Von Reinhard Bartz
Bei einer Recherche zum medialen Echo auf das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann fiel mir als besonders heftige Reaktion die der frisch gekürten „Tagesthemen“-Moderatorin Jessy Wellmer ins Auge, die das Buch – im Stile einer sich offenbar dem Mainstream verpflichteten Journalistin – als „Hassbibel“ abkanzelt.
Vielleicht fiel es mir auch nur deshalb ins Auge, weil ich selbst bereits in den fragwürdigen Genuss ihres ideologiegeleiteten Aburteilens „abweichender“ Meinungen kam, als sie mich im Rahmen ihrer Dokumentation „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“ interviewte.
Ähnlich wie Professor Oschmann „bekam“ auch ich – wie es ein Journalist anschließend so treffend formulierte – „mehrmals“ mein „Fett weg“, beispielsweise, weil ich – auf ihre Frage hin – die Demokratie in Deutschland als keine echte mehr im Sinne der alten Griechen kritisierte, weil sich danach der Wille der Mehrheit durchsetzen müsse, um als solche noch gelten zu dürfen.
Der Wille der Elite
Ich bezog mich in dem Zusammenhang auf eine Allensbach-Umfrage, der zufolge über 45 Prozent der Ostdeutschen angaben, nur noch in einer Scheindemokratie zu leben. Vielleicht auch deshalb, weil sich in Deutschland eben gerade nicht der Wille der Mehrheit, sondern eher der der Elite durchsetzt.
Solche Äußerungen seien für sie „schwer zu ertragen“ oder sogar „unerträglich“, war seinerzeit ihr vernichtendes Urteil, obwohl sie laut ihrer eigenen Anmoderation nur zuhören und nicht urteilen und schon gar nicht verurteilen wolle. Deshalb vermutete ich schon damals hinter ihrer vorgegebenen edlen Absicht, mit ihrer Interviewreise durch Ostdeutschland lediglich ein Verständnis dafür gewinnen zu wollen, warum im Osten ein anderes Russlandbild vorherrsche als im Westen, pure Heuchelei.
Vielmehr bezweckte sie wohl eher, dem Publikum gegenüber ihre eigene Systemtreue zu manifestieren, um sich so bei ihren Arbeitgebern zu empfehlen. Denn als regierungskritische Rebellin, was man ihr hätte vorwerfen können, so sie sich nicht ausreichend von der ostdeutschen Weltanschauung distanziert oder für sie vielleicht sogar noch Verständnis gezeigt hätte, wäre man seitens ihrer Vorgesetzten wohl kaum auf die Idee gekommen, ihr anschließend die Moderation einer solch meinungsmachenden Sendung wie die der „Tagesthemen“ anzuvertrauen.
Die Kritik insbesondere durch Ostdeutsche am Status quo des real existierenden Kapitalismus, und in jüngster Zeit auch an der aktuellen Politik der deutschen Bundesregierung, trifft nicht nur im Kreise des öffentlich-rechtlichen Journalismus auf erbitterte Intoleranz, nein, auch die Mandatsträger selbst lassen sich diesbezüglich nicht lumpen.
Was mich dabei sehr erstaunt, ist deren offenbar durch nichts zu erschütternde Unfähigkeit zur Selbstreflexion, die eher dazu beiträgt, ihre Kritiker noch mehr zu provozieren, anstatt sie zu beruhigen. Aber dies hat Tradition. Ich erinnere mich an einen Beitrag des zu der Zeit noch amtierenden Bundestagspräsidenten Herrn Schäuble in der taz, der an Heuchelei und Verhöhnung der Ostdeutschen kaum zu überbieten war.
Identitätsgefühl und Anpassung
Er bemängelte ein aus seiner Sicht zu Unrecht immer noch vorhandenes Identitätsgefühl der Ostdeutschen und wünschte sich bei ihnen mehr Selbstbewusstsein und ließ verlauten, mancher pflege geradezu seinen Opferstatus, „statt selbstbewusst darauf zu verweisen, den Menschen im Westen eine wertvolle Erfahrung vorauszuhaben: die Anpassung an massive gesellschaftliche Umwälzungen“.
Soweit mich meine Erinnerungen nicht täuschen, war es Herr Schäuble selbst, der den in seiner beabsichtigten Wirkung wohl bedachten Begriff „Unrechtsstaat“ in die politische Diskussion einbrachte, mit dem er Millionen von Ostdeutschen, die sich in und mit ihrem Staat engagiert hatten, ein Schuldgefühl implantierte und sie damit nicht nur diffamierte, sondern beabsichtigt auch ihres Stolzes und Selbstwertgefühls beraubte.
