Tschernenkos unterschied.

Und trotzdem: Mein Verhältnis zu den russischen Menschen blieb davon unberührt. Bis heute. Egal, wer im Kreml regiert.

Egon Krenz, geboren 1937 in Kolberg (heute Kołobrzeg), war der letzte Staats- und Parteichef der DDR. In dieser Funktion sorgte er im Herbst 1989 dafür, dass es im Land friedlich blieb, als es implodierte und die Konterrevolution aktiv wurde.

Zuerst erschienen in der jungen Welt am 16.12.2023