Denn damit war quasi jeder DDR-Bürger, der nicht für sich in Anspruch nehmen konnte, gegen dieses Unrecht aufbegehrt zu haben, politisch verfolgt gewesen zu sein oder gar den Ritterschlag einer Republikflucht geltend machen zu können, zumindest der Duldung eines imaginären Unrechts mitschuldig oder sogar mitverantwortlich.
Welch eine Verunglimpfung all derer, die nicht einfach abgehauen waren, sondern sich einen Rest an Verantwortungsbewusstsein zur Vermeidung eines totalen Chaos bewahrt hatten und das gesellschaftliche Leben in der DDR aufrechterhielten wie Lehrer, Ärzte, Polizisten, Soldaten und Offiziere, Handwerker, Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern, Busfahrer oder all die vielen Menschen, die die Energiewirtschaft, Landwirtschaft oder sonstige Versorgung der Bevölkerung sicherstellten. Oder derjenigen, die einfach nur gerne in der DDR gelebt haben, weil es ihre Heimat war.
Der Zweck, die DDR als Unrechtsstaat zu diffamieren, war leicht zu durchschauen: Die Annexion Ostdeutschlands durch die westdeutsche Elite – als nichts anderes mussten viele Ostdeutsche die Angliederung an den Westen wahrnehmen – sollte politisch und moralisch gerechtfertigt und die unrechtmäßige Aneignung des ostdeutschen Volksvermögens legitimiert und gleichzeitig jeglicher Widerstand gebrochen werden.
Denn dieser Widerstand war durchaus zu erwarten, da man davon ausgehen musste, dass den Ostdeutschen zumindest potenziell bewusst war, was das Überstülpen kapitalistischer Produktionsverhältnisse bedeuten würde. Dieses Wissen haben sie schließlich schon in der Schule oder während des Studiums im Rahmen solcher Lehrfächer wie Dialektischer Materialismus oder Politische Ökonomie des Kapitalismus erworben.
Und zumindest all diejenigen, die eine akademische Ausbildung genossen hatten, verfügten über profunde Kenntnisse zu den Prinzipien des Determinismus und konnten kausale Zusammenhänge kapitalistischer Produktionsverhältnisse und ihre katastrophalen sozialen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen bewerten. Also musste man – und macht man nach wie vor – den DDR-Bürgern pauschal ein diffuses Schuld- und Minderwertigkeitsgefühl suggerieren und ihre Lebensleistungen entweder völlig infrage stellen oder zumindest als minderwertig diffamieren oder sogar der Lächerlichkeit preisgeben.
Wenn man ein ganzes Staatswesen des Unrechts bezichtigen darf, unterstellt man, die überwiegende Mehrheit aller Rechtsakte hätte den Tatbestand des Unrechts erfüllt. Und wer dies als vermeintlich Betroffener akzeptierte und sich nicht dagegen wehrte, machte sich entweder der Mitschuld verdächtig oder als Dummkopf, der dies nicht durchschaute. Nicht nur juristisch und politisch, sondern auch völkerrechtlich ein zum Himmel schreiender Unsinn, denn die DDR war ein völkerrechtlich anerkannter Staat – im Übrigen auch von der BRD – und anerkanntes Mitglied der Uno.
Entschädigungslose Enteignung
Aber wie wollten Herr Schäuble & Co. anders rechtfertigen, den Ostdeutschen einfach ihr Eigentum zu stehlen. Soweit ich weiß, war er auch derjenige, der in den Verhandlungen mit der ostdeutschen Seite den Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung durchdrückte und damit viele Ostdeutsche quasi entschädigungslos enteignete. Und sehr geschickt legte Herr Schäuble in seinem Beitrag den Ostdeutschen auch eine angeblich ungerechtfertigte Verteufelung der Treuhand in den Mund, obwohl ihm sehr wohl bewusst gewesen sein muss, dass die DDR-Bürger die Praktiken dieser Institution – die bezeichnenderweise auch nicht etwa von einem Ostdeutschen geleitet wurde, denn immerhin ging es um ihr Volkseigentum – als ein Verhökern ihres Eigentums an westdeutsche Profithaie wahrnehmen mussten.
Einschlägig dokumentiert ist in diesem Zusammenhang auch das künstliche Armrechnen vieler ostdeutscher Unternehmen, die durchaus über ausreichend Wettbewerbsfähigkeit verfügt hätten, aber eine unangenehme Konkurrenz für ihre westdeutschen Wettbewerber darstellten und deshalb beseitigt werden mussten.
Und wenn Herr Schäuble dann scheinheilig den Ostdeutschen ein nicht gerechtfertigtes Opferempfinden unterstellt, ist das nicht nur eine widerwärtige Verhöhnung, sondern lenkt sehr geschickt nach dem altbewährten Prinzip „Haltet den Dieb“ von den tatsächlichen und von ihm mitzuverantwortenden Gründen dieser nicht nur empfundenen, sondern ganz real erlebten Benachteiligung vieler Ostdeutscher ab.
Der letzte DDR-Innenminister, also sein damaliger ostdeutscher Amtskollege, Dr. Peter-Michael Diestel, nennt in seinem Buch „In der DDR war ich glücklich, trotzdem kämpfe ich für die Einheit“ etliche bezeichnende Beispiele: So seien alle Medien im Osten zu hundert Prozent in Westhand. In den meisten ostdeutschen Staatskanzleien sehe es ähnlich aus wie in Magdeburg. Hier treffe man nur Niedersachsen an und in Potsdam nur Leute aus Nordrhein-Westfalen.
Systematische Diskriminierung?
80 Prozent der höheren Verwaltungsbeamten kämen aus dem Westen, alle Rektoren von Universitäten und Hochschulen desgleichen. Nicht ein einziger Ostdeutscher dürfe die Bundesrepublik als Botschafter im Ausland vertreten. Er kenne auch keinen ostdeutschen General. Eine Studie von 2016 spreche von weniger als zwei Prozent Ostdeutscher in der gesamtdeutschen Elite, und der Osten werde vom Westen verwaltet und beherrscht.
Und dass sich an dieser systematischen Diskriminierung ostdeutscher Menschen seitdem nichts geändert hat, kann man in dem Buch des Leipziger Literaturprofessors Oschmann nachlesen.
Und damit ja kein Ostdeutscher auf dumme Gedanken des Aufbegehrens oder Kritisierens des Status quo kommt – denn der Kapitalismus ist für sie immer noch eine Gesellschaftsform, die auf der menschenverachtenden Ausbeutung des Menschen durch den Menschen basiert, die einigen wenigen unvorstellbare Reichtümer beschert und die, die diese Reichtümer erwirtschaften, in relativer Armut vegetieren –, muss ihnen ständig suggeriert werden, sie sollten demütig und dankbar sein für eine Befreiung vom Joch des Sozialismus.
Und die Medien spielen unisono dieses miese Spiel der Verunglimpfung ostdeutscher Lebensleistungen mit. Wen wundert’s, sie sind halt im Besitz der Eliten. Es fällt auf, dass mit Zunahme der Kritik an der Regierungspolitik und dem real existierenden Kapitalismus mit der ihm systemimmanenten Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Gefahr für den Weltfrieden simultan eine Zunahme der Verunglimpfung und Verteufelung des DDR-Regimes einhergeht. Und das selbst noch nach über 30 Jahren einer angeblichen Wiedervereinigung.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in irgendeiner Weise das System DDR in den Medien im negativen Kontext dargestellt wird. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Offensichtlich ist die Angst vor dem Gespenst, das schon Marx und Engels zum Schreiben ihres Manifestes motivierte, doch real: Ein Gespenst, dass Millionen Ostdeutsche über eine Alternative zum Kapitalismus nachdenken lässt, weil sie von ihr entweder gehört oder sie zumindest im Ansatz schon erlebt haben.
Eine Alternative, die gerechter ist als der Kapitalismus, eine Alternative, die für alle die gleichen Chancen bietet und nicht die Kapitalverwertungsbedingungen über die Menschenrechte stellt und mit seinen Nachbarn insbesondere mit Russland in Frieden leben will. Eine Alternative, die nicht die Missionierung anderer Völker und die eigene Kriegsertüchtigung in den Mittelpunkt der Diplomatie und Politik stellt, sondern die Abrüstung und friedliche Koexistenz.
Ein Gespenst, das offensichtlich Millionen Ostdeutsche erkennen lässt, dass acht Milliarden Euro Militärhilfe für die Ukraine in Wirklichkeit ein verschleiertes Konjunkturpaket für amerikanische Rüstungskonzerne sind.
Zuerst erschienen in der Berliner Zeitung am 10.12.2023
